Sprachsalz – Internationale Tiroler Literaturtage in Kufstein

Vom 12. bis 14. September 2025 wird Kufstein erneut zum Zentrum internationaler Gegenwartsliteratur. Die 23. Ausgabe des Literaturfestivals Sprachsalz bringt Autor*innen aus Japan, Italien, Norwegen, Russland, Deutschland, der Schweiz, Großbritannien und Österreich zusammen – mit Texten über Herkunft und Verlust, über Körper und Krieg, über Kindheit und Diktatur. In ihren Büchern spiegeln sich persönliche Schicksale und politische Abgründe, poetische Grenzgänge und erzählerische Wucht.

Zu den Höhepunkten zählt die deutschsprachige Buchpremiere der gefeierten japanischen Autorin Mieko Kawakami oder der Auftritt des vielbeachteten norwegischen Autors Johan Harstad mit seinen 1000-Seiten-Romanen. Franz Hohler bringt seine zeitlosen Alltagsbeobachtungen mit und liest auch für Kinder. Viktor Jerofejew erzählt über Despoten, Yannic Han Biao Federer vom Erinnern in einer zerrissenen Welt, Dacia Maraini von ihrer Kindheit im Internierungslager. Eric Goulden / Wreckless Eric und Hanspeter Düsi Künzler führen in das London der Pubs, Musik und Marginalität. Der Büchner-Preisträger Durs Grünbein stellt in seinem aktuellen Roman die Frage, was die Diktatur aus Menschen macht, und liest natürlich auch aus seinen Gedichtbänden.

Die Lyrik ist 2025 stark vertreten – durch Stephan Tikatsch, Ulrike Draesner, in der Doppelrolle als Lyrikerin und Romanautorin, und Marco Kerler, der während des Festivals auf Bestellung Gedichte für die Besucher*innen schreibt.

Am Samstagabend steht der große Saal des Kultur Quartiers wie stets im Zeichen von Literatur und Kulinarik: Der traditionelle Sprachsalz-Festabend vereint herausragende Literatur mit einem mehrgängigen Menü. Hauptact ist in diesem Jahr die Autorin Mieko Kawakami, die aus ihrem neuen Roman «Das gelbe Haus” liest – ein kraftvoller Text über Körper, Herkunft und Widerstand. Serviert wird ein sorgfältig komponiertes Essen, zubereitet von der vielfach beachteten Küche des Restaurants Alpenrose Kufstein (nur mit Reservierung).

Sprachsalz bleibt seinen Prinzipien treu: eintrittsfrei und interkontinental. Ob Debüt oder Weltliteratur – das Programm ist handverlesen, neugierig und offen.  Die Übersetzungen von fremdsprachigen Texten werden von bewährten deutschen Stimmen vorgelesen, so etwa der Schauspielerin Brigitte Zeh, Regisseur und Schauspieler Ernst Gossner als auch erstmalig vom Münchner Schauspieler Jürgen Tonkel.

Alle Autor*innen beim Festival 2025:

Ulrike Draesner (Deutschland)
Sprachmächtige Erzählerin, Lyrikerin und Essayistin. In «Die Verwandelten» folgt sie den Spuren weiblicher Erinnerung und historischer Gewalt. Literarisch kühn und mit analytischer Präzision.
Mich interessiert die Verbindung von Sprache und Körperlichkeit. (aus: Interview mit Deutschlandfunk Kultur, 2022)

Yannic Han Biao Federer (Deutschland)
Seine raffiniert konstruierten Romane kreisen um Herkunft, Verlust und Trauer. In «Für immer seh ich dich wieder» verarbeitet er autofiktional einen Verlust, der eigentlich nicht zu fassen ist: den Tod seines ungeborenen Sohnes.
Ich gehe hinunter, und da, wo das Schwarz beginnt, wo ich das Wasser vermute, rührt sich nichts […] als könnte das Schwarz aus seinem Bett steigen und mich hineinziehen. aus: «Tao»)

Eric Goulden / Wreckless Eric (Großbritannien)
Musiker, Singer-Songwriter und Autor. In seiner Autobiografie schildert er mit wütendem Humor vom Überleben im Musikgeschäft, von Euphorie und von Abstürzen.
Ich war mir nicht sicher, wie ich aufhören sollte, aber jemand sagte zu mir: Du musst einfach stoppen. (aus: «A Dysfunctional Success – The Wreckless Eric Manual»)

