Birgit Vanderbeke „Wer dann noch lachen kann“, Piper

Ich las Birgit Vanderbekes neuen Roman „Wer dann noch lachen kann“ mit angehaltenem Atem. Ein Buch, das zur Sprache bringt, worüber andere schweigen. Birgit Vanderbeke traut sich hinzuschauen, tut das, was ihr Herr Winkelmann damals im Flüchtlingslager, als sie selbst ein kleines Mädchen war, ans Herz legte. Er sagte: Immer ganz genau hinschauen, hörst du!

Birgit Vanderbekes Bühne ist die Familie. Keine Bühne mit Kulissen, sondern  wahrhaftiger Hintergrund. Sie erzählt von ihrer Kindheit, die man keinem Kind wünscht. „In dieser Sache hatte ich etwas Pech.“ Was lakonisch klingt, ist Programm des Romans. Birgit Vanderbeke malt nicht den Schmerz und die Verwundung. Sie zelebriert die Kraft, die sie daraus entwickelt. Eine Kraft, die sie zu Sprache macht.

Vater und Mutter sind da, wenn auch nicht so, wie es sich für das Idyll Kleinfamilie ziemt. Vater arbeitet sich in leitende Funktion hoch in der Chemie und Mutter versucht sich nach einem Arbeitstag als Lehrerin als Mutter und Hausfrau. Was nach Familie aussieht, birgt Höllenqualen. Schon ganz am Anfang des Romans setzt die Autorin dem Schicksal des Mädchens in ihrem Buch all die Schicksale Verfolgter, Geflohener, Heimatloser, Ertrunkener gegenüber. Solcher, die nicht „bloss“ Pech mit den Eltern, sondern Pech mit ihrer ganzen Welt, selbst mit ihrem eigenen Leben hatten und haben.

Mit der Familie geflohen aus dem Osten, vorübergehend in einem Flüchtlingslager und im Westen alles daran setzend, am Aufschwung teilzuhaben, ist das kleine Mädchen, das oft nicht will, wie man es gerne hätte, eine Last, ein Prüfstein, ein lästiger Klotz. Je länger die Kampfehe der Eltern dauert, je tiefer sich die Mutter in Abhängigkeiten von Ärzten und Medikamenten, von Beruhigungsmitteln und Diagnosen verliert, desto wichtiger wird abends die starke Hand des Vaters, die den Bengel ins Lot prügeln soll. „Das Mädchen braucht eine starke Hand.“ Und wenn das noch zu wenig ist, auch einmal eine Portion Valium aus dem Tablettensortiment der Mutter.

Das Mädchen hat nur sich selbst und die tiefe Stimme im Ohr, die sie liebevoll „Karline“ nennt. Und nachts tröstet sie der Mikrochinese, dem sie alles erzählen kann.

„Sie hören dir einfach nicht zu und denken, wenn sie dir nicht zuhören, hälst du irgendwann die Klappe, bist endlich still und isst deine grünen Bohnen.“

Die Misshandlungen an der Tochter werden zum Martyrium. Bei den Ausbrüchen des Vaters bleibt es nicht. Ebenso tief gehen die verbalen Verunglimpfungen der Mutter. Beschimpfungen und Verurteilungen, die mit Mutterliebe nichts gemein zu haben scheinen. Sie beschreiben höchstens den Grad der mütterlichen Verzweiflung. Ebenso schmerzhaft sind die nicht enden wollenden Gänge zu einer ganzen Kette von Ärzten – bis es mir als Leser beinahe den Magen umdreht.

Viel später lässt sich die mittlerweile junge Frau nach einem Verkehrsunfall überreden, einen Mikrokinesietherapeuten zu konsultieren. Er würde ihre dauernden Schmerzen im Gegensatz zur traditionellen Medizin behandeln können. Was dort geschieht, unter den Händen eines alten Mannes, dessen Wesen die Verkörperung des Mikrochinesen aus der Kindheit zu sein scheint, ist viel mehr als Schmerztherapie.

Birgit Vanderbekes Roman ist nicht einfach, weil ihre Sprache den Inhalt kontrastiert. In wenigen Sätzen steckt derart viel Katastrophe, ohne dass die Autorin diese ausmalt, dass einem beim Lesen klamm wird. Warum diesen Roman trotzdem lesen? Wer nicht bloss zur Erbauung und Unterhaltung liest, wer sich wie von Herrn Winkelmann damals im Flüchtlingslager aufgefordert fühlt, genau hinzuschauen, liest dieses Buch und staunt.

