Lucy Fricke «Die Diplomatin», Claassen

Fred ist deutsche Konsulin, ehrgeizig, taff und eigentlich nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Sie ist beruflich dort, wo sie immer hinwollte, hat das erreicht, wovon sie immer träumte. Aber war es das wirklich? Zu welchem Preis? Lucy Fricke trifft pfeilgenau in das wunde Herz einer Frau, eines Lebens, eines Systems. „Die Diplomatin“ reisst den Vorhang weg!

Fred heisst eigentlich Friederike Andermann. Sie tut das, was bis vor wenigen Jahrzehnten noch fest in Männerhand war; sie ist Diplomatin. Sie studierte, dachte eine Weile, Richterin werden zu wollen, begann dann aber eine Diplomatinnenkarriere im Auswärtigen Amt. Ursprünglich aus der Idee, etwas bewirken, sich einbringen, an etwas Grossem teilhaben zu wollen. Aber diese Idee geriet schon länger ins Wanken. Nicht erst in Uruguays Hauptstadt Montevideo, ihrer ersten Stelle als Botschafterin.

Über Wochen muss sie sich im Hinblick auf das Fest zur Deutschen Einheit Anfang Oktober in Montevideo mit Grillfleisch, Bratwürsten, Gästelisten und anderen Kleinigkeiten herumschlagen. Sicher auch deshalb, weil sie sehen muss, wie andere Frauen Mütter werden und sie einsam. Und als dann noch eine bekannte Verlegerin aus Deutschland anruft und von ihr verlangt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, weil sie seit 24 Stunden keine Nachricht mehr, keinen Post von ihrer Influencertochter erhalten habe und sich das Verschwinden nach ihrem Zögern als eine Entführung entpuppt, wird aus der Enge, in der sie sich fühlt, eine schlammig zähe Masse. Nachdem die junge Frau tot aufgefunden wird, sich das ganze zur Katastrophe mit unabsehbarem Ende auswächst, suhlt sich Fred in Schuldgefühlen, die ihr von niemandem genommen werden können. Bis sie versetzt wird, zuerst zurück nach Deutschland, später in die deutsche Botschaft in Istanbul.

Lucy Fricke «Die Diplomatin», Claassen, 2022, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-546-10005-2

Aber so mondän die Räumlichkeiten und Einrichtungen der dortigen Botschaft sind, die Türkei hat sich unter dem jetzigen Präsidenten zu einem repressiven Staat entwickelt, dessen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, von Völkergemeinschaft und Europa ganz andere sind, als jene, die in Freds Seele noch immer als Idee herumschwirren. Istanbul, eine Stadt, die Fred gleichermassen liebt, fasziniert und überfordert. Wie ihre Arbeit.

Irgendwann taucht Barış (türkisch die ‚Versöhnung’) ein deutsch-türkischer Student auf, der seine Mutter in einem der türkischen Gefängnisse besucht. Jene Mutter geriet wegen Nichtigkeiten ins Visier der türkischen Polizei, wurde verhaftet und ohne Anklage und Verhandlung eingesperrt. In eine überfüllte Zelle, gezeichnet von den Strapazen, von mangelnder medizinischer Betreuung. Barış will seine Mutter frei, will Gerechtigkeit. Aber sein Besuch für die Mutter bringt keine Erleichterung. Auch er wird Ziel des türkischen Sicherheitsapparats, muss untertauchen, sich verstecken. Für Fred beginnt ein heikler Tanz auf Messers Schneide, ein Konflikt, den sie nicht nur auf diplomatischer Ebene verloren sieht, ein Konflikt, der ihr mit schmerzlicher Deutlichkeit zeigt, wie wenig Macht zur Veränderung nicht nur in ihren Händen liegt.

Dass Lucy Fricke ihren Roman zum grössten Teil in der türkischen Hauptstadt spielen lässt, dass sie Istanbul nicht bloss zu einer pittoresken Kulisse macht, dass sie glasklar zeigt, wie die Macht des türkischen Kontrollstaates eine Atmosphäre der Angst und permanenten Bedrohung erzeugt, dass hinter all den Fassaden aus Schein und Lügen Repression herrscht, ist mutig. Ich glaube kaum, dass Lucy Fricke, die mehrere Monate im Land und in dieser Stadt verbrachte, je wieder unbehelligt die Grenze wird überqueren können.

