«Ich – ein Mensch? War ich je Mensch?» – Szczepan Twardochs «Kälte» (15)

Lieber Gallus

Dieses Buch, mein erstes dieses Autors, hat mich tief bewegt, verunsichert, begeistert und verwirrt. Ist es ein gutes, lesenswertes Buch? Warum schreibt Twardoch oft so brutal, müssen die Szenen von Folter und Vergewaltigung so genüsslich-sinnlich dargestellt werden? Manchmal war es für mich zu viel des Schrecklichen. Insgesamt bin ich aber sehr beeindruckt und habe neben dem ungemein spannenden Abenteuer von Konrad Widuch im Packeis viel vom Kriegsgeschehen der Zeit der Russischen Revolution und des zweiten Weltkriegs mitbekommen, auch mit einem beeindruckenden Einblick in das damalige Leben der nordsibirischen Völker. Der Überlebenskampf gegen die eisige unwirtliche Natur und die Auseinandersetzung mit anderen Völkern des Polarkreises lassen keine «Wohlfühlpassagen» zu. Auch die oft grobe Sprache unterstreicht dies literarisch, lässt mich in Abgründe blicken.

Ich – ein Mensch? War ich je Mensch?

Sczcepan Twardoch «Kälte», Rowohlt, 2024, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, 432 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-7371-0188-2

So beginnt das Notizbuch des Konrad Widuch, des Protagonisten, und eine einfache Antwort ist auch nach 400 Seiten nicht gegeben. Das Mitschwingen dieser Frage im Hintergrund macht die Tiefe und die Bedeutung dieses Werks aus. Scharfe Dissonanzen und wilde Rhythmen finden nur selten in Dur-Tonart ein wenig Trost, am ehesten in der Erinnerung an seine verlassene Sonja mit den Töchtern Wilena und Linel, von denen er sich aus strategischen Gründen getrennt hat. Die Erinnerung an sie geben dem Protagonisten Halt. Der ehemals fanatische Bolschewist macht eine tiefe Wandlung durch und sucht seinen Weg, was nicht ohne Mord und Totschlag, ohne Entbehrung und Verzicht geht. Oft in Eis erstarrte Einsamkeit ohne Lichtblick. Die Menschlichkeit schimmert neben dem Tierischen immer wieder durch, oft geht es aber ums pure Überleben, wo selbst Kannibalismus ins Spiel kommt.

Denn wenn Russland kommt, dann kommt hier jemand her wie der, der ich einmal war, er wird euren Dejwas stürzen und wird euch sagen, was ihr zu tun habt, und jeder von euch wird Sklave sein.

Leider ist dies aktueller denn je!
Klug verwoben ist die Geschichte mit dem Segelturn des Erzählers von Svalberg gegen Osten. Eigentlich wollte er dem eintönigen Alltag entfliehen und Einsamkeit erleben auf den Spitzbergen. Dort trifft er auf eine Frau mit Segelboot, kommt so zur Lektüre der Notizen des ebenso aus Schlesien stammenden Konrad Widuchs. Rätselhafter Zufall?

Das wunderschön gestaltete Literaturblatt No 67 hat mich wahrlich in eine abenteuerliche «Kälte» geführt, die ich trotz der manchmal kaum zu ertragenden Schrecken nicht missen möchte.

Herzlich
Bär

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Lieber Bär

Wie ich mich freue, dass ich Dich mit meinen Lesetipps zur Lektüre von Szczepan Twardochs Roman verführen konnte. Und wie sehr ich mich freue, dass Du meine selbst gezeichneten und von Hand geschriebenen Literaturblätter gar in Deiner feinen Bibliothek aufhängst. Was für eine Ehre.

«Kälte» ist ein grosser Schlüsselroman zur Gegenwart, eine Reise durchs kollektive Unbewusste Europas … Es ist Weltliteratur, aus familienbiografischen Ereignissen gespeist, stand in der NZZ. In diesem kollektiven Unbewusstsein schlummern und modern seit Jahrtausenden all die Menschheitskatastrophen, die einzig die Gattung Mensch verursachte. Katastrophen, die sich in den Code des Menschseins unauslöschlich eingegraben haben. 

Aufgabe der Kunst, der Literatur ist es, sich diesen Katastrophen zu stellen, sich mit ihnen direkt zu konfrontieren, seien dies die kleinen Katastrophen oder die ganz grossen. Vielleicht ist genau das eines der Unterscheidungsmerkmale von guten und schlechten Büchern. Echte Literatur konfrontiert. Alles andere deckt bloss zu, spielt mit einer glatten Oberfläche, täuscht und gaukelt vor. Nicht dass es reine Unterhaltung nicht geben soll, aber echte Literatur, gute Bücher sollen und müssen reiben, sollen und müssen etwas von der wirklichen Welt spürbar und sichtbar machen.

