J. M. Coetzee «Der Pole», S. Fischer – Sprachsalz Kufstein

Ein alt gewordener Maestro, dessen Chopin-Interpretationen den Pianisten berühmt machten, wird nach Barcelona an ein Konzert eingeladen. Zwischen Beatriz in den Mitvierzigern, Mitorganisatorin und Ehefrau eines Bankiers, und ihm entfacht eine Beziehung aus gnädiger Zuwendung und leidenschaftlicher Liebe. Der Nobelpreisträger überrascht mit einer «Künstlernovelle», die zwischen Befremden und Faszination pendelt.

Der Pole hätte einen Namen. Witold Walczykiewicz. Aber weil ihn niemand in dem gediegenen Kreis, in der Sala Mompou in Barcelona aussprechen kann, nennen ihn alle nur den Polen. Witold Walczykiewicz ist Pianist, eingeladen nach Barcelona, um ein Konzert zu geben, einer der bekanntesten Chopininterpreten, auch wenn er mit seinen 70 Jahren seinen Zenit wahrscheinlich schon überschritten hat. Man beauftragt die Mitorganisatorin Beatriz, sich dem Pianisten anzunehmen, mit ihm nach dem Konzert den Abend mit einem Essen zu beschliessen. Beatriz ist sich nicht sicher, was sie von dem Auftrag halten soll, erst recht nicht, weil sich schon vom ersten Moment an, selbst während des Konzerts, ein seltsames Gefühl der Distanziertheit dem um eine Generation älteren Künstler einschleicht.

Der Pole erweist sich als galant, wenn auch etwas hölzern, was auch daran liegt, dass er die einzig gemeinsame Sprache, das Englische, bei weitem nicht so gut beherrscht wie Beatriz. Beatriz spürt, dass ihr Gegenüber weit mehr in dem Zusammentreffen sieht als sie selbst. Aber man verabschiedet sich höflich. Wenig später treffen immer wieder Nachrichten ein. Nach etlichen sprachlichen Umgarnungen, auf die Beatriz meist nicht einmal antwortet, schreibt Witbold: Sie beschützen mich. Ich spüre Frieden in mir. Ich sage zu mir, ich muss sie finden, sie ist mein Schicksal. Eine Nachricht, die sie gleichermassen verunsichert wie schmeichelt und betört. Sätze, die in ihrer erkalteten Ehe Lichtjahre entfernt liegen, die mehr Resonanz finden, als ihr lieb ist, versucht sie doch mit allen Mitteln, Witolds Begehren kleinzureden.

J.M. Coetzee «Der Pole», S. Fischer, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, 2023, 144 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-10-397501-7

Aber als Witold sie einlädt, sie nach Brasilien mit auf seine Konzerttour zu begleiten und ihr Mann, nachdem sie diesem vom Ansinnen des Pianisten erzählt, dem nur wenig Beachtung zu schenken scheint, bricht sie vorerst den Kontakt ab, bis sie den Künstler dann doch in die Finca ihres Mannes auf Mallorca einlädt, auf neutrales Terrain, in ein Anwesen mit einem Nebengebäude, in das sie den Gast einquartiert. Das seltsame Gefühl der Verunsicherung, des Misstrauens dem um mehr als 20 Jahre älteren Besuch bleibt, auch wenn dieser zurückhaltend bleibt. Aber an einem der Abende, sie essen gemeinsam in der Finca, sagt Beatriz: Ich werde die Hintertür nicht abschliessen. Wenn du dich einsam fühlst in der Nacht und einen Besuch machen willst, bitte. Es werden vier Nächte, die sie gemeinsam verbringen. Nächte in bedeckter Leidenschaft. Nächte, die für Witold alles bedeuten und für Beatriz nur Gabe sind. Beatriz macht nach der letzten Nacht Schluss, kühl und unmissverständlich. Witold reist ab und die beiden sehen sich nie wieder. Es treffen zwar noch immer Nachrichten ein, die Beatriz aber meistens nicht einmal liest.