Durs Grünbein (Deutschland)
Einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller. Präzise und mit melancholischem Ton verbinden seine Gedichte Wissenschaft, Geschichte und Wahrnehmung. In Kufstein wird er außerdem aus seinem aktuellen Roman «Der Komet» lesen.
Wenn ich mich recht entsinne, fing bei mir alles mit einem Geräusch an, einem keineswegs harmlosen Geräusch, eher schon einer akustischen Irritation. (aus: «Vom Stellenwert der Worte»)

Johan Harstad (Norwegen)
Mit «Max, Mischa & die Tet-Offensive» und «Unter dem Pflaster liegt der Strand» wurde er zur internationalen Stimme der Überforderung. Welt- und zeitumspannende Romane sind sein Markenzeichen, wahrhafte Großformate mit Tiefgang.
Es gibt keine Helden, es gibt nur Leute, die sich abmühen, Leute, die versuchen ihr Bestes zu geben. (Aus: «Max, Mischa & die Tet-Offensive»)

Franz Hohler (Schweiz)
Schriftsteller für Groß und Klein, Kabarettist, Wanderer. Seine Texte über den Aberwitz des Alltags, aber auch Romane und Kinderverse sind seit Jahren Kult – auch auf der Bühne.
Jetzt mache ich ein Jahr lang Auftritte und schreibe […] und dieses Jahr dauert bis heute. (aus: Interview mit Blick)

Viktor Jerofejew (Russland/Deutschland)
Einer der wichtigsten russischen Autoren im Exil. In «Der große Gopnik» beschreibt er das heutige Russland als düsteres Märchenland in Auflösung, beherrscht durch den «Gopnik», eine Figur, deren Namen im Deutschen ungefähr so viel bedeutet wie «rowdyhafter Hinterhofproll»
Bisher war Dummheit ein rührendes Phänomen […] jetzt hat sie etwas tödlich Toxisches angenommen. (aus: «Der große Gopnik»)

Mieko Kawakami (Japan)
Radikal sanft, gesellschaftlich hellsichtig und poetisch – Kawakamis Literatur gibt jenen eine Stimme, die selten gehört werden. In Kufstein stellt sie exklusiv ihren neuen Roman in deutscher Übersetzung vor (Katja Busson).
Wir sagen oft, der Tod sei endgültig, aber ich kann mir nicht helfen, die Geburt ist es auch. (aus: Interview mit The Guardian)

Marco Kerler (Deutschland)
Der Dichter wird mit seiner Schreibmaschine während des Festivals allen, die mögen, ein Gedicht schenken. Frisch getippt und auf Zuruf: Ein Gedicht für Dich. und ein Festivalmoment, der bleibt.

Hanspeter Düsi Künzler (Schweiz)
Popchronist, Musikjournalist, Erzähler: In «Das Wetter zwischen Jukebox und Theke» fängt er das Leben am Rand ein – poetisch, tief, mit Nikotin und Soul.
Sonntagmorgen. Die Kneipe war voll, der Zigarettenrauch hing tief. (aus: «Das Wetter zwischen Jukebox und Theke»)

Dacia Maraini (Italien)
Eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Italiens. In «Ein halber Löffel Reis» erzählt sie ihre Kindheit im japanischen Internierungslager – erschütternd und hell zugleich.
Um sich zu erinnern, ist es nötig, die eigene Vergangenheit zu lieben und daher auch sich selbst. (aus: «Die Blonde, die Brünette und der Esel»)

Matthias Schönweger (Italien)
Aktionskünstler, Sprachjongleur, Literaturperformer. Sein Leben ist Kunst, Kunst ist sein Leben und seine Auftritte jedes Mal ein Ereignis. Sprachsalz zeigt den Film «MENSCH, msch!», der Einblicke in sein Schaffen, seine Archive und seine Denkbewegungen gewährt. Matthias Schönweger ergänzt mit einer seiner legendären Performances.
Frischer Wind kam auf / Das Blatt / hat sich gewendet / ohne mein Zutun. (aus: «Gebucht. Teil 2»)

Stephan Tikatsch (Österreich)
Lyriker, Herausgeber, Wortschöpfer. Zwischen Slapstick und Sprachkritik, ein sorgsamer Wörterfabrikant und Vokabeljongleur.
Vorher war alles normal / Dass ich nicht lache / Und nie laut. (aus: «Dyspujaka»)