Jonathan Littell «Die Wohlgesinnten», Piper, 2009, übersetzt von Hainer Kober, 1392 Seiten, CHF. ca. 31.90, ISBN 978-3-8333-0628-0

Vor einigen Jahren las ist mit tiefer Bestürzung und unsäglicher Betroffenheit den Roman «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littell, den fiktiven Lebensbericht eines hohen SS-Offiziers, eines Unbelehrbaren, Uneinsichtigen. Ein bizarres Epos, das ein detailliertes und nur schwer ertragbares Bild des Zweiten Weltkriegs und der Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten zeichnet. Nichts an diesem Protagonisten ruft nur einen Funken Sympathie hervor. Wer dieses Buch liest, steigt in die dunkelsten Höhlen menschlicher Abgründe. Wer sich beim Lesen nach einem Protagonisten sehnt, mit dem man sich solidarisieren, dem man wenigstens Mitgefühl entgegenbringen kann, wird gnadenlos enttäuscht. Und doch; der Roman konfrontiert mit der Wahrheit, einem Stück Mensch, dem wir uns ganz offensichtlich nur schwer stellen können.

«Kälte» konfrontiert. „Kälte“ ist die Hinterlassenschaft eines Hoffnungslosen. Nichts an dieser Geschichte, ausser einer atemberaubenden Kulisse, erinnert an Helden- und Abenteuergeschichten. Konrad Widuch ist kein Held. Er überlebt nur deshalb, weil er sich selbst der Nächste ist, einer der sich in seinen Reflexionen immer wieder vor die Frage gestellt sieht: Bin ich noch ein Mensch? Konrad Widuch erzählt ohne Schalldämpfer, ohne Filter. Seine endlos scheinende Flucht ins Nirgendwo ist ein irriger Überlebenskampf an den Rändern des Erträglichen, sowohl für ihn wie für mich als Leser.

Vielleicht ist das der grosse Wandel in der Kunst. Es genügt nicht mehr, Schönes zu schaffen, weder in der Bildenden Kunst noch in der Musik. Es muss reiben. Szczepan Twardoch tut es in allen seinen Romanen. Und deshalb zählt er mit Recht zu den ganz Grossen der Weltliteratur.

Liebe Grüsse

Gallus

Rezension von «Kälte» auf literaturblatt.ch

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preisausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Szczepan Twardoch «Kälte», Rowohlt

Seit seinem Roman „Morphin“ (2012) gehört Szczepan Twardoch zu den ganz grossen und eigenwilligen Schriftstellern der Gegenwart. In seinen düsteren, beinah apokalyptischen Romanen, die nichts beschönigen und die Abgründe menschlichen Seins mit Tiefenbohrungen bis ins Rückenmark sondieren, keimt wenig Hoffnung. Und gerade deshalb sind Bücher wie sein neuer Roman „Kälte“ existenziell.

„Kälte“ ist nichts für zarte Seelen, keine Erbauungsliteratur, schon gar keine Nachttischlektüre. „Kälte“ fasziniert und schreckt ab, pulverisiert Illusionen, zeigt mit letzter Konsequenz, dass sich Menschsein schlussendlich nur noch auf den letzten Drang zu überleben reduzieren kann – koste es, was es wolle. „Kälte“ ist grosse Literatur, die sich um die grossen Fragen des Lebens dreht: Was bleibt, wenn nichts mehr hält? Was macht Menschsein aus? Gibt es Hoffnung? „Kälte“ ist ein Roman, der in die Knochen fährt, der während des Lesens die Haut erschaudern lässt und zeigt, worin die Kraft der Literatur liegt; in der Berührung.

Konrad Widuch, aus dem schlesischen Polen, reist in den Wirren der russichen Revolution nach Osten, schliesst sich den Trotzkisten an und gründet mit der Revolutionärin Sofie eine Familie, überzeugt davon, Teil einer neuen Weltordnung zu werden. Aber in den Wirren verschiedener Auffassungen von Revolution und dem uneingeschränkten Machtanspruch Stalins zwingt die Zeit Sofie mit den Kindern zur Flucht und Widuch in ein riesiges sibirisches Gulag, einen Ort, über den ich nicht schreiben und dessen Namen ich nicht erwähnen will (Dalstroi). Widuch gelingt mit zwei düsteren Gefährten die Flucht, nicht weil er an eine Rückkehr nach Hause glaubt, aber weil es die einzige Chance ist auf einen letzten Rest Freiheit.