„Die Diplomatin“ ist ein Roman über eine Frau, die mitten in ihrem Leben ernüchtert und desillusioniert feststellen muss, dass jenes Leben, dass sie führt, jener Beruf, in dem sie zu wirken versucht, kaum mehr etwas davon hat, wovon sie einstmals träumte. Hoffnungen sind verschwunden, Leidenschaft erkaltet. Ein Kampf, den alle in ihrem Leben ausfechten müssen, Erkenntnisse, die allen drohen, unabhängig von Geschlecht, Stand oder Beruf. Was bleibt von den Idealen, die man einst wie Leuchtfeuer durch sein Leben trug? Wie schafft man es, dass jenes Feuer nicht erlischt? Auch die Sehnsucht nach Erfüllung und Liebe!

Lucy Frickes Roman ist mutige Literatur!

Interview

Ihr Roman lässt sich in verschiedene „Richtungen“ lesen. Zum einen ist es der Roman über die Ernüchterungen einer Frau, nicht nur in ihrer Arbeit, auch mit ihren Beziehungen, nicht zuletzt mit der Liebe. Und dann ist es auch ein Roman, der sich mit der Diplomatie direkt auseinandersetzt, wie sehr einem die Hände gebunden sind. Aktuell scheint es die Diplomatie noch schwieriger zu haben. Man verhandelt zwar irgendwie, aber im Ukrainekrieg sprechen beide mit einem Vokabular, dass vor 80 Jahren schon einmal Konjunktur hatte und mit Diplomatie rein gar nichts mehr zu tun hat. Ängstigt Sie das auch?
Es ist Angst gepaart mit Ohnmacht, die denkbar schlechteste Kombination. Wir, die wir nicht Macht haben, die grossen Entscheidungen zu treffen, können nur im Kleinen tun, was immer uns möglich ist. Humanitäre Unterstützung in jeder Form. 

Ein grösserer Teil Ihres Romans spielt in der türkischen Hauptstadt, in der Sie mehrere Monate verbracht haben. Eine Stadt, in die man sich genauso verlieben wie verlieren kann. Eine Stadt mit pittoresker Kulisse, fest im Klammergriff eines rigiden Alleinherrschers. Ihr Roman nimmt kein Blatt vor den Mund. Befürchten Sie, in Zukunft nie mehr in die Türkei einreisen zu können?
Nie mehr, das würde ich nicht sagen. Auch dieser Präsident wird nicht ewig an der Macht bleiben. Aber den nächsten Sommer werde ich sicher nicht in Istanbul verbringen, das ist ein kleines Opfer im Vergleich zu dem, was den Figuren im Roman und so vielen Menschen in der Türkei widerfährt. 

Fred fürchtet sich als Diplomatin permanent vor Fehleinschätzungen. Eine Furcht, die auch mich zuweilen lähmt. Wer weiss schon, welche Entscheidung die richtige ist. Diese Furcht schleicht sich bis in ihre Gefühlswelt, wenn sie nicht weiss, ob sie ihnen trauen kann. Mein Schwiegervater war ein Leben lang Bauer. Er meinte einmal, als ich mit ihm auf dem Feld bei der Aussaat mitfuhr, nichts garantiere ihm eine gute Ernte. Haben wir Instinkt und Urvertrauen verloren?
Vielleicht sind wir generell vorsichtiger geworden, oder auch umsichtiger. Meine Hauptfigur Fred hat dazu jeden Grund, ihre Entscheidungen und Einschätzungen betreffen das Leben anderer direkt. Das ist ein Fakt und kein Gefühl. Vertrauen ist schwierig, wenn Gespräche abgehört werden, Überwachung und Geheimdienst allgegenwärtig sind. Sie ist in ihrer Position einsam geworden, wie es oft einsam ist an der Spitze. Sie kann nie wissen, ob sich ihr Gegenüber für sie oder für ihre Funktion interessiert. Bevor sie Entscheidungen trifft, sammelt sie Informationen, sie muss permanent die politischen und menschlichen Konsequenzen ihres Tuns bedenken. Eine Diplomatin sollte nicht in erster Linie ihrem Instinkt vertrauen, aber sie darf in ihn auch nicht verlieren. Darin liegt eine grosse Herausforderung.  