Erika Wimmer Mazohl (Österreich)
Die Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und bildende Künstlerin entwirft in ihrem Roman «Wolfs Tochter» ein mehrperspektivisches und poetisches Porträt über das Leben der Friedensaktivistin Erika Dannebergs, über Erinnerung, Widerstand und weibliche Selbstbehauptung.
Die Schneebotinnen flüstern es ihr zu: Der nächste Tag wird einen neuen Glanz in ihr Leben bringen […] (aus: «Wolfs Tochter»)

(Pressetext)

J. M. Coetzee «Der Pole», S. Fischer – Sprachsalz Kufstein

Ein alt gewordener Maestro, dessen Chopin-Interpretationen den Pianisten berühmt machten, wird nach Barcelona an ein Konzert eingeladen. Zwischen Beatriz in den Mitvierzigern, Mitorganisatorin und Ehefrau eines Bankiers, und ihm entfacht eine Beziehung aus gnädiger Zuwendung und leidenschaftlicher Liebe. Der Nobelpreisträger überrascht mit einer «Künstlernovelle», die zwischen Befremden und Faszination pendelt.

Der Pole hätte einen Namen. Witold Walczykiewicz. Aber weil ihn niemand in dem gediegenen Kreis, in der Sala Mompou in Barcelona aussprechen kann, nennen ihn alle nur den Polen. Witold Walczykiewicz ist Pianist, eingeladen nach Barcelona, um ein Konzert zu geben, einer der bekanntesten Chopininterpreten, auch wenn er mit seinen 70 Jahren seinen Zenit wahrscheinlich schon überschritten hat. Man beauftragt die Mitorganisatorin Beatriz, sich dem Pianisten anzunehmen, mit ihm nach dem Konzert den Abend mit einem Essen zu beschliessen. Beatriz ist sich nicht sicher, was sie von dem Auftrag halten soll, erst recht nicht, weil sich schon vom ersten Moment an, selbst während des Konzerts, ein seltsames Gefühl der Distanziertheit dem um eine Generation älteren Künstler einschleicht.

Der Pole erweist sich als galant, wenn auch etwas hölzern, was auch daran liegt, dass er die einzig gemeinsame Sprache, das Englische, bei weitem nicht so gut beherrscht wie Beatriz. Beatriz spürt, dass ihr Gegenüber weit mehr in dem Zusammentreffen sieht als sie selbst. Aber man verabschiedet sich höflich. Wenig später treffen immer wieder Nachrichten ein. Nach etlichen sprachlichen Umgarnungen, auf die Beatriz meist nicht einmal antwortet, schreibt Witbold: Sie beschützen mich. Ich spüre Frieden in mir. Ich sage zu mir, ich muss sie finden, sie ist mein Schicksal. Eine Nachricht, die sie gleichermassen verunsichert wie schmeichelt und betört. Sätze, die in ihrer erkalteten Ehe Lichtjahre entfernt liegen, die mehr Resonanz finden, als ihr lieb ist, versucht sie doch mit allen Mitteln, Witolds Begehren kleinzureden.

J.M. Coetzee «Der Pole», S. Fischer, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, 2023, 144 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-10-397501-7

Aber als Witold sie einlädt, sie nach Brasilien mit auf seine Konzerttour zu begleiten und ihr Mann, nachdem sie diesem vom Ansinnen des Pianisten erzählt, dem nur wenig Beachtung zu schenken scheint, bricht sie vorerst den Kontakt ab, bis sie den Künstler dann doch in die Finca ihres Mannes auf Mallorca einlädt, auf neutrales Terrain, in ein Anwesen mit einem Nebengebäude, in das sie den Gast einquartiert. Das seltsame Gefühl der Verunsicherung, des Misstrauens dem um mehr als 20 Jahre älteren Besuch bleibt, auch wenn dieser zurückhaltend bleibt. Aber an einem der Abende, sie essen gemeinsam in der Finca, sagt Beatriz: Ich werde die Hintertür nicht abschliessen. Wenn du dich einsam fühlst in der Nacht und einen Besuch machen willst, bitte. Es werden vier Nächte, die sie gemeinsam verbringen. Nächte in bedeckter Leidenschaft. Nächte, die für Witold alles bedeuten und für Beatriz nur Gabe sind. Beatriz macht nach der letzten Nacht Schluss, kühl und unmissverständlich. Witold reist ab und die beiden sehen sich nie wieder. Es treffen zwar noch immer Nachrichten ein, die Beatriz aber meistens nicht einmal liest.