Jahre später erreicht sie die Nachricht, Witold Walczykiewicz sei nach langer Krankheit in Polen, in seiner Heimatstadt Warschau gestorben. Telefonisch erfährt sie von dessen Tochter, dass in der Wohnung ein Karton auf sie warte, eine Hinterlassenschaft. Und weil sich die Überführung dieses Kartons komplizierter erweist als angenommen, reist Beatriz nach Polen, lässt sich die Wohnungstür öffnen und findet einen Karton mit einem Manuskript. Fast hundert Gedichte und Begleittext. Beatriz verbringt eine Nacht in der kalten, überraschend einfach eingerichteten Wohnung des Verstorbenen und beschliesst die Gedichte übersetzen zu lassen. Liebesgedichte an sie, leidenschaftliche Anbetungen an eine Liebe, die so nicht sein konnte. 

Beatriz fühlt sich vom Umstand, dass da ein Mann war, der seine letzte Lebenszeit an den Tasten einer Schreibmaschine verbrachte und stets sie vor Augen hatte, mit eigenartigem Befremden und einem Glück, das sie verunsichert. Als Witold lebte, erbarmte sie sich seiner, gab ihm, was er begehrte, auch seinen Tod scheint das Schicksal Beatriz viel tiefer zu bewegen, bis hin zu einem seltsamen Gefühl des Glücks.

„Der Pole“ ist ein seltsames, überraschendes Buch, vor allem dann, wenn man schon mehr von J.M. Coetzee gelesen hat. Aufgegliedert in kurze, durchnummerierte Texte, bleibt was geschieht in einem eigenartig kühlen Licht. „Der Pole“ ist keine Liebesgeschichte, weil sie aus der Sicht der Katalanin geschrieben ist und einem der alte Mann während des Lesens eigentlich bloss Leid tut. Beatriz mag seine Chopininterpretationen nicht, sie mag sein Auftreten nicht, seinen alten Körper, nicht einmal seine Gedichte, seinen ganz persönlichen, leidenschaftlichen Nachlass. Und trotzdem gab sie ihm Anlass genug zu glauben, sie wäre der angestrebte „Frieden“ in seinem Leben. Man mag Beatriz nicht während des Lesens, man versteht sie nicht einmal, so wenig wie sie sich selbst.

„Der Pole“ ist ein kurzer, konzentrierter, äusserst raffiniert komponierter Roman, der mich mit einer guten Portion Ratlosigkeit zurücklässt, die den Roman nachhaltig macht.

J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren wurde und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für «Leben und Zeit des Michael K.» und 1999 für «Schande». 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.

Reinhild Böhnke wurde 1944 in Bautzen geboren und ist als literarische Übersetzerin in Leipzig tätig. Sie ist Mitbegründerin des sächsischen Übersetzervereins. Seit 1998 überträgt sie die Werke J. M. Coetzees ins Deutsche, ausserdem hat sie u.a. Werke von Margaret Atwood, Nuruddin Farah, D.H. Lawrence und Mark Twain ins Deutsche übertragen.

Beitragsbild © Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif

Douglas Stuart „Young Mungo“, Hanser Berlin – Sprachsalz Kufstein

Der heilige Mungo ist Schutzpatron einer Kathedrale in der schottischen Stadt Glasgow. Aber die Heiligen scheinen Glasgow vergessen zu haben. Im zweiten Roman des in Glasgow aufgewachsenen Autors Douglas Stuart stemmt sich der nicht einmal 16jährige Mungo gegen grassierende Gewalt, toxische Männlichkeit und selbstzerstörerische Ausweglosigkeit.

In den 1970er und 1980er Jahren wurden in der Arbeiterstadt Glasgow eine ganze Reihe Minen und Fabriken geschlossen. Eine ganze Stadt rutschte in Massenarbeitslosigkeit. Noch heute gilt Glasgow als eine jener Städte mit massiver Jugendkriminalität und überdurchschnittlich hohem Drogenkonsum. In Douglas Stuarts preisgekrönten Debüt „Shuggie Bain“ war dieses düstere Szenario schon einmal Kulisse für einen Roman, der zwischen Zartheit und Brutalität hin- und herpendelte.