Die Gefängnisse auf der ganzen Welt sind mit Menschen gefüllt, die zu unrecht eingesperrt sind. Meist sind wir im scheinbar kultivierten Westen gezwungen, dies zähneknirschend hinzunehmen, auch wenn Unrecht und Willkür offensichtlich sind. Sie nehmen ein Schicksal stellvertretend in ihren Roman. Ein Schicksal, das ein „gutes“ Ende findet. Hätte es nicht ebenso viele Gründe gegeben, die „Befreiung“ scheitern zu lassen?
Noch vor dem ersten Satz war mir klar, dass dieses Buch mit Hoffnung enden wird. Hoffnung, die daraus entsteht, dass Menschen sich engagieren. Denn daran glaube ich, und es hat mich wirklich glücklich gemacht, während meiner Recherche solchen Menschen zu begegnen. Anwälte, Künstlerinnen, Journalisten und eben auch Diplomatinnen, die nicht aufhören zu kämpfen. Irgendwann kommt immer ein Sieg dabei heraus, und auch wenn es nur ein einzelner sein mag, ist dieser eine alles wert.  

Hat Fred den Glauben an die Wirkung ihres Handelns nicht verloren? Und glauben Sie an eine positive Wirkung der Literatur?
Ich habe neulich gehört, dass mein Roman, in Verbindung mit Briefen an das Gericht, dazu beigetragen haben könnte, die drohende Abschiebung eines kurdischen Paares zurück in die Türkei zu verhindern. Sie wären nach ihrer Einreise dort direkt inhaftiert worden. Im besten Fall ist es so, dass Literatur den Blick auf die Welt oder auf einzelne Schicksale verändert und schärft. Wenn man sich mit diesem Anspruch ans Schreiben macht, hat man, glaube ich, einen guten Kompass für seine Arbeit.  

Lucy Fricke wurde in Hamburg geboren und lebt in Berlin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt war sie Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Ihr Roman «Töchter» erhielt 2018 den Bayerischen Buchpreis, wurde in acht Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt.

Beitragsbilder © Gerald von Foris

Lucy Fricke „Töchter“, Rowohlt

Ein literarisches Roadmovie, eine Geschichte um unberechenbare Väter und Töchter, denen es schwer fällt, sich von diesen zu emanzipieren. Lucy Fricke erzählt gekonnt, webt in einzelne Szenen gleichermassen viel Leben und Theatralik ein, dass man diese noch einmal und noch einmal lesen will.

«Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um meine Eltern zu retten.»

Marthas Vater hatte drei Jahrzehnte lang gefehlt, war nie da, als sie ihn gebraucht hätte. Und nun will er, dass Martha ihn, den Todkranken, zum Sterben in die Schweiz begleitet. Betty, ihre Freundin, glaubt, ihr Vater sei tot, irgendwo in Italien begraben. Aber vielleicht auch nicht. Betty, Martha und Marthas Vater Kurt fahren im Auto los. Zwei Freundinnen, die sich schon Jahrzehnte kennen und Kurt, der Todkranke auf der Rückbank, der sein Leben kommentiert.

«Im Notfall brauchst du keine Freunde. Im Notfall brauchst du einen guten Arzt oder einen Anwalt. Freunde brauchst du für die guten Zeiten, die schlechten schaffst du auch allein. Für das Glück brauchst du Freunde. Wer kann denn alleine feiern? Das Glück kannst du teilen, aber nicht das Leid. Das Leid wird immer nur verdoppelt.»

Aber bald wird klar, dass Kurt Sterbewunsch nur Vorschub leisten sollte für seinen eigentlichen Plan, den die beiden Frauen und schon gar nicht seine Tochter gutgeheissen hätten, für den Martha und Betty nie mit ihm in sein Auto gesessen wären. Kurt will nach Stresa in Italien. In Stresa lebt Francesca. Francesca habe sich letzthin wieder gemeldet, eine alte Liebe. «Ich lasse dich kein zweites Mal allein», habe sie gemeint.
Nach dieser Offenbarung steht das Auto irgendwo am Strassenrand stehen, Warnblinker sind an. Die Situation droht zu eskalieren. So reiten Väter ihre Töchter und Söhne in Situationen, aus denen man nicht ohne sie zurückfindet. «Zum Sterben fährst du mich, aber zum Lieben hättest du mich niemals gefahren.»