Jahre später erreicht sie die Nachricht, Witold Walczykiewicz sei nach langer Krankheit in Polen, in seiner Heimatstadt Warschau gestorben. Telefonisch erfährt sie von dessen Tochter, dass in der Wohnung ein Karton auf sie warte, eine Hinterlassenschaft. Und weil sich die Überführung dieses Kartons komplizierter erweist als angenommen, reist Beatriz nach Polen, lässt sich die Wohnungstür öffnen und findet einen Karton mit einem Manuskript. Fast hundert Gedichte und Begleittext. Beatriz verbringt eine Nacht in der kalten, überraschend einfach eingerichteten Wohnung des Verstorbenen und beschliesst die Gedichte übersetzen zu lassen. Liebesgedichte an sie, leidenschaftliche Anbetungen an eine Liebe, die so nicht sein konnte. 

Beatriz fühlt sich vom Umstand, dass da ein Mann war, der seine letzte Lebenszeit an den Tasten einer Schreibmaschine verbrachte und stets sie vor Augen hatte, mit eigenartigem Befremden und einem Glück, das sie verunsichert. Als Witold lebte, erbarmte sie sich seiner, gab ihm, was er begehrte, auch seinen Tod scheint das Schicksal Beatriz viel tiefer zu bewegen, bis hin zu einem seltsamen Gefühl des Glücks.

„Der Pole“ ist ein seltsames, überraschendes Buch, vor allem dann, wenn man schon mehr von J.M. Coetzee gelesen hat. Aufgegliedert in kurze, durchnummerierte Texte, bleibt was geschieht in einem eigenartig kühlen Licht. „Der Pole“ ist keine Liebesgeschichte, weil sie aus der Sicht der Katalanin geschrieben ist und einem der alte Mann während des Lesens eigentlich bloss Leid tut. Beatriz mag seine Chopininterpretationen nicht, sie mag sein Auftreten nicht, seinen alten Körper, nicht einmal seine Gedichte, seinen ganz persönlichen, leidenschaftlichen Nachlass. Und trotzdem gab sie ihm Anlass genug zu glauben, sie wäre der angestrebte „Frieden“ in seinem Leben. Man mag Beatriz nicht während des Lesens, man versteht sie nicht einmal, so wenig wie sie sich selbst.

„Der Pole“ ist ein kurzer, konzentrierter, äusserst raffiniert komponierter Roman, der mich mit einer guten Portion Ratlosigkeit zurücklässt, die den Roman nachhaltig macht.

J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren wurde und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für «Leben und Zeit des Michael K.» und 1999 für «Schande». 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.

Reinhild Böhnke wurde 1944 in Bautzen geboren und ist als literarische Übersetzerin in Leipzig tätig. Sie ist Mitbegründerin des sächsischen Übersetzervereins. Seit 1998 überträgt sie die Werke J. M. Coetzees ins Deutsche, ausserdem hat sie u.a. Werke von Margaret Atwood, Nuruddin Farah, D.H. Lawrence und Mark Twain ins Deutsche übertragen.

Beitragsbild © Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif

Douglas Stuart „Young Mungo“, Hanser Berlin – Sprachsalz Kufstein

Der heilige Mungo ist Schutzpatron einer Kathedrale in der schottischen Stadt Glasgow. Aber die Heiligen scheinen Glasgow vergessen zu haben. Im zweiten Roman des in Glasgow aufgewachsenen Autors Douglas Stuart stemmt sich der nicht einmal 16jährige Mungo gegen grassierende Gewalt, toxische Männlichkeit und selbstzerstörerische Ausweglosigkeit.

In den 1970er und 1980er Jahren wurden in der Arbeiterstadt Glasgow eine ganze Reihe Minen und Fabriken geschlossen. Eine ganze Stadt rutschte in Massenarbeitslosigkeit. Noch heute gilt Glasgow als eine jener Städte mit massiver Jugendkriminalität und überdurchschnittlich hohem Drogenkonsum. In Douglas Stuarts preisgekrönten Debüt „Shuggie Bain“ war dieses düstere Szenario schon einmal Kulisse für einen Roman, der zwischen Zartheit und Brutalität hin- und herpendelte.