Fünf Fragen an Birgit Vanderbeke:

So wie Kinder in den Jahren des unbegrenzt scheinenden Aufschwungs oft sich selbst überlassen waren, so kontrolliert sind sie in der Gegenwart, nie mehr allein, ständig in digitaler Begleitung. Letzthin beklagte sich ein in die Jahre gekommener Pädagoge am Radio, er vermisse das Kindergeschrei draussen. So sehr aus übermässiger „Freiheit“ damals Einsamkeit werden konnte, scheinen sich Kinder und Jugendliche heute in der digitalen Vernetzung zu verfangen. Welchen Rat gäben Sie einer werdenden Familie?

Die digitale Kindheit ist eine Katastrophe.
Ich mag, was Edward Snowden dazu gesagt hat: „Ein heute geborenes Kind wird nicht mehr wissen, was Privatleben ist. Es wird nicht mehr wissen, was ein Moment Privatsphäre bedeutet, einen Gedanken zu haben, der weder aufgenommen wurde, noch analysiert. Das ist ein Problem, denn das Privatleben ist wichtig, das Privatleben hilft uns zu bestimmen, wer wir sind und wer wir sein wollen.“
Und da allerdings fangen auch die kulturellen Unterschiede an. In Frankreich, wo ich lebe und wo mein vierjähriges Enkelkind lebt, sind
 die Bedingungen für eine Kindheit vermutlich etwas anders als in der Schweiz. Ganz sicher sind sie anders als in Deutschland. Hier in Frankreich werden die Kinder zunehmend nicht mehr geboren, sondern per Kaiserschnitt in die Welt befördert und sodann immer häufiger nicht gestillt, sondern mit künstlicher Nahrung gefüttert. Dies ist ein Trend in allen westlichen Ländern, der sich in naher Zukunft eher verstärken dürfte. Die Mütter in Frankreich geben – aus historischen Gründen und seit dem Ende des 2. Weltkriegs – ihre Kleinkinder sehr früh aus den Händen, oft schon im Alter von sechs Wochen, und lassen sie auswärtig betreuen. Die Folge ist in Frankreich ein, vorsichtig gesagt, kühles Verhältnis zu Kindern. Dazu paßt, dass junge Eltern schon mal den pädagogischen Rat bekommen, ihre Kinder während der ersten sechs Monate von elektronischen Medien möglichst fernzuhalten. Ab dann offenbar nicht mehr. Ich sehe im Sommer regelmäßig mengenweise Mütter, die in der Badeanstalt mit dem Display ihrer Apparate beschäftigt sind, während ihre Kinder gerade ihre ersten Kopfsprünge oder sonst irgendwas machen, für das sie sich sonderbarerweise Aufmerksamkeit, Beachtung oder sogar ein Lob gewünscht hätten, aber sie sind es nicht gewöhnt. In keinem Bereich ihres Kinderlebens. Selbst beim Essen.
Frankreich ist, was Kinder betrifft, vom ersten Lebenstag an eine weitgehend empathiefreie Zone. Entsprechend unbekümmert bedienen sich Eltern elektronischer Technologien, um sich ihre Kinder vom Leib zu halten, wobei „vom Leib halten“ ganz wörtlich zu nehmen ist: weg vom eigenen Körper. Auf Abstand. Von ganz klein an.
Umgekehrt ist es ebenfalls nicht ganz leicht: technologische und elektronische Abstinenz kann von einem bestimmten Alter an zum Handicap für ein Kind werden. Ich denke gerade jetzt oft darüber nach, weil im Augenblick unser Sohn und seine Frau der Auffassung sind, Louis sei noch nicht bereit dafür, den „kleinen Lord“ zu sehen, während ich der Auffassung bin, dass Louis besser demnächst den „kleinen Lord“ sehen sollte, als irgendwann mal bei einem Kindergeburtstag mit einem „ersten“ richtigen Film konfrontiert zu werden, den sich seine Eltern in diesem Fall nicht selbst aussuchen konnten. Nur am Rande: genau das ist im übrigen schon geschehen. Louis war mit seiner Schulklasse sogar schon zweimal im Kino, beide Male wurden Zeichentrickfilme gezeigt, die Eltern waren nicht dabei und wissen also nicht, was Louis gesehen hat. Einem solchen Kinobesuch hätte ich zum Beispiel nicht zugestimmt, während ich nichts dabei gefunden habe, mit meinem Sohn im selben Alter im Kino zuerst „Mary Poppins“, später „Sindbad der Seefahrer“ und im Alter von fünf Jahren zu Hause eine Kassette mit „Hatari“ anzuschauen, letztere Kassette übrigens so oft, dass er den Film bis heute auswendig kann. Fernsehen wiederum gab es nicht, und zwar weder für die Erwachsenen noch fürs Kind.
Das Spektrum reicht also von der kompletten Gleichgültigkeit, infolgedessen der elektronischen Verwahrlosung bis hin zu Zensurmaßnahmen im Dienste eines Kindeswohls, dessen Wahrnehmung oder auch Definition selbstverständlich im Rahmen des elterlichen Machtbereichs liegt, von dem man Eltern bitten möchte, ihn gelegentlich zu reflektieren, was aber sehr schwer ist, weil man als junge Mütter/Väter unaufhörlich mit grauenvollem pseudo-pädagogischen (wie auch pseudo-ernährungswissenschaftlichem) Zeug traktiert wird und das Kindeswohl ein heiß umkämpfter Markt mächtiger Protagonisten ist. Ich kann mich erinnern, dass ich „seinerzeit“ versucht habe, mich in der Beziehung zu unserem Sohn am liebsten überhaupt nicht pädagogisch, sondern nach Möglichkeit auf Augenhöhe zu verhalten, was ich im übrigen auch heute vertreten würde, weil ich es für ein Merkmal demokratischen Umgangs überhaupt halte.

