Lieber Gallus
Nach «Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler habe ich als zweites Buch (auch aus dem Atlantis Verlag!) der für den Schweizer Buchpreis 2024 Nominierten das aktuelle Werk «Tabak und Schokolade» von Martin R.Dean gelesen.
Dass auf dem schön gestalteten Cover «Roman» steht, stört mich nicht, dass die Halbgeschwister nur als Erben vorkommen ebenso wenig. Meiner und meiner Mutter Geschichte, diese Worte beschliessen das Buch, eine sehr berührende und anregende Recherche des Autors nach seinen karibischen Wurzeln. Es beginnt mit einer eindrücklichen Szene, wo die zwanzigjährige Mutter mit dem kaum einjährigen Kind vor dem betrunkenen, gewalttätigen Ehemann flieht, weil er seine Zigarette auf dem Baby ausdrücken will. Die Ehe zerbricht, die Mutter kommt nach mehreren Jahren Arbeit in Plantagen mit dem Kind in die Schweiz zurück. Damals war ein kaffeebraunes Kind in einem aargauischen Dorf eine Sensation. Die Mutter heiratet erneut einen Mann aus der Karibik, einen Arzt und verlor seither kaum ein Wort über die ersten Jahre mit «Martin» auf Trinidad. Als die Mutter stirbt, bleibt dem vom Pflegevater abgelehnten und von den Erben nicht berücksichtigten Autor nur «Die Geschichte». Sogar seinen Familiennamen musste er in der Primarschule ohne Erklärung ändern. Der Willensvollstrecker des nicht unbeträchtlichen Erbes teilt ihm mit, er sei nicht in der Erbengemeinschaft inbegriffen. Zufällig bemerkt er in der Schublade mit dem weggeschafften Schmuck der Mutter ein rotes Fotoalbum, das er heimlich zu sich nimmt. Anstelle von Gold und Silber entdeckt er so Bilder aus der versunkenen Welt seiner Kindheit.
In einer klaren genauen Sprache und fotografisch belegt breitet sich vor uns ein dichtes Kaleidoskop aus, in mehreren Erzählsträngen begleiten wir den Autor auf der Recherche seiner Kindheit, seiner Herkunft. Und nebenbei erfahren wir aus authentischer Sicht einen Teil der Kolonialgeschichte, die auch die Schweiz betrifft. Meisterhaft ist diese Suche nach Identität, nach Herkunft, nach Anerkennung beziehungsweise Ausgrenzung mit der Familiengeschichte verwoben.
Der Autor besucht nach dem Tod der Mutter erstmals seine Verwandten in Trinidad, die sich als Kontraktarbeiter im 19.Jahrhundert aus Indien in den Plantagen unter sklavenähnlichen Bedingungen hochgearbeitet hatten. Die Auswanderer konnten nur das nackte Leben mitnehmen, alle sozialen Bindungen gingen verloren. Millionen von Schwarzen Leibern wurden in süsse weisse Materie (Zuckerrohrplantagen) umgewandelt, damit Wirtschaft und Wohlstand in Europa in Schwung blieben. Kastenwesen und Rassismus lasteten auf diesen Menschen, erklären die Anfälligkeit für Alkoholismus und Gewalt.
«Tabak und Schokolade»: Tabak bezieht sich auf die Herkunftsfamilie der Mutter. Diese Grosseltern lebten und starben für die Zigarrenindustrie. Sie trugen den Tabakstaub aus den Fabriken nach Hause, nicht nur in den Kleidern, sondern auch in ihren Lungen. Mein Grossvater sog unentwegt an seinem Stumpen, wenn er im Garten Erde aushob, Unkraut jätete oder in der Werkstatt hämmerte, auch wenn er auf seinem Moped über Land fuhr.
Vor dem Rückflug in die Schweiz besucht der Autor eine Buchhandlung: Es berührt mich seltsam, mitten in Port of Spain auf eine Person zu stossen, die mir den Schriftsteller Edgar Mittelholzer als Schweizer vorstellt. Dies ein weiterer Erzählstrang, der den Lebensbericht des Protagonisten ergänzt und spiegelt.
Bei ihrem achtzigsten Geburtstag bezeichnet seine Mutter die erste Zeit mit ihrem ersten Kind in Trinidad als ihre glücklichste. Ein kleiner Trost, da ihm nach deren Tod von den Erben nicht einmal das Tischchen, worauf er mit ihr bei seinen Besuchen Kaffee getrunken hat, überlassen wird.
Das Buch macht betroffen, liest sich aber weil, dass es Martin R. Dean gelungen ist, seine reiche, auch schwierige Biografie ohne anklagende Töne in Sprache zu fassen.
Was sind deine Eindrücke nach der Lektüre?
Herzlich
Bär
NB Meine Favoriten für den Schweizer Buchpreis 2024 sind diese beiden Bücher, an erster Stelle «Verschiebung im Gestein».