Mungos Mutter ertrinkt in ihrer Alkoholsucht und schnappt nach den Resten eines Lebenstraums. Nichts ist geblieben nach einer frühen Ehe, drei Kindern, dem Tod des Mannes, bevor Mungo, der Jüngste, zur Welt gekommen war und der Aussichtslosigkeit, der Familie den erhofften Halt geben zu können. Hamish, der älteste, gibt den Ton in seiner Gang ein, vertickt Drogen und lechzt dauernd nach der nächsten Konfrontation mit den verfeindeten Gangs, den Katholiken, wilden Gewaltorgien, bei denen keine Regeln gelten und man bis zum Äussersten geht. Mungos Schwester Jodie versucht ihrem jüngeren Bruder das zu geben, was die meist abwesende Mutter längst vergessen hat, ein Nest, ein bisschen Wärme, in all der Grobheit etwas Zärtlichleit. Die Mutter nicht da und wenn doch im Suff, der Bruder in Sorge, dass aus Mungo kein richtiger Mann werden würde, denn alle um Mungo herum spüren, sehen und wissen, dass der grosse Junge mit dem tiefen Blick und den schmalen Händen anders ist als die meisten anderen.

Douglas Stuart «Young Mungo», Hanser Berlin, 2023, übersetzt aus dem Englischen von Sophie Zeitz, 416 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-446-27582-9

Mungo lernt James kennen, einen Jungen aus der Nachbarschaft, Halbwaise wie er. Aber James ist Katholik, kaum ein Steinwurf von ihm weg und doch in einer anderen Welt. James eigentliches Zuhause ist ein Taubenschlag auf dem Dach seines Hauses, den er einst, nach dem Tod seiner Mutter, zusammen mit seinem Vater gebaut hatte. Zwischen Mungo und James wächst eine Schicksalsgemeinschaft. Zum einen, weil sie beide hoffen, dereinst diesen Ort verlassen zu können. Zum andern, weil sie spüren, dass zwischen ihnen etwas zu wachsen beginnt, eine Liebe, ein Begehren, dass dort nicht sein kann und darf.

Mungo hat in seiner Welt keinen Platz. Auf einem Ausflug, zu dem man ihn mehr zwingt als drängt, zusammen mit zwei zwielichtigen Gestalten, wird Mungo nicht bloss aufs Übelste missbraucht und in eine ausweglose Rolle gezwängt, sondern in Situationen manövriert, die ihn zu dem zwingen, was ihm eigentlich widerstrebt, woraus er sich halten will, nicht zuletzt darum, weil ihm sein Freund James unmissverständlich zu spüren gibt, dass es eine gemeinsame Zukunft nur dann gibt, wenn er aus dem scheinbar Vorgegebenen, Unausweichlichen aussteigt.

Am Schluss des Romans kehrt Mungo abgekämpft, blutverschmiert und verwundet in seine Strasse zurück in ein Leben ohne Hoffnung und Perspektive. „Young Mungo“ liest sich nicht leicht. Eine beinah dystopische Welt, die aber in den 80ern spielt, in einer Stadt, die den Menschen die Zukunft genommen hat, in einer Gesellschaft aus Gewalt und verbaler Gewalt, einer Welt, in der es keine Entscheidungen mehr gibt nur den von den Zwängen des Überlebens vorgezeichneten Pfad. Der Roman lebt von Gegensätzen, dort die Momente des Friedens zwischen Mungo und seiner Schwester Jodie oder die Zartheit in den zaghaften Zärtlichkeiten zwischen Mungo und seinem neuen Freund James. Dort die Entgleisungen der Mutter, die Gewalt in verkommenen Mietskasernen, die Schlachtzüge der verfeindeten Gangs, die Vorstellungen dessen, was Männer und Frauen sein müssen.

Was an Liebe und Zärtlichkeit in einem stinkenden Meer aus roher Gewalt und tiefem Hass schwimmt, reicht nicht aus, um sich zu befreien. „Young Mungo“ ist von shakespearescher Kraft und apokalyptischer Intensität.

Douglas Stuart, geboren und aufgewachsen in Glasgow, studierte am Royal College of Art in London. Nach seinem Abschluss zog er nach New York, wo er als Modedesigner arbeitete. Für seinen ersten Roman, Shuggie Bain, der in 40 Ländern erschien und zum Weltbestseller wurde, erhielt er den Booker Preis 2020. «Young Mungo» (2023) ist sein zweiter Roman.

Sophie Zeitz, 1972 geboren, lebt in Berlin. Sie übersetzt aus dem Englischen, u. a. Werke von Henry David Thoreau, Joseph Conrad, John Green und Marina Lewycka und ist dafür mehrfach ausgezeichnet worden.

Beitragsbild © Clive Smith