Sczcepan Twardoch «Kälte», Rowohlt, 2024, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, 432 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-7371-0188-2

Nichts an seiner endlos lange werdenden Flucht ist ein Ankommen. Neben der arktischen Kälte und den Wintermonaten in absoluter Dunkelheit, gepeinigt von Hunger und Krankheiten, findet Widuch mit seinen beiden Gefährten Schutz bei einem weitgehend autark lebenden Taigavolk, wo man ihnen in einer Mischung aus traditioneller Gastfreundschaft und Misstrauen begegnet, sie leben lässt, bis ein Flugzeug aus der Zivilisation die Bedrohung nicht zu Widuch und seinen Gefährten bringt, sondern zur ganzen Siedlung, die abgeschottet vom Weltgeschehen lebt, in einer Ordnung, die einer neuen Weltordnung viel näher kommt als der russische Kommunismus. Nach einem weiteren Blutbad ist Widuch erneut auf der Flucht, am Schluss nur noch auf sich selbst gestellt, bis er im Eis eingeschlossen die Invincible findet, ein Schiff aufs Eis gedrückt und zwei Männer, die auf den Sommer und die Weiterfahrt auf dem Weg zur arktischen Nordostpassage warten. Irgendwann ist Widuch auch auf diesem Schiff allein, wo er mit den Aufzeichnungen seiner langen Reise nach Nirgendwo beginnt, einem Monolog gegen die Einsamkeit, gegen den Wahn.

Jahrzehnte später gelangen diese Aufzeichnungen zu Borghild Moen, die im Sommer 2019 mit ihrer Jacht Isbjørn im Hafen von Pyramiden, einem ehemals sowjetischen Bergbaudörfchen auf Spitzbergen dem Schriftsteller Szczepan Twardoch begegnet, der sich dort eigentlich hätte zurückziehen wollen. Raus aus der Schlinge des Lebens. Borghild gibt Twardoch die Aufzeichnungen zu lesen, nicht nur in der Hoffnung, einen geeigneten Adressaten zu finden, denn Borghild ist unheilbar krank. Die Aufzeichnungen von Konrad Widuch sind die ihres Vaters.

„Kälte“ ist die Hinterlassenschaft eines Hoffnungslosen. Nichts an dieser Geschichte, ausser einer atemberaubenden Kulisse, erinnert an Helden- und Abenteuergeschichten. Konrad Widuch ist kein Held. Er überlebt nur deshalb, weil er sich selbst der Nächste ist, einer der sich in seinen Reflexionen immer wieder vor die Frage gestellt sieht: Bin ich noch ein Mensch? Konrad Widuch erzählt ohne Schalldämpfer, ohne Filter. Seine endlos scheinende Flucht ins Nirgendwo ist ein irriger Überlebenskampf an den Rändern des Erträglichen, sowohl für ihn wie für mich als Leser.

Auch kein Zufall, dass der 2022 in Polen erschienene Roman zeitgleich mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine auf der Bühne erschien. „Kälte“ ist auch eine Abrechnung mit dem Argessor Russland, einem Ungeheuer, das alles frisst und schluckt. Eingebaut in den Roman sind regelrechte Schimpftriaden, in den Mund eines Mannes gelegt, dem jede Hoffnung genommen wurde, der ganz auf sich selbst, sein Überleben zurückgeworfen ist. Geschrieben von einem Schriftsteller, der es nicht scheut, bitter notwendiges Kriegsgerät aus eigener Initiative an die Front zu schicken. Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, versteht ihr, in Russland, das heißt in Scheiße. Damit alles genau solche Scheiße wird wie es selbst.

In seiner ganz eigenen Kraft strotzend!

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Rezension von «Das schwarze Königreich» von Szczepan Twardoch auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Paweł Śmiałek

Szczepan Twardoch «Das schwarze Königreich», Rowohlt

«Das schwarze Königreich» trifft mitten in die Weichteile. Szczepan Twardochs neuer Roman prügelt mich aus dem schummrigen Gefühl der Zufriedenheit und zeigt schonungslos, was in den Tiefen der menschlichen Abgründe lauert und jederzeit wie Magma zum Vorschein kommen kann.

Es muss während meiner Ausbildung gewesen sein, als mich «Mila 18», ein Wälzer von Leon Uris, in seinen Bann zog und mich die Geschichte des Warschauer Ghettos während des aussichtslosen Widerstands der jüdischen WiderstandskämpferInnen gegen die Übermacht des nationalsozialistischen Gewaltapparats nicht mehr losliess. Szczepan Twardochs Roman «Das schwarze Königreich» erzählt aus der gleichen Zeit. Aber mit dem grossen Unterschied, dass es bei ihm keine HeldInnen gibt. Und wenn es sie gibt, dann sind es verzweifelte, gebrochene und gequälte HeldInnen.

Was hält Menschen trotz all der Schrecken, all des Leidens, all der Ängste am Leben? Was ist wirklich stärker; die Liebe oder der Hass? Was taugt mehr zum blanken Überleben? Was passiert mit dem, was wir als Menschlichkeit erhöhen, wenn in den Schlachten eines Krieges alle Masken, alle Hemmungen fallen?

