Urs Faes «Sommerschatten», Suhrkamp

Urs Faes erzählt in „Sommerschatten“ von einem Paar, einer Liebe. Durch einen Unfall sieht er nicht nur das bedroht, was zwischen ihnen war, auch sein Selbstverständnis, das er mit einem Mal kippen sieht. „Sommerschatten“ ist mit derart viel Wärme erzählt, das mich die Sprache umarmt!

Der Erzähler hat sich eine Auszeit in einem kleinen Rebhäuschen im Schwarzwald genommen. Auf dem Weg mit dem Auto dorthin erreicht ihn ein Anruf, Ina, seine Liebe, sei beim Freitauchen lebensbedrohlich verunfallt, sie werde ins künstliche Koma versetzt und niemand könne voraussagen, wie sich der Zustand der Patientin entwickeln werde. Er fährt in die Klinik, darf Ina aber nicht besuchen, muss sich gedulden, weil sie Ruhe brauche. Mit einem Mal ist alles anders. Ausgerechnet sie, die die Aktive, die Fordernde, die Bewegte, die Unruhige in ihrer Liebe war, ausgerechnet sie liegt intubiert auf dem Rücken zur inneren und äusseren Bewegungslosigkeit verdammt. Ausgerechnet zwischen ihnen, denen Sprache, Sätze oder nur ein einzelnes Wort viel mehr waren als blosser Austausch, ist mit einem Mal die gläserne Glocke des Schweigens überstülpt.

„Sommerschatten“ ist der Roman einer Findung, einer Zurechtfindung, einer Sprachfindung für ein Paar, dem man die Stimme genommen hat, beide auf ihre Art zu verstummen drohen, sie durch den Unfall, das künstliche Koma, er durch die Angst, dass es nie mehr so werden würde, wie es einmal war. Und er, weil er sein Gegenüber verliert, ihre Nähe, ihren Blick, die Berührungen, das, was durch ihr Cellospiel, ihr Tanzen, ihren Bewegungsdrang, ihre Freude, ihre Liebe mehr und mehr den Mittelpunkt seines Lebens ausmachte, eines Lebens, das niemals das geworden wäre, hätte er sie damals nicht kennengelernt.

Urs Faes «Sommerschatten», Suhrkamp, 2025, 155 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43224-2

Freitauchen oder Apnoetauchen. Ina liebt den Sport. Diesen ganz stillen Weg in die Tiefe oder in die Distanz, in die zeitliche Distanz, dorthin, wo die Zeit aufhört, über die Grenzen des Schmerzes hinaus. Ina ging es nicht bloss um Rekorde, um ein Limit. Ina liebte dieses ganz eigene Eintauchen in ihr Leben, die Stille, das Ausloten, diesen Schmerz, der auf der anderen Seite der Grenze zu Euphorie, zu einem Rausch wird. Sie wusste um das Risiko. Aber sie brauchte diese Portion Risiko, um sich ihrer Lebensfreude zu versichern, um das Auftauchen zu einem Akt des Erwachens zu machen, einem Erwachen drohender Routine. 

Bis zu diesem einen Tag, als man sie aus dem Wasser holte, als die Rettung gerufen werden musste, als jene letzte Grenze für einen Moment zu lange überschritten wurde und es drohte, kein Auftauchen mehr zu geben. Bis Ina aus dem Leben gerissen wurde und sich der Erzähler mit dem grossen Schweigen konfrontiert. 

„Sommerschatten“ ist mehr als eine Geschichte. Wäre es Urs Faes um die „gute Geschichte“ gegangen, hätte man der Story mit Leichtigkeit mehr Pepp beifügen können. Aber Urs Faes geht es, wenn überhaupt um Dramatik, dann um die innere. Urs Faes schreibt ganz nah am Seelenzustand des Erzählers. Und doch weder in einer Nabelschau noch in einem lyrischen Erguss an Seelenbefindlichkeiten. Obwohl der Roman eine stark lyrische Komponente hat, ist es der sprachliche Pinselstrich des Autors, der mich bei der Lektüre berauscht und beeindrukt. Seine ganz eigene Kunst des sprachlichen Freitauchens, manchmal bis an die Schmerzgrenze, wenn Urs Faes formuliert, als gäbe es nur seine Sprache, wenn Klang und Rhythmus das Erzählen bestimmen. In einem Interview erzählt Urs Faes, dass er mehr als ein Dutzend Mal seinen Roman überschreibt, als würde er immer und immer wieder seinen Melodien zuhören, bis jeder Ton sitzt, jeder Rhythmus stimmt. In „Sommerschatten“ malt der Autor, spielt ein ganzes Orchester. Wer sich auf seine Sprache einlässt, wird reich beschenkt. „Sommerschatten“ macht glücklich, legt sich wie eine warme Decke um meine Schultern, ist genau das, was es in einer Zeit braucht, in der uns die Superreichen erklären, dass die Welt mit Empathie nicht zu retten sei.

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane «Paarbildung» und «Halt auf Verlangen» standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Urs Faes liest an den Weinfelder Buchtagen.

Urs Faes auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Jürgen Bauer