Aus den Wunden Ihrer Kindheit wurde später schöpferische Kraft. Auch wenn der Schmerz durchdringt, höre ich keinen Zorn und schon gar keine Verbitterung. War es der Rat von Herrn Winkelmann, genau hinzuschauen, der Sie vor der seelischen Verätzung bewahrte? Nicht nur genau nach aussen hinzuschauen, sondern auch nach innen?

Ich habe diesem Onkel Winkelmann sehr vieles zu verdanken (und seiner Frau Eka und ihrem Mann, Onkel Grewatsch, ebenfalls, allen dreien): Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zum Beispiel. Güte. Geduld mit mir und anderen. Vielfältigkeit im Leben und Denken. Aber auch eine gewisse Unerbittlichkeit. Gründlichkeit. Mut.

Sie setzen das Unglück des Mädchens von Beginn weg in Relation zu all den schlimmen Kinderschicksalen der Gegenwart. Verbirgt sich darin eine Spur Scham? Ihr Roman ist alles andere als eine nach innen gerichtete Bauchnabelschau, das das eigene Schicksal über alle andere setzt. Wieviel Optimismus ist übrig geblieben?

Keineswegs schäme ich mich für Dinge, die mir zugefügt worden sind, allerdings habe ich lange über etwas nachgedacht, was im Augenblick eine gefährliche Wendung in den westlichen Zivilisationen nimmt. Ich denke, dass ein Opfer das Recht hat, auf eine Tat hinzuweisen, die an ihm begangen worden ist. Im Strafrecht nennt man das „eine Anklage erheben“. Das Opfer ist allerdings nicht zu einem Urteil befugt. Das ist allein ein Richter. In der kürzlich zur Hysterie getriebenen „Me-too“-Welle hat man sehr genau sehen können, dass da etwas Entscheidendes vor einiger Zeit eingeführt wurde und inzwischen sehr drastisch passiert, indem nämlich die selbsternannten Opfer in unseren Kulturen zu ebenfalls selbsternannten (und von Medien in ihrer Selbsternennung ermutigten) Richtern werden. Das ist außerordentlich gefährlich, es setzt unser Rechtssystem außer kraft, und zwar nicht nur das juristische, sondern ganz allgemein unseren Kompaß, der ohnehin schon sehr ungesund auf die beiden Pole „Gut“ gegen „Böse“ zusammengeschrumpft worden ist. Das, was dazwischen liegt, nämlich der überwiegende Teil dessen, was Leben ausmacht, wird in seiner gesamten „Artenvielfalt“ mal kurz verdampft. Was inzwischen der Form nach entstanden ist, könnte man so formulieren: Jemand glaubt, dass ihm jemand anderes etwas Unerlaubtes angetan hat. Unerlaubt ist inzwischen dank unserer jahrelangen Übung in «political correctness» ziemlich vieles, manche dieser Verbote kenne ich oder kennt der „Täter» vielleicht gar nicht jeder, aber so ist es. Aufgrund dessen, was also jemand glaubt, dass ihm an Unerlaubtem angetan ist von jemandem, der vielleicht zum Zeitpunkt der Tat gar nicht wußte, dass es nicht erlaubt ist oder war, wird dieser Täter mal kurzerhand von demjenigen, der glaubt, dass ihm das angetan worden ist und von dem inzwischen jedenfalls die Medien wissen, dass es verboten ist oder war, verurteilt, und zwar immer zur Höchststrafe, weshalb ja Kevin Spacey heute seinen Beruf so wenig mehr ausüben