Die Reise im Auto wird zur Tortur im Faradayschen Käfig, aufgeladen mit Emotionen, die sich nicht erden können. Betty deponiert ihren wieder erstarkten Vater in Stresa. Und weil man nun schon einmal in Italien ist, geht die Fahrt weiter nach Bellegra, einem kleinen Nest nicht weit von Rom, wo auf dem Friedhof Bettys Vater Ernesto liegen soll, «eine Liebe, die keine Verbindung mehr hatte». Ernesto hatte sich in seinem Musikerleben vor langer Zeit abgesetzt. Ein Umstand, der nichts klärte und nur immer wieder Spekulationen aufkochen liess. Betty will nun endlich Klarheit, auch darüber, ob unter der Grabplatte auf dem Friedhof wirklich ihr Vater liegt.

«Ich wollte spucken auf mich, die ich zu lange geglaubt hatte, es sei nicht möglich, sich von seiner eigenen Geschichte zu befreien.»

«Töchter» ist ein Buch über Väter. Die Geschichte zweier Frauen, die sich von der emotionalen Dominanz ihrer Väter zu befreien versuchen. «Unsere Väter waren nicht verlässlich, je mehr wir von ihnen erfuhren, desto weniger wussten wir.» Ein Buch über Freundschaft, eine Frauenfreundschaft, die auszuhalten versucht, was man alleine nie durchstehen würde. Ein Roadtrip von Deutschland durch die Schweiz und Italien bis nach Griechenland. Die Suche zweier Frauen nach Gewissheit und Klarheit bis auf eine kleine Insel mitten auf dem Meer. So wie sich Betty auf dem Trip von ihrer Abhängigkeit von Antidepressiva zu befreien versucht, so ist die turbulente Reise eine Befreiung von Lügen. Und nicht zuletzt ist «Töchter» ein freches Buch über den Sehnsuchtsort Italien.

«Italien macht dich pathetisch, behauptete Martha. Womit sie recht hatte. Dieses Land kitzelte am Drama, und dafür war ich empfänglich.»

Überzeugend am Roman aber ist viel mehr als bloss die Story, die immer wieder Haken schlägt. Es ist das Ausbleiben plumper Psychologie, das Aufblitzen von Groteske und Witz, die Tatsache, dass Lucy Friede die Geschichte nie nur in die Nähe von Sentimentalität abrutschen lässt. Es sind die sprachliche «Schamlosigkeit», entlarvende Ehrlichkeit, erfrischende Frechheit und die überraschende Tiefe, die mich überzeugen. Nach der Lektüre ist Lucy Frickes Buch voll mit Bleistiftmarkierungen und Stellen, die ich noch einmal lesen möchte. Als wolle man den Teller blank lecken!

Ein Interview mit Lucy Fricke:

Viele werden irgendwann Mutter oder Vater. Und so wie jedes Mutter- oder Vaterwerden eine Emanzipation vom Tochter- und Sohnsein ist, gelingt dieses Werden ganz offensichtlich oft nicht ohne Kampf. Ihr Roman bietet ganz viele Lesarten, aber die Emanzipationsgeschichte von Vätern scheint zentral. Für alles braucht man einen Fähigkeitsausweis, für jede Verantwortung eine Prüfung. Nur nicht als Vater oder Mutter. Sind wir als Töchter und Söhne verurteilt?
Ich finde es spannend, wie sich dieses Verhältnis verändern kann, wie sich Abhängigkeiten und Bedürfnisse ändern, manchmal auch umkehren. 
Nichtsdestotrotz ist eine Befreiung notwendig. Wir bleiben immer die Kinder unserer Eltern und es ist erstaunlich, wie schwer es fallen kann, sich damit abzufinden. Man lernt das Mutter- und Vatersein, indem man es ist. Je älter ich werde, desto besser verstehe ich meine Eltern. Es erscheint mir unmöglich, ein Kind zu erziehen, ohne dabei Fehler zu machen. Wir alle verbocken so viel, haben schon so vieles erlebt, was uns vielleicht zu schwierigen Charakteren macht. Das verändert sich eben mit dem Alter, man sieht seine Mutter als Frau, den Vater als Mann, man kann seine eigenen Eltern endlich aus verschiedenen Perspektiven wahrnehmen und erkennen. Und damit auch nahezu alles verzeihen. 