Mungos Mutter ertrinkt in ihrer Alkoholsucht und schnappt nach den Resten eines Lebenstraums. Nichts ist geblieben nach einer frühen Ehe, drei Kindern, dem Tod des Mannes, bevor Mungo, der Jüngste, zur Welt gekommen war und der Aussichtslosigkeit, der Familie den erhofften Halt geben zu können. Hamish, der älteste, gibt den Ton in seiner Gang ein, vertickt Drogen und lechzt dauernd nach der nächsten Konfrontation mit den verfeindeten Gangs, den Katholiken, wilden Gewaltorgien, bei denen keine Regeln gelten und man bis zum Äussersten geht. Mungos Schwester Jodie versucht ihrem jüngeren Bruder das zu geben, was die meist abwesende Mutter längst vergessen hat, ein Nest, ein bisschen Wärme, in all der Grobheit etwas Zärtlichleit. Die Mutter nicht da und wenn doch im Suff, der Bruder in Sorge, dass aus Mungo kein richtiger Mann werden würde, denn alle um Mungo herum spüren, sehen und wissen, dass der grosse Junge mit dem tiefen Blick und den schmalen Händen anders ist als die meisten anderen.

Douglas Stuart «Young Mungo», Hanser Berlin, 2023, übersetzt aus dem Englischen von Sophie Zeitz, 416 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-446-27582-9

Mungo lernt James kennen, einen Jungen aus der Nachbarschaft, Halbwaise wie er. Aber James ist Katholik, kaum ein Steinwurf von ihm weg und doch in einer anderen Welt. James eigentliches Zuhause ist ein Taubenschlag auf dem Dach seines Hauses, den er einst, nach dem Tod seiner Mutter, zusammen mit seinem Vater gebaut hatte. Zwischen Mungo und James wächst eine Schicksalsgemeinschaft. Zum einen, weil sie beide hoffen, dereinst diesen Ort verlassen zu können. Zum andern, weil sie spüren, dass zwischen ihnen etwas zu wachsen beginnt, eine Liebe, ein Begehren, dass dort nicht sein kann und darf.

Mungo hat in seiner Welt keinen Platz. Auf einem Ausflug, zu dem man ihn mehr zwingt als drängt, zusammen mit zwei zwielichtigen Gestalten, wird Mungo nicht bloss aufs Übelste missbraucht und in eine ausweglose Rolle gezwängt, sondern in Situationen manövriert, die ihn zu dem zwingen, was ihm eigentlich widerstrebt, woraus er sich halten will, nicht zuletzt darum, weil ihm sein Freund James unmissverständlich zu spüren gibt, dass es eine gemeinsame Zukunft nur dann gibt, wenn er aus dem scheinbar Vorgegebenen, Unausweichlichen aussteigt.

Am Schluss des Romans kehrt Mungo abgekämpft, blutverschmiert und verwundet in seine Strasse zurück in ein Leben ohne Hoffnung und Perspektive. „Young Mungo“ liest sich nicht leicht. Eine beinah dystopische Welt, die aber in den 80ern spielt, in einer Stadt, die den Menschen die Zukunft genommen hat, in einer Gesellschaft aus Gewalt und verbaler Gewalt, einer Welt, in der es keine Entscheidungen mehr gibt nur den von den Zwängen des Überlebens vorgezeichneten Pfad. Der Roman lebt von Gegensätzen, dort die Momente des Friedens zwischen Mungo und seiner Schwester Jodie oder die Zartheit in den zaghaften Zärtlichkeiten zwischen Mungo und seinem neuen Freund James. Dort die Entgleisungen der Mutter, die Gewalt in verkommenen Mietskasernen, die Schlachtzüge der verfeindeten Gangs, die Vorstellungen dessen, was Männer und Frauen sein müssen.

Was an Liebe und Zärtlichkeit in einem stinkenden Meer aus roher Gewalt und tiefem Hass schwimmt, reicht nicht aus, um sich zu befreien. „Young Mungo“ ist von shakespearescher Kraft und apokalyptischer Intensität.

Douglas Stuart, geboren und aufgewachsen in Glasgow, studierte am Royal College of Art in London. Nach seinem Abschluss zog er nach New York, wo er als Modedesigner arbeitete. Für seinen ersten Roman, Shuggie Bain, der in 40 Ländern erschien und zum Weltbestseller wurde, erhielt er den Booker Preis 2020. «Young Mungo» (2023) ist sein zweiter Roman.

Sophie Zeitz, 1972 geboren, lebt in Berlin. Sie übersetzt aus dem Englischen, u. a. Werke von Henry David Thoreau, Joseph Conrad, John Green und Marina Lewycka und ist dafür mehrfach ausgezeichnet worden.

Beitragsbild © Clive Smith