Juli Zeh «Unterleuten», Luchterhand

Juli Zeh schrieb den lange angekündigten grossen, deutschen Gesellschaftsroman.

Juli Zeh ist eine der Grossen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. 1974 in Bonn geboren, Jura, Europa- und Völkerrecht studiert, landete sie schon mit ihrem Debut «Adler und Engel» einen Grosserfolg und konnte mit Romanen, Essays und Reisetagebüchern auch im weiteren überzeugen. Juli Zeh ist eine der AutorInnen, deren Schreiben immer politisch ist. So nimmt sie kein Blatt vor den Mund, sei es in einem offenen Brief an Angela Merkel als Konsequenz aus der NSA-Affäre oder zusammen mit Illija Trojanow («Der Weltensammler») in der Streitschrift Buch «Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte», wo sie im Rahmen der Buchvorstellung kritisierte, dass der Staat unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung immer weiter in die Privatsphäre seiner Bürger vordringe.

Und nun also der vom Verlag mit Trommelwirbel präsentierte Roman «Unterleuten». Unterleuten ist nicht das Dorfidyll, von dem Aussteiger, Zivilisationsflüchtlinge, Tierschützer träumen. Es schmaucht, raucht und stinkt. Es wird verleumdet, taktiert, geschlagen, 130 km weg von Berlin in der ehemaligen DDR, aber scheinbar auf der anderen Seite des Planeten. Alteingesessene, durch Jahrzehnte gestählte Befehls- und Ansichtenempfänger prallen auf geblendete Freiheitssehnsüchtige, Zuzüger, die Landschaft, Haus und Garten mit Erwartungen vollpumpen. Aber die alte Ordnung steckt wie all das Gift aus 40 Jahren sozialistischer Erfolgsgeschichte 20 cm unter dem Boden.
Mit den geschärften Sinnen der Autorin taucht der Leser in einen ganzen Kosmos ein, spielt mit bei all den Winkelzügen eines ganzen Dorfes. Die Autorin schildert unverblümt. Mag sein, dass den einen gewisse Charakteren überzeichnet erscheinen. Wer aber Dorfleben kennt, und nicht nur jenes in der ehemaligen DDR, weiss, dass Juli Zeh bloss konzentriert und scharf zeichnet. In Film und Theater wäre der Vorwurf der Überzeichnung hinfällig. Warum soll dies ausgerechnet in der Literatur, in diesem Buch das Vergnügen und die Einsichten schmälern.
Der eine Klimawandel stülpt sich über Landschaft, Dorf und Menschen, während der andere Klimawandel, weg von der eigenen Nasenspitze, auch bei den idealverseuchten Zuzügern und verklebten Ewiggestrigen noch längst nicht stattgefunden hat. Die einen hecheln nach Heimat und die anderen haben sie im Laufe ihres Lebens mehrmals verloren.
Juli Zeh schafft ein weitverzweigtes Panoptikum von Archetypen; Meiler der Spekulant, Kron der ewige Krieger, Linda die Pferdeflüsterin, Gerhard der geleuterte Tierschützer, Jule die verzweifelte Mutter, Hilde die verschrobene Alte… Ich tauchte ein und las mich weg. Juli Zeh fesselte mich an ihr Buch und ich liess es gerne geschehen!

«Wenn das Leben der Figuren auf katastrophale Weise schiefgeht, selbst wenn nach allen Regeln der Kunst gequält und gelitten wurde, so besassen Qual und Leiden noch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung.»

Juli Zeh liest am 17. Mai um 20 Uhr im Kaufleuten in Zürich.

Eine ganze Webseite zu allem rund ums Dorf und ihre BewohnerInnen

Webseite der Autorin

Jakob Hein «Kaltes Wasser», Galiani

Es gibt verschiedene Arten, sich dem Schicksal entgegenzustellen. Es hinzunehmen und zu akzeptieren – oder die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, auch mit dem Risiko, dabei ordentlich «auf die Schnauze zu fallen».
Im neuen Roman Jakob Heins, einem echten Schelmenstück, wohl selbst ein Wesenszug des Autors (unbedingt Video schauen!), beginnt Friedrich Bender schon als «Agitator» in der Ostschule, als Sohn eines Professors für Marxismus und Leninismus, die Realität nach seinen eigenen Gesetzen einzufärben, zumal die sozialistische Wirklichkeit in der bröckelnden DDR im trüben Grau Farbe dringend nötig hat. Friedrich ist 17, als die Mauer fällt. Er entschliesst sich gleich, seine Ostidentität an den Nagel der Vergangenheit zu hängen und nicht lange auf mühsam erwarteten und erhofften Erfolg zu warten. Da wird aus einem alten Armeebus eine bierige Goldgrube, aus Din A4 und ein paar Stempeln von weiter weg ein solides Studium in Betriebswirtschaft und später aus dem klingenden Namen des Schwagers und Friedrichs geölter Schnauze eine respektable und florierende Partnervermittlung im gehobenen Segment. Nur lässt sich nicht alles auf Hochglanz schnorren, am wenigsten seine müden Eltern und all das, was Friedrich in weiter Ferne als altes Leben zurückliess.

Jakob Hein, Schriftsteller und Psychiater an der Charité in Berlin, kennt sich aus mit queren Köpfen, solchen wie Friedrich, der durchs Leben taumelt, immer knapp an der Katastrophe vorbei, ein Filou, ein liebenswerter Hochstapler. Ein witziges, lustiges Buch von einem Autor, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt, wohl weiss, dass nur so aus dem Schatten eines «grossen» Vaters (Christoph Hein) zu entfliehen ist. Ich las den Roman mit blankem Spass und dem stillen Bedauern darüber, so gar nichts von der bedenkenlosen Frechheit des Helden abschneiden zu können. Genau das richtige aufs Nachttischchen, auch wenn Bilder in die eigenen Träume geraten sollten.

Jakob Hein, geboren 1971 in Leipzig, lebt mit seiner Familie in Berlin. Seit 1998 Mitglied der »Reformbühne Heim und Welt«. Er hat inzwischen 14 Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011) sowie zuletzt gemeinsam mit Jürgen Witte die Streitschrift Deutsche und Humor. Geschichte einer Feindschaft (2012).

Jakob Hein liest «zehn Seiten».