Es gibt in ihrem Roman so viele Textstellen, die in vielerlei Hinsicht aufblitzen. Sei es Weisheit, Frechheit, Groteske, Humor, Überraschung. Ganz offensichtlich liegt Ihnen weit mehr daran, als bloss eine spannende Geschichte zu erzählen. Was treibt Sie beim Schreiben?
Das klingt pathetisch, aber mich treibt die Suche nach einer Wahrhaftigkeit. Keine Klischees, keine Filter, kein Schönreden. Der Humor ist bei der Suche nach Wahrheit äußerst hilfreich. Wenn ich, wie jetzt, wochenlang nicht schreibe, dann merke ich zudem, wie sehr das Schreiben mir Halt gibt, mich regelrecht zusammen und aufrecht hält. 

„Töchter“ ist eine Geschichte über Freundschaft. Martha und Betty erleben gemeinsam eine Berg- und Talfahrt weit weg vom Alltag. Betty muss vom Schicksal gezwungen werden, Martha wühlt schon ein Leben lang. Zwei Archetypen im Umgang mit der Vergangenheit. Wer „Frieden“ finden will, muss sich stellen. Ganz offensichtlich eine Eigenschaft, die unserer Gesellschaft im breiter abzugehen scheint. „Töchter“ ist auch ein Sehnsuchtsroman; Sehnsucht nach Klarheit, Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft, Sehnsucht nach „Italien“. Spiegeln sich darin Ihre Sehnsüchte?

Das sind universelle Sehnsüchte, denke ich. Italien jetzt mal ausgenommen. Freundschaft ist definitiv das Beste im Leben, nach der Klarheit, nach der Liebe.
Eine weitere Sehnsucht im Roman ist die nach dem Unterwegs-Sein. Dieses Immer-weiter-fahren, immer-weiter-suchen. Ich habe seltsamerweise noch nie eine Sehnsucht nach dem Ankommen verspürt. 

Michael Köhlmeier prügelte mit seiner Rede zum Holocaust-Gedenken in Wien den Umgang mit Geschichte, die Politik gegenüber Flüchtlingen. Wir leben nicht in einer Gesellschaft, die sich der Geschichte, der Wirklichkeit stellt. Je näher wir uns an den Rändern der Katastrophen bewegen, desto deutlicher verschliessen wir Augen, Ohren und Münder. Martha und Betty stellen sich, mehr oder weniger gezwungen. Wir treten ja nicht einmal am Ort, wenn wir uns der Vergangenheit entziehen. Warum verlangt man von den SchriftstellerInnen mehr, als dass sie nur unterhalten?

Gute Frage. Die stelle ich mir auch oft. Ich halte es für ein Missverständnis, dass SchriftstellerInnen mehr vom Leben und der Welt wissen als andere. Wir sind genauso ahnungslos wie der Rest. Wir denken bloß mehr nach, das ist unser Job, wir ringen härter um eine Haltung. Wir geben unser Bestes, aber klüger sind wir nicht.

Verraten Sie mir, was sie lesen und warum Sie es lesen?

Ich hatte jetzt endlich Zeit für“ 2666″ von Roberto Bolaño. Das gehört wohl zum Besten, was ich je gelesen habe. Wild, frei und überbordend. Auf ungemein kunstvolle Art scheint er außer Kontrolle zu sein. Eine Phantasie zum Niederknien. Das ist ein grenzenloser Roman, der in so einem deutschen Schriftstellerinnen-Hirn einiges umwälzt und freisetzt, besonders was das eigene Schreiben betrifft. 
Ansonsten lese ich immer wieder Richard Ford. Den Mann finde ich nun wirklich klug.
Vielen Dank!

Lucy Fricke, 1974 in Hamburg geboren, wurde für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet; zuletzt war sie Stipendiatin der Deutschen Akademie Rom und im Ledig House, New York. Nach «Durst ist schlimmer als Heimweh», «Ich habe Freunde mitgebracht «und «Takeshis Haut» ist dies ihr vierter Roman. Seit 2010 veranstaltet Lucy Fricke HAM.LIT, das erste Hamburger Festival für junge Literatur und Musik. Sie lebt in Berlin.

Titelfoto: Sandra Kottonau