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Lieber Bär

Meine Leseeindrücke schilderte ich schon in meiner Rezension vom 17. September. «Tabak und Schokolade» ist ein Buch der Stunde, ein Buch über Mütter und Väter, ein autobiographischer Roman, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, eine Auseinandersetzung, die Martin R. Dean durch seine Hautfarbe aufgezwungen wurde, dieses Anderssein, Nicht-der-Norm-Entsprechen.
Das Besondere an diesem Buch; Martin R. Dean betreibt nicht blosse Nabelschau. Obwohl er sich verletzt und gekränkt fühlt, weil man ihn nach dem Tod seiner Mutter als Erbe noch einmal als Sohn/Mensch zweiter Klasse degradiert, ist das Buch nicht nur Ahnenforschung oder sanfte Abrechnung, sondern ein Sittengemälde der Nachkriegszeit, die Geschichte unerfüllter Wünsche in einer Gesellschaft, in der für (fast) alle alles möglich, Erfolg und Aufschwung Norm schien. In einer Gesellschaft, die mit der Schwarzenbachinitiative seine Vorbehalte gegenüber «anderen» ganz offen artikulierte und sich in ihrer Argumentation nicht allzu sehr von der Fremdenfeindlichkeit in der Gegenwart unterscheidet. Eine grosse Mehrheit von Wählerinnen und Wählern in ganz Europa macht das in der Gegenwart mehr als deutlich.
Martin R. Dean macht mit seinem Buch auch bewusst, wie sehr der Reichtum unseres Landes, hier beispielhaft mit der Tabak- und Schokoladenproduktion, auf den Schultern und Rücken Ausgebeuteter, Vergessener, Entwurzelter gewachsen ist. Noch immer stehen Denkmäler von Grossen aus Wirtschaft und Politik unkommentiert auf Plätzen bedeutender Schweizer Städte, deren Erfolg und Wichtigkeit ins Blut von Sklaverei und Ausbeutung getaucht ist.
Martin R. Dean kreist schon lange um das Thema «Fremdsein». Mit Sicherheit ist dies sein persönlichstes Buch in dem er überraschend viel über seine Geschichte und Herkunft erzählt und verrät. Ob das Buch nun mit Recht «Roman» genannt werden kann, darüber fehlt mir die Lust zu diskutieren. Wahrscheinlich eine Strategie des Verlags. Es lässt sich schlicht mehr Umsatz generieren, wenn auf einem Cover «Roman» steht.
In jeder Familie, in jeder Geschichte gäbe es Gründe genug, die Türen zur Vergangenheit zu öffnen. Letztlich versteckt sich dort immer ein Schatz, Reichtum, ein Fundament, auch wenn mit Überraschungen zu rechnen ist. Der Blick zurück stärkt den Schritt nach vorn, weil er Richtung gibt.
Ich bin nicht überrascht, dass Dir das Buch gefällt! Hast Du «Favorita» von Michelle Steinbeck schon gelesen? Nach einer Veranstaltung an den Solothurner Literaturtagen verging mir eigentlich die Lust. Und nun war ich doch ziemlich baff!
Freundschaftliche Grüsse
Gallus


Lange hat draussen das Schild «Bis auf Weiteres geschlossen» gehangen, bis Elisabeth die Entscheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois’ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Vielleicht hat das mit Camenzind zu tun. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommerhaus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke. Bald, so scheint es ihr, beginnt das Haus mit ihr zu sprechen.
Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?
Auf der Spur des verlorenen Vaters und seines „Töters“
Nach dem Tod der Mutter findet der Erzähler in einer Schublade ein Album mit Fotos seiner frühen Kindheit, die er auf der Karibikinsel Trinidad und Tobago verbracht hat. Als junge Frau hatte sich die Tochter von «Stumpenarbeitern» aus dem Aargau in ein Abenteuer mit einem Tunichtgut der westindischen Oberschicht gestürzt und ein Kind bekommen. Während die übrige Familie bemüht ist, das Gedächtnis an die Jahre der Mutter bei den «Wilden» auszulöschen, macht sich der Erzähler auf, diese Geschichte, die auch seine eigene ist, zu retten.
Podcast – Debatte zu dritt
In einer beschaulichen Kleinstadt in der Schweiz passiert Erstaunliches: Kaum gegründet, mischen Sabine und Chantal mit ihrem Verein «Polifon Pervers» und einer neuen Vision von «Onderhaltig» die Kulturszene auf. Risikofreudig und clever agierend, steigen sie als Theater-Produzentinnen zu nationalen Grössen auf und scharen eine illustre Runde um sich: vom eitlen Regisseur Lüssiän über den versoffenen Ghostwriter Iiv, den Lebemenschen und DJ Milan und die opportunistische Schauspiel-Grösse Schontal bis zu Jule und seinen Hanf-Bauern, die unversehens als Performance-Künstler brillieren. Dem Erfolg ordnet der Verein für Unterhaltung im Laufe der Geschichte alles unter, und so folgen auf erste Unsauberkeiten schon bald alle möglichen Formen des Betrugs.
Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Songwriter, Lyriker und vieles mehr. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.
«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Grossmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmasslichen Mörder – und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein.
Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war schon nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.