Leukerbad – 3 Tage Hauptort der Literatur – 3 Rosinen – ein Rückblick

Ob Terézia Mora, Ronya Othmann oder Joanna Bator, von Frauen erduldete und erlittene Gewalt ist immer wieder Thema in der Literatur, als wäre die Literatur die Waffe, um sich mit Sprache gegen diese Gewalt zu wehren.

Nicht ganz einfach für mich als Mann, zumal mich die Lektüre dieser Bücher und die Gespräche darüber immer und immer wieder mit Selbstreflexion konfrontieren; Wie weit bin ich selbst Teil dieser Mechanismen? Wie viel davon ist mir bewusst, wie viel ist mir längst in Fleisch und Blut übergegangen? Was hat sich in meine Sprache eingeschlichen? Warum scheint sich in Büchern leichte Unterhaltung mit den Sonnenseiten der Liebe zu beschäftigen und „ernste“ Literatur mit den Schattenseiten? Warum beschleicht mich beim Lesen immer wieder das Gefühl, „auf der falschen Seite“ zu sein.

Weder Gewalt an Frauen, oder all die unauffälligen, verborgenen männlichen Verhaltensweisen, die sich bewusst oder unterbewusst gegen Frauen richten bis hin zu offensichtlicher Misogynie, waren Thema am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad. Aber selbst der ofenfrische Roman der jungen Michelle Steinbeck widmet sich dem Thema, lässt Männer oder zumindest Männlichkeit schlecht aussehen.

Michaela Wendt, Joanna Bator und Barbara Wahlster © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Die polnische Schriftstellerin Joanna Bator, nicht zum ersten Mal Gast (Man kündigt in Leukerbad weibliche Gäste als Gästinnen an. Etwas was mir weder über die Lippen noch in die Tasten geht, zumindest vorläufig.) in Leukerbad, brachte einen monumentalen Roman ins Wallis. Auf 800 Seiten erzählt Joanna Bator virtuos, verschachtelt und leidenschaftlich von vier Generationen Frauen, einem Jahrhundert deutsch-polnischer Geschichte. Eine Geschichte, in der die Männer einzig und allein da sind, Schwierigkeiten zu machen, abwesend zu sein oder sich ganz offensichtlich gegen die weibliche Kraft zu wenden, bis hin zu schreiender Gewalt.

Ronya Othmann © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Noch offensichtlicher wird es bei Ronya Othmann, die sich mit ihrem Roman „Vierundsiebzig“ auf beklemmende Weise mit ihrer jesidischen Herkunft, ihren Wurzeln beschäftigt. 2014 verübte der IS einen Genozid an den Jesiden im Sindschar-Gebirge. Weitab von der medialen Aufmerksamkeit wurden im Norden des Iraks Tausende von Jesiden umgebracht, hauptsächlich Männer, während man Frauen als Sexsklavinnen verkauft und Kinder zu Selbstmordsoldaten macht. Ein Massaker in einer langen Reihe, das vierundsiebzigste, ein Genozid über Jahrhunderte, ein genetisch verankertes Trauma einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die als Minderheit immer und immer wieder zwischen die Fronten gerät. Ein massenhaftes Töten fanatischer Männer. „Vierundsiebzig“ ist ein langer Erklärungsversuch einer jungen Autorin, die nicht nur in ihrem Roman um eine Stimme ringt. Selbst während des Gesprächs am Festival über ihr Buch rang sie nach Fassung. Ein Buch, dem ich möglichst viel Publikum wünsche!

Terézia Mora zusammen mit ihrer Moderatorin Barbara Wahlster © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Viel abgeklärter die Büchnerpreisträgerin Terézia Mora, die in ihrem Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ erstmals aus der Sicht einer Frau erzählt. Muna liebt Magnus. Es könnte eine Liebesgeschichte sein, ist aber viel mehr die Leidensgeschichte einer Frau, die sich nicht aus dem Dunstkreis eines Mannes befreien kann, der sie fesselt und erniedrigt. Sie versucht sich zu erklären, schreibt eine 400seitige Rechtfertigung, immer wieder mit gedanklichen Einschüben, Korrekturen, die sich im Text niederschlagen, bis hin zu Schwärzungen. Da ist ihr fatales Manövrieren in einer toxischer Abhängigkeit, der unbändige Wunsch nach einem emotionalen Zuhause, nach Geborgenheit und Liebe. Da ist der jahrelange Versuch einer Frau, sich von einer Mutter, einer Herkunft zu emanzipieren, in einer akademischen Welt Fuss zu fassen, was nicht klappen kann und will angesichts der Turbulenzen, die ihre Abhängigkeit von Magnus verursacht.

Das sind nur ein paar wenige Eindrücke aus dem vielfältigen Programm des diesjährigen Festivals, das trotz prominenter Absagen, reiste ich doch mit vollständiger Svenja-Leiber-Bibliothek an, äusserst dicht und kurzweilig war. Selbst mit den Unmengen an Wasser, die dem Wallis in diesen Tagen arg zu schaffen machten. Ein grossartiges Geschenk!

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Ronya Othmann «die verbrechen», Hanser

2019 holte sich Ronya Othmann mit ihrem Text am Bachmannpreislesen in Klagenfurt den Publikumspreis. 2020 doppelte sie in eindrücklicher Weise mit ihrem Roman „Die Sommer“ nach, einem Buch, dass von Leyla erzählt, der Tochter einer Deutschen und eines êzîdischen Kurden. Nun bringt sie mit ihrem ersten Gedichtband „die verbrechen“ eine Stimme auf die Bühne, der man mit einer eigenartigen Mischung aus Faszination und tiefer Betroffenheit lauschen wird.

