Vielleicht verändern wir uns nur in der Bewegung – eine literarische Wanderung mit Anne Weber und Lorena Simmel

Ausnahmezustände. Paris mit seinen Banlieues und Ferymont, ein Fleck Erde im Schweizer Seeland, Orte an denen Gegensätze zusammenprallen, sich so lange aneinander reiben, bis die Hitze in Flammen aufzugehen droht. Wie jedes Jahr lädt das Internationale Literaturfestival Leukerbad zur Literarischen Wanderung ein, stets mit zwei Autorinnen oder Autoren. Heuer mit der vielfach preisgekrönten Anne Weber und der jungen Debütantin Lorena Simmel.

Das Wallis, auch ein Ort der Gegensätze; dort das touristische Gesicht eines Kantons, der mit schwarzen Kampfkühen, dem Matterhorn und Weinbergen wirbt, auf der anderes Seite riesige Industriekomplexe und ewige Baustellen, die sich über Jahrzehnte ins Rhonetal hineinfressen. Aber wer nicht nur in die Literatur eintauchen will, wer während dieser Büchertage auch etwas von der Landschaft, den Traditionen, der Geschichte mitnehmen will, ist am eigentlichen Eröffnungstag des Literaturfestivals mit der Literarischen Wanderung, geführt durch einen Guide des Naturparks Pfyn-Finges, bestens bedient, auch wenn sich die Sonne zurückhaltend zeigt.

Die Schriftstellerinnen Lorena Simmel und Anne Weber beschreiben in ihren Romanen verwundete Landschaften. Verwundungen, die bis in die Seelen der Menschen wirken, ob in einem fiktiven Ort im Berner Seeland, zwischen Bieler-, Murten- und Neuenburgersee oder den Banlieues rund um die Megacity Paris. Ob in den Plastiktunnels der Gemüse- und Beerenproduzenten, in denen Hundertschaften vom dortigen Leben gekappt unter menschenfeindlichen Bedingungen für einen Hungerlohn die Supermärkte der Schweiz bedienen oder in den von Touristen geschmähten Banlieues, wo die im Sommer beginnende Olympiade tiefgreifende Veränderungen in eine Subkultur der Metropole hineinbaut, die das Gefüge in diesen heissen Zonen nicht abkühlen wird, da das Geld meist bloss dorthin fliesst, wo das öffentliche Interesse mit Aufmerksamkeit hingiert.

Lorena Simmel liest aus «Ferymont», Verbrecher Verlag

In Lorena Simmels Roman «Ferymont» weiss die Wahlberlinerin sehr gut, wovon sie erzählt, denn ihr fiktiver Ort Ferymont liegt dort, wo sie aufwuchs. Die Erzählerin in ihrem Debüt freundet sich in den Monaten, in denen sie dort Geld verdienen will und bei einer Tante einquartiert ist, mit Daria an. Daria, eine moldawische Saisonarbeiterin, die mit ihrer ganzen Familie weit weg von ihrem eigentlichen Zuhause ihr Stück Sicherheit gewinnen will. Die Erzählerin, als Seeländerin aufgewachsen, wusste schon als Kind von den fleissigen Händen in den langen Plastikröhren und Feldern in ihrer Heimat. Aber erst durch die eigene Arbeit, im Wechsel von einem Aussen in ein Innen, um als junge Frau Geld für Ausbildung und Leben in Berlin zu verdienen, lernte Lorena Simmel, was es heisst, Teil der  «Erntebrigaden» in den künstlich aufgeheizten Subkulturen einer hochgerüsteten Landwirtschaft zu sein. Daria hilft der jungen Frau, manchmal gar zum eigenen Nachteil. Je tiefer die Erzählerin in die begrenzten Lebenswelten der Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Feldern sieht, desto grösser wird ihr Befremden darüber, was die Gegensätzlichkeit dieser verschiedenen Welten mit ihr macht. «Ferymont» ist ein starkes Stück engagierter Literatur, das sich mit seiner Gesellschaftskritik nicht zurückhält!

Anne Weber mit «Bannmeilen», Matthes & Seitz

Genauso «Bannmeilen» von Anne Weber! In ihrem «Roman in Streifzügen» macht sich die Erzählerin auf in jenen Teil ihrer Heimatstadt, der bisher ihrer literarischen Aufmerksamkeit entging. Mit einem befreundeten Filmemacher, der auf Recherchegängen für ein Filmprojekt, das sich mit den Auswirkungen der Sommerolympiade auf das filigrane Ungleichgewicht in den Banlieues der französischen Hauptstadt auseinandersetzt, macht sich die Erzählerin auf in eine Welt, die ihr selbst nach 40 Jahren Paris verborgen blieb. Zu zweit besuchen sie die Unorte einer Stadt, die im Bewusstsein der Allgemeinheit als Stadt der Liebe gilt. «Bannmeilen» ist ein Versuch zu verstehen, ein fast reumütiger Versuch, den Menschen dort Aufmerksamkeit zu schenken, die sie/man bisher mit Ignoranz auszublenden verstand. Ein Buch über jene Orte, die sich mehr und mehr den Zugriffen eines Rechtsstaats entziehen, in denen die Gewalt alles frisst und sich Generationen der Hoffnungslosigkeit ergeben. „Bannmeilen“ ist ein Mahnmal, ein mutiges Buch, das einem beschämt zurücklässt.

Aus 14 Nationen reisen Mitwirkende ins Oberwallis und bringen Geschichten und Gedichte in den verregneten Leukerbadner Bergsommer. An drei Tagen wird sich zum 28. Mal alles um die Literatur drehen, auf den Terrassen und Wiesen von Leukerbad, beim Dalaschluchtspaziergang, im «James-Baldwin-Zelt» und natürlich um Mitternacht auf dem Berg. Insgesamt warten zwischen 50 und 60 Veranstaltungen auf das Publikum, bei denen auch 12 aus der Schweiz auftreten werden.