Szczepan Twardoch «Das schwarze Königreich», aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Rowohlt, 2020, 416 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-7371-0073-1

Szczepan Twardochs „Das schwarze Königreich“ ist angesichts all der Vergleiche, der sich selbst ernannte Querdenker auf Demonstrationen und in ihren digitalen Kanälen bedienen, ein Mahnmal dafür, wie wenig Menschen aus der Geschichte lernen, wie sehr man sich Zusammenhänge bedient, die gar nicht existieren und wie leicht sich Geschichte instrumentalisieren lässt. In einer Gegenwart, in der Kühlschränke noch immer voll sind, jeder seinen eigenen Mist als Wahrheit verkaufen kann, ein Gesundheitssystem alles tut, um jedem, der es braucht, zu helfen, Bankomaten jeden bedienen und die Arbeitslosigkeit erstaunlich tief bleibt, ist jeder Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit während der Hochblüte von Nationalsozialismus und Faschismus ein Hohn. 

Szczepan Twardoch beschreibt jenes tiefe Loch, dass sich in jenen Jahren auftat, jenen dunklen, schwarzen Kontinent, der während Jahren alles Licht in Schwärze umzuwandeln schien. Szczepan Twardochs Roman gibt den Blick frei in die Tiefen der menschlichen Abgründe, ungeschönt, nie unterscheidend zwischen den Guten und den Bösen. Das Töten und Sterben, das Grauen und Vernichten ist überall. Und ganz bestimmt in seiner dunkelsten Konzentration an Orten wie dem Warschauer Ghetto 1943, als sich eine verhältnismässig kleine Gruppe aufständischer Juden gegen ihre Deportation in die staatlichen Konzentrationslager zur Wehr setzte und den Vernichtungslagern wie Treblinka, in denen die Tötungsindustrie Wehrlose zu Abertausenden nach ihrem Hertransport in Viehwagons vergaste und verbrannte.

Die polnische Leuchtfigur der Gegenwartsliteratur will weder erklären noch beweisen, nicht einmal verstehen. Szczepan Twardochs Roman ist ein Versuch, jene Zeit und deren Geschehnisse nicht zu entfremden, sie nicht zu beschönigen. In jenem Königreich regiert der Wille zu überleben, die Macht des Stärkeren. Szczepan Twardoch erzählt von Jakub Shapiro, einem Warschauer Juden, König seiner Unterwelt. Von einem Mann, der sein Recht mit Fäusten und mit Geld zu zementieren wusste, einer Geschichte, die Szczepan Twardoch schon in seinem 2018 auf Deutsch erschienenen Roman „Der Boxer“ zu erzählen begann. „Der Boxer“ war der Aufstieg Jakub Shapiros, „Das schwarze Königreich“ sein ungebremster Niedergang. Aber Szczepan Twardochs neuer Roman ist viel mehr als eine Fortsetzung. Szczepan Twardoch erzählt von ganz vielen Leben. Von Ryfka, der Geliebten Jakubs, die ihn in den Trümmern des Ghettos in die Postapokalypse zu retten versucht. Von Jakubs Zwillingsöhnen Daniel und David, dem einen als engelhafter Begleiter in den sicheren Vernichtungstod, dem anderen als Retter und Kämpfer. Von Emilia, Jakubs betrogener und gedemütigter Ehefrau, die alles was ihr bleibt mit dem letzten Rest ihrer Liebe nackt und geschoren ins Gas trägt.

„Das schwarze Königreich“ ist wahrhaft schwarz, über weite Strecken nicht leicht zu lesen. Szczepan Twardoch verklärt nichts und beschreibt alles in seiner tiefsten Grausamkeit. Und doch ist die beschriebene Brutalität nicht Selbstzweck und genüssliche Inszenierung. Szczepan Twardoch peitscht mich durch Wahrheiten, die ich allzu leicht auszublenden versuche. Die Menschen in seinem Roman sind aller Sicherheiten beraubt, aus der Zeit gehoben, in höchstem Masse sich selbst überlassen. Zitate wie „Gerechtigkeit ist die lachhafteste aller Fiktionen, an die die Menschen glauben“ sind Speerspitzen, die sich in mein Herz bohren.

Dass sich ein Mann mit Jahrgang 1979 in jene Geschehnisse, die vor über 40 Jahren seiner Zeitrechnung den Beginn jenes „schwarzen Königreichs“ öffneten, derart tief hineinschreiben kann, ist mehr als Empathie, mehr als Recherche, mehr als Imagination. Szczepan Twardoch ist ein Grosser!

© Zuza Krajewska

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer» sowie das Tagebuch «Wale und Nachtfalter». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Der Übersetzer Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitet seit 1996 als Osteuropareferent für den Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Beitragsbild © Zuza Krajewska