Man kann Ronya Othmanns Gedichtband „die verbrechen“ auf ganz verschiedene Arten lesen. Ich gebe zu, dass mir der Einstieg in ihre Sprachwelt nicht ganz leicht fiel, was auch damit zusammenhängt, dass sich Ronya Othmann nicht vor langen Gedichten scheut, Texten, die sich wie breite Sprachkaskaden über mich als Leser ergiessen. Sie verlangen von mir als Leser alles ab, reissen mich in eine Welt, der ich mich nur ungern stelle, die mich aus meiner Komfortzone drängen, mir meine wohlgefällige Sattheit vor Augen führen.

„die verbrechen“ ist ein vielschichtiges Buch, das mich in sechs Ebenen in eine Welt mitnimmt, die mir sonst verborgen bliebe, eine Welt aus Schmerz, Sehnsucht, Trennung und Verdrängung. Ein Buch, das einem in die Träume begleitet, wenn man Ronya Othmanns Gedichte vor dem Einschlafen liest. Legt man ihr Buch offen mit den Seiten nach unten aufs Nachttischchen, leuchtet einem der orange-grüne Umschlag entgegen, ein Bild, dass an aufgeschlagene Melonen erinnert, aber im Zusammenhang mit dem Titel „die verbrechen“ ganz andere Assoziationen provoziert.

Eine weitere Ebene offenbart sich in den Überschriften zu den vier „Kapiteln“, in die das Buch unterteilt ist. Vier Titel, die untereinander wie ein Vierzeiler erscheinen:

abgesang
ich habe gesehen
was nicht in den akten steht
was dir bleibt, ist diese wunde

Ronya Othmann «die verbrechen», Gedichte Hanser, 2022, 112 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-446-27083-1

„die verbrechen“ sind die Gedichte einer Vertriebenen. Von jemandem geschrieben, dem man nicht nur die Heimat verwehrt. Man zerstörte sie. Man mordete und verwüstete. Man nahm Leben und Geschichte. Eine Perspektive, die bei der Lektüre angesichts dessen, was gerade eben in der Ukraine geschieht, wie Faustschläge auf die Seele trommelt. Es ist die Stimme einer tief Verwundeten, eine Stimme, der ich verwundert lausche, weil sie sich nicht der Wut, dem Zorn und Hass ergibt, sondern in die „Schönheit“ jener innigen Liebe zu einer Welt eintaucht, die verloren ist, die man ihr genommen hat.

Vielleicht sind die Überschriften zu den Kapiteln genauso zu lesen, wie die Überschriften zu den einzelnen Gedichten. Auch wenn ich sie untereinander zusammenfüge, werden sie zu einer langen Spur, die sich durch den ganzen Gedichtband zieht:


dann bist du in die hitze gekippt. unter dir war dunst und über
dir das dach deines hauses
das wagenrad, der wegesrand
öldistel, kurkuma, walnuss, indigo
die hunde erkennen dich an deinen schritten und bellen nicht
staatenlos bin ich gekommen, staatenlos bin ich gegangen

Es sind starke Bilder, Sinneseindrücke einer überaus Empfindsamen. Reflexionen in ein Sein, das sich nur mehr an Erinnerungen, Träume und Gedanken koppelt. Verbindungen mit einer Welt, die rohe Gewalt, Vertreibung, Krieg und Mord wegriss. Ein Bewusstsein einer durch Krieg und Zerstörung Vertriebenen. Damals und heute in Syrien. Gedichtüberschriften, die mehr sind als Titel. Sie bohren sich ein. Ich brauche als Leser den Raum dazwischen.

Die letzten beiden Ebenen sind die Gedichte selbst und die Bilder, die sie in mir zurücklassen. Bilder, die sich unweigerlich mit jenen aus den Medien vermischen, seien es solche aus dem Syrienkrieg, der nicht erst mit dem Krieg selbst zu einem Drama wurde. Oder mit dem Krieg in der Ukraine, der auch nicht erst Ende Februar 2022 begann. Aus den Gedichten spricht die Kraft einer Stimme, die nicht akzeptieren will und kann, dass eine Welt untergegangen ist, die sich nicht von den Bildern trennen kann, die sie wie Tagträume mit sich herumschleppt, Erinnerungen an ein Damals, das nicht mehr existieren darf. Bilder einer immerwährenden Trennung.

„die verbrechen“ ist mehr als Lyrik. Die Gedichte erinnern mich an Gesänge voller Leidenschaft und Kraft, voller Sehnsucht und Liebe!

Am Wortlaut Literaturfestival St. Gallen 2022 © Wortlaut

Ronya Othmann wurde 1993 in München geboren und lebt in Leipzig. Sie erhielt u.a. den MDR-Literaturpreis, den Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik, den Lyrik-Preis des Open Mike, den Gertrud-Kolmar-Förderpreis und den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. 2018 war sie in der Jury des Internationalen Filmfestivals in Duhok in der Autonomen Region Kurdistan, Irak, und schrieb bis August 2020 für die taz gemeinsam mit Cemile Sahin die Kolumne «OrientExpress» über Nahost-Politik. Seit 2021 schreibt sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Kolumne «Import Export». Bei Hanser erschienen ihr Debütroman «Die Sommer» (2020), für den sie mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde.

Ihre journalistische Arbeit kann man sich auf Torial ansehen.

Beitragsbild © Cihan Cakmak