kann wie Sebastian Edathy und Jörg Kachelmann, an dessen „Fall“ man genau erkennen kann, worum dieses Opfer-Theater geht, denn Jörg Kachelmann kann seinen Beruf nicht mehr ausüben, obwohl ein Gericht ihn freigesprochen hat, und auch in Spaceys und Edathys Fall hat es entweder gar keinen Prozeß oder gar keine Verurteilung seitens eines Gerichtes gegeben. Wir sind also im Begriff, die Exekutive in den westlichen Zivilisationen aus der Instanz zu entfernen, wo sie in demokratische Verfassungen zu liegen hat und in gesellschaftliche Hände zu verlagern, die nicht dazu ermächtigt sein sollten, Urteile zu fällen und Strafen zu verhängen.

Sie erzählen in Ihrem Roman nicht aus. Da bleiben viele Leerstellen, die sich während des Lesens aber unweigerlich mit Vorstellung füllen. Manchmal beinahe penetrant, vorschnell. Sie erzählen aus einer Innensicht, spitzen zu, was mir als Leser oft den Atem stocken liess, auch aus Angst, was alles noch passieren könnte. Ihre Sprache braucht Stimme. Viele Passagen las ich laut – und sie drangen tief ein. Sie reduzieren, verdichten. Sind sie eine Dichterin?

Dichten ist rhetorisch das „Verdichten“, das metaphorische Sprechen und Denken.
In diesem Sinn bin ich absolut keine Dichterin.
Was ich tue, ist genau das Gegenteil: ich versuche, Zusammenhänge aus der Metapher rauszuholen. Ich denke – wie die meisten Frauen – überwiegend metonymisch. Das setze ich ein, um scheinbar von Stöckchen auf Hölzchen zu kommen (oder umgekehrt), assoziative Schleifen, das Abschweifen, auch manchmal das Weglassen zu erlauben, mit den Erträgen, die ich beim Abschweifen und Weglassen gesammelt habe, wieder zurückzugehen und auf diese Weise Klarheit in Verhältnisse zu bringen, die ich als „verschwiemelt“ oder auch metaphorisch verfestigt oder verknotet empfinde. Ich versuche, Klarheit zu gewinnen, weil ich glaube, dass Klarheit etwas Wunderbares und Erstrebenswertes ist.

Sie widmen Ihre Aufmerksamkeit nicht dem Schmerz, sondern der Kraft, der inneren Kraft, der Selbstheilung. Wo ist die Grenze? Wie schafft man es, aus Schmerz kreative Energie zu gewinnen?

Keine Ahnung.
Ehrlich.
Aber ich denke darüber nach. Der dritte Band dieser Trilogie hat seit vergangener Woche einen Titel, den ich noch nicht verraten möchte. Bei mir selbst habe ich ein Wort für das, was im Augenblick ziemlich gelöscht wird und ziemlich weit auch schon ausgelöscht worden ist, und ich denke, da liegt ein Schlüssel: Es so etwas wie „Menschenwissen“.
Vielleicht kriege ich’s raus oder komme der Antwort näher. Ich weiß es noch nicht.

Frau Vanderbeke. Ich bin tief beeindruckt von der Offenheit, die Sie zeigen. Ich bedanke mich für die geschenkte Zeit und bin sicher, dass die Antworten längst nicht nur mich zum Nachdenken zwingen.

Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebt im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität.

Webseite der Autorin 

Besprechung ihres vorletzten Romans auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau