Katharina Michel-Nüssli «Grossmutters Ikone» – Scheinheilig 2/7

Ein Heiligenbild baumelte an der Innenseite der Toilettentür. Jedes Mal, wenn sie geöffnet oder geschlossen wurde, schlug das Bild mit einem trockenen Ton, Holz gegen Holz, unregelmässig klopfend an die Tür und verkündete so Kommen und Gehen der verschiedenen Hausbewohner. Die Ikone stammte aus Grossmutters Familienerbe; ihre Eltern waren aus Italien eingewandert und katholisch. Ihr Ehemann hingegen war protestantisch und ein Handwerker mit Sinn für Realismus. Er hielt nichts von diesem Götzenkult, wie er es nannte, darum musste die Muttergottes mit ihrem goldenen Heiligenschein ihr Dasein als Randexistenz fristen. Spöttisch meinte Grossvater, das Bild helfe ihm beim Scheissen. Grossmutter nahm es gelassen. Wenn sie mal «musste», gönnte sie sich eine Auszeit. Sie behauptete, unter Verstopfung zu leiden, deshalb brauche sie etwas länger für dieses Geschäft. Es war der einzige Platz im Dreigenerationenhaus, wo sie sich ungestört fühlte. Nachdem sie ihre Notdurft verrichtet hatte, was nie länger als zwei Minuten dauerte, zog sie ihre Strumpfhose hoch, strich den Rock glatt und setzte sich auf den WC-Deckel. Sie murmelte ein Vaterunser, betrachtete danach die heilige Maria, die bestimmt mehr gelitten hatte in ihrem Leben als sie selbst, und fand so ihren täglichen Trost. Sie lud ihren körperlichen und seelischen Ballast ab, das ersparte ihr die Beichte, nicht aber den gelegentlichen Besuch der Messe. Der Pfarrer war ein sympathischer Mensch, bei seinen Predigten wurde ihr warm ums Herz. Sie wollte ihn aber nicht mit Peinlichkeiten belasten, das hatte er nicht verdient. Gestärkt und erleichtert verliess sie das stille Örtchen und widmete sich dem Tagewerk und den Freuden des irdischen Lebens.

Ihre Enkelin Elly kam oft hoch in den zweiten Stock und verbrachte viel Zeit bei der Grossmutter. Die Knopfsammlung im grossen Konfitürenglas war ihr Anziehungspunkt. Elly holte es aus dem Stubenbuffett. Sie liebte das Geräusch, wenn sie die Kostbarkeiten auf den Teppich leerte. Dieses leise Scheppern, wie ein Wasserfall aus Eissplittern. Sie sortierte die Knöpfe nach Farbe, Form oder Material. Den schönsten gab sie Namen. Mal waren sie Tiere, dann wieder Figuren wie Hänsel und Gretel oder Schneewittchen und die sieben Zwerge. Im selben Möbel wie die Knopfsammlung lagerte die Guetslibüchse. Wenn man nett fragte, lag immer ein Häppchen drin. Und wenn man sich bedankte, vielleicht noch ein zweites.
«Elly, du zappelst so herum», sagte Grossmutter. «Du musst gewiss auf die Toilette.» Natürlich. Es eilte. Gerade rechtzeitig schaffte es die Kleine, die sich nur ungern bei ihrem Spiel unterbrechen liess. Sie hatte die Tür so schwungvoll aufgerissen, dass ihr die Muttergottes direkt vor die Füsse fiel. Schnell machte sie Pipi. Dann nahm sie das glücklicherweise unbeschädigte Kunstwerk in die Hände und versuchte es wieder aufzuhängen. Doch der Nagel ragte für sie unerreichbar hoch aus dem Holz. Elly trug das Bild zu Grossmutter, die ahnte, was passiert war. Sie hängte es an seinen Platz zurück. «Warum hat diese Frau einen goldenen Hut?», fragte Elly.
«Das ist kein Hut, das ist ein Heiligenschein», erklärte die alte Frau. «Nur besonders fromme Menschen haben einen Heiligenschein. Solche, die an Gott glauben und nach seinem Willen leben. Das hier ist die Mutter des Christkindes. Sie hat Gott gehorcht. Darum ist sie heilig.»
«Gibt es denn heute keine Heiligen mehr?», fragte Elly.
«Warum meinst du?»
«Ich habe noch nie jemand mit diesem Goldkranz am Kopf gesehen.»
«Das sieht man eben nicht. Man spürt es nur», versuchte Grossmutter zu erklären. «Komm doch zurück in die Stube. Möchtest du einen Keks?»

Immer an Heiligabend versammelte sich die ganze Sippe bei den Grosseltern. Auf Ellys Wunsch lag das Bild der Muttergottes unter dem Tannenbaum. Schliesslich würde es ohne sie keine Weihnachten geben, war ihre Erklärung. Nach ein paar Liedern wurden die Kerzen angezündet. Eine andächtige Ruhe legte sich auf die Gesellschaft. Elly kniff die Augen zusammen. «Schau, Grossmutter!», rief sie entzückt. «Die Kerzen haben einen Kranz. Sie sind alle scheinheilig!»

Katharina Michel-Nüssli, 1964, war früher Primarlehrerin, ist heute freiberuflich tätig. Ihr erstes Buch «Sommersprossen und Kondensstreifen» enthält Kurzgeschichten, Miniaturen und Gedichte. Bisher hat sie bei der «Goldenen Schreibfeder» in Bischofszell TG zwei Preise für ihre Texte gewonnen. Der Text «Feierabend» erschien in einer Anthologie. «Heimweg» wurde vom Schulmuseum Amriswil prämiert. Erstmals plant sie ein Schreibprojekt über Kindheitserfahrungen ihres Vaters und seiner Geschwister. 

Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.

Beitragsbild © leale.ch

Katharina Michel-Nüssli «Die Rache» – «Tschuldigung» 2

«Tschuldigung», sagte er und verschwand. So zerbrach ihre Teenagerliebe. Jana war siebzehn und hatte ihrem Jugendfreund soeben gestanden, dass sie schwanger war. In diesem Moment zerbrach auch ihre Kindheit, die Unschuld hatte sie schon früher verloren. Als Dorfschönheit war sie es gewohnt, umschwärmt zu werden. Daumen rauf oder runter. Sie bekam, was sie wollte. Die attraktivsten Jungs. Sie hatte viele Neiderinnen. Bereits fühlte sie deren Spott ihren Rücken hinaufkriechen. Ihre Leibesfülle würde sie nicht verbergen können. Die Schule hatte ihr als Treffpunkt und Laufsteg gedient. Dort wurde ihr die Anerkennung zuteil, die sie sich so sehnlich von ihrem Vater gewünscht, und die er ihr ebenso beharrlich verweigert hatte. Mit guten Noten konnte sie nicht brillieren, da fehlten ihr gewisse geistige Fähigkeiten und das Interesse, das sie lieber auf andere Gebiete lenkte wie Mode oder Schwärmereien für die angesagten Film- und Musikgrössen.

Am Ende der Schulzeit fand sie in der nahen Kleinstadt eine Anstellung in einem gut besuchten Café an der Einkaufsgasse. Trotz Überredungskünsten der wohlmeinenden Lehrerschaft mochte sie keine Ausbildung antreten. Es lockten das schnelle Geld und die Selbständigkeit. Der Lohn war mässig, doch besserte sie ihr Gehalt mit Trinkgeldern auf. Ihr charmantes Wesen lockerte manchen Geldbeutel. Dass sie nie einen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, kümmerte sie wenig. Die Welt lag ihr zu Füssen, besonders in letzter Zeit, als sich ein junger Banker namens Kenny besonders grosszügig gab. Typ Sonnyboy im Anzug. 25 Jahre alt. Eines Tages lud er sie zum Apero ein. Dann zum Abendessen. Dann ins Kino. Schliesslich zu sich nach Hause. So nahm die Geschichte ihren Lauf.

Das Kind wurde geboren, ein süsses Mädchen, wie konnte es anders sein. Rosanna wurde der Grossmutter in Obhut gegeben und wuchs vorwiegend bei ihr auf. Jana verlor ihre vertraglich nicht abgesicherte Stelle. Das Arbeitslosenamt schickte sie in ein Programm für Jugendliche ohne Ausbildung, wo sie rudimentäre Schulkenntnisse aufarbeitete und bald eine Praktikumsstelle in einem Coiffeurgeschäft antreten konnte. Sie stellte sich so geschickt an, dass ihr ein Ausbildungsplatz an selbigem Ort angeboten wurde. Sie sagte zu. Mit der Berufsschule bekundete sie einige Mühe, doch schaffte sie die Lehre und trat hinaus in eine solidere Selbständigkeit als zuvor. Sie zog in eine grössere Stadt und arbeitete im Salon eines renommierten Haarkünstlers. Regelmässig traf sie ihre Tochter, die bereits den Kindergarten besuchte. Am liebsten nahm sie die Kleine an Jahrmärkte und auf Einkaufstouren mit. Ersteres, weil das Kind das Karussellfahren liebte und sich nach Herzenslust mit Zuckerwatte verschmierte, Letzteres, weil Jana sie selber einkleiden wollte. Der Geschmack ihrer Mutter schien ihr zu altbacken. Ihre Tochter sollte sich nicht schämen müssen.

Am Martinimarkt, als Rosanna vergnügt ihre Runden auf einem Einhorn drehte, meinte Jana, an der Glühweinbar Kenny zu entdecken. Seit dem abrupten Abschied hatte sie ihn nicht mehr gesehen, da er fortan das Café mied, in welchem sie damals arbeitete. Auch später gab es keine Begegnungen mehr. «Entschuldigung, wenn ich dich anspreche; bist du Kenny?», hörte sie sich sagen. Befremdet musterte er sie. Er hatte sich verändert. Die Haare schon leicht ergraut und auch nicht mehr so dicht, das fiel ihr sofort auf. Die Augen blau wie eh und je, doch ohne die frühere Leidenschaft. Dass sie sich viel mehr verändert hatte, war ihr nicht bewusst. Rot gefärbte Haare, Side Cut und Piercing in Nase, Zunge und Augenbraue. «Schon möglich», brummte er und wendete sich ab. Seine Kumpane, geschleckte Anzugträger allesamt, schienen sich zu amüsieren. «Seltsamer Frauengeschmack … Nutte …», klang in ihren Ohren nach. Verdammte Aasgeier, dachte sie und suchte ihre Tochter, die schon vom Karussell heruntergestiegen war und weinend nach ihrer Mama rief.

Es ging auf Weihnachten zu, der Salon lief auf Hochtouren. Man brezelte sich auf fürs Fest, der perfekte Haarschnitt musste her. Jana wollte soeben in die Mittagspause gehen, da sah sie ihn. Kenny betrat strahlend das Geschäft und liess sich von Jasmin zum Stuhl in der Herrenabteilung geleiten. Jana stupfte sie an und zog sie hinter das Gestell mit den Pflegeprodukten. «Überlass mir diesen Kunden», raunte sie. «Ich erkläre dir später, warum.» Jasmin zuckte mit den Schultern und liess ihre Kollegin gewähren.

«Bitte den Nacken sauber ausrasieren und oben etwas mehr stehen lassen.» Jana machte sich ans Werk. Obwohl sie es zu vermeiden suchte, begegneten sich ihre Blicke im Spiegel. Sie war sicher, dass er sie erkannt hatte. Umso besser, dachte sie und führte den Rasierer immer weiter hinauf, bis sie seinen Scheitel erreicht hatte. «Was machst du da!», entsetzte er sich. Und weil sie nicht aufhörte, sprang er auf und entledigte sich seines Umhangs. «Das bezahle ich nicht!», empörte er sich und steuerte dem Ausgang zu. Sie stellte sich vor ihn hin und sagte: «Tschuldigung!»

Katharina Michel-Nüssli, geboren 1964, aufgewachsen in Kollbrunn im Tösstal, lebt in Amriswil, verheiratet mit Moritz, zwei ausgeflogene Kinder, Primarlehrerin, Lerntherapeutin, Jobcoach, hat ein Buch mit kurzen Texten «Sommersprossen und Kondensstreifen» geschrieben. Aktuell im Diplomlehrgang Literarisches Schreiben, SBVV, geleitet von Michèle Minelli und Peter Höner. Ich liebe das Lesen, die Natur, die Gerechtigkeit, die Musik und natürlich Menschen, die mein Leben prägen und geprägt haben.

Illustration © leale.ch

Katharina Michel-Nüssli «Später vielleicht»

«Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiss es nicht.» Nino kratzt sich am Kopf. Was diese Lehrer sich ausgedacht haben. Neunzig Minuten für einen Aufsatz. Der Anfang ist gegeben. Weltliteratur. Da kann das Eigene nur schlechter werden. Ich bin nicht Camus. Wenn der wüsste, dass sein genialer Anfang für eine Prüfungsnote missbraucht wird. Und nicht einmal in der Originalsprache. «Aujoud’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.» Das tönt viel tiefgründiger, das hat Atmosphäre, lässt Tragik erahnen. Moll mit Disharmonien. Nebelschwaden. Ach, man wirft Perlen vor die Säue. Wer kennt schon die Grossartigkeit dieser Erzählung. Meine Kollegen haben auf den Hundertstel genau ausgerechnet, welche Note sie brauchen, um nicht provisorisch promoviert zu werden. Sie wissen genau, dass man nur wenige Adjektive verwenden soll. Helvetismen und monotone Satzanfänge sind zu vermeiden. Selbstverständlich soll man keine Rechtschreibfehler machen, die Kommas am richtigen Ort setzen und mindestens zwei Seiten füllen. So hat man die genügende Note auf sicher. Wie hat wohl Camus schreiben gelernt? Einmal im Monat zwei Seiten in neunzig Minuten? Was für ein Witz.

Draussen schwanken die vom Herbststurm geschüttelten Äste des Ahorns vor dramatischen Wolkengebilden. Der Himmel ist so wild und unbezähmbar wie vor Jahrhunderten, am Boden hingegen, der von hier aus nicht zu sehen ist, findet sich kein Stoff für grossartige Geschichten. Mit forschendem Blick versucht Nino, sich die Wirklichkeit der Welt in das Vakuum der wohlaufbereiteten Bildungspläne zu holen. Wäre er ein Waisenkind, dann wüsste er, wie sich Tod und Verlassenheit anfühlen. Er müsste nicht lange überlegen. Insgeheim schämt er sich für seine wohlbehütete Kindheit.

Er beginnt zu schreiben: «Dieser Satz ist wie ein Fremdkörper hier. Fast nie stirbt jemandes Mutter in dieser Schule. Die Gesundheitsversorgung ist hervorragend und teuer. Wir können es uns leisten. Und man wüsste die Todeszeit auf die Minute genau, so wie man das Horoskop dank der exakten Geburtszeit entschlüsseln kann. Ob darin bereits die Sterbestunde festgelegt ist? Das bleibt hoffentlich ein Geheimnis. Es gibt noch die unverhofften Tode. Wer als Kind so etwas erlebt, dessen Chance, an diese Schule aufgenommen zu werden, sinkt gegen Null. Das hat verschiedene Gründe. Zuallererst schafft es kaum jemand, ohne zu pauken die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Das braucht gebildete Eltern, Zeit und Geld. Ausser man ist ein Genie. Obendrein ist hier alles so trocken, herzlos und verkopft, dass ein normal fühlender Jugendlicher nur überleben kann, wenn er zu Hause so etwas wie Geborgenheit erlebt. Wenn ich in der Klasse rumschaue, stelle ich fest, dass alle in einem Eigenheim leben, mit Ausnahme unseres Quotenausländers aus Portugal, dessen Sippe einen halben Wohnblock bevölkert – Nestwärme inklusive. Und die Lehrpersonen halten es nur aus, wenn sie eine Schutzschicht aus Staub ansetzen. Was wird aus uns, wenn wir die heiligen Hallen des Wissens verlassen? Wir sind die Elite, wir werden die Welt weiterbringen, das wird uns eingetrichtert. Ihr seid die künftigen Leader. Wir werden Firmenchef, Bundesrat oder Managerin. Heute tragen wir zerlöcherte Jeans, morgen Nadelstreifen und Deux-Pièces. Wir werden etwas erreicht haben in unserem Leben. Wenn wir sterben, wird eine ganze Zeitungsseite mit unseren Todesanzeigen gefüllt, weil wir bedeutende Persönlichkeiten gewesen sein werden. Unsere Biografien jedoch wären seichte Literatur, keine Dramen, nicht wert, aufgeschrieben zu werden. Ich wünsche uns keine Katastrophe, nein, denn sie ist schon da, in Form eines vorgespurten, genormten Lebens. Ich hoffe, diese Schulzeit möglichst unbeschadet zu überstehen, um später – vielleicht – das wahre Leben kennenzulernen.»

Der Sturm hat sich gelegt, leichter Schneeregen hat eingesetzt. Nino überfliegt den Text. In fünf Minuten muss er ihn abgeben, da bleibt keine Zeit mehr, etwas zu ändern. Nach dem Ertönen des Pausensignals rappeln sich die Jugendlichen von ihren Sitzen hoch und schlendern auf die verregnete Terrasse, die durch das Zimmer im vierten Stock zugänglich ist. Niemand scheint den Ausblick über die Dächer der Altstadt zu beachten. Man hofft auf eine gnädige Notengebung, Aufsätze sind Ermessenssache. Und morgen ist Physiktest, da gibt es nur richtig und falsch. Zum Glück darf man das Formelheft brauchen. Noch eine Lektion heute. Es dunkelt schon ein.

Nach Schulschluss zerstreuen sich die jungen Menschen in alle Richtungen. Nino beeilt sich, um den früheren Zug zu erreichen. Er möchte vor dem Handballtraining noch Zeit haben, um etwas zu essen. Beim Bahnhof steht wie immer der Rosenverkäufer. Seine Blumen leuchten wie ein Anachronismus im grauen Novemberabend. «Dieser Mann hatte wohl ein bewegtes Leben», blitzt es Nino durch den Kopf. «Ich sollte ihn nach seiner Geschichte fragen. Später vielleicht. Der Zug fährt gleich.»

In der darauffolgenden Woche wird Nino zum Rektor zitiert. Noch nie ist er dieser Autorität so nah gegenübergetreten. «Nehmen Sie Platz», gebietet dieser. Die Fältchen um die Augen des Schulvorstehers sind dem Schüler bisher nicht aufgefallen. Er ist eindeutig älter als Ninos Vater. Der Rektor räuspert sich. «Junger Mann, entweder sind Sie ein Revoluzzer oder dann einfach nur naiv. Was wollten Sie mit Ihrem Geschreibsel ausdrücken? Mit einer solchen Einstellung sind Sie dieser renommierten Schule nicht würdig.» Die Möbel in diesem Büro haben ihre beste Zeit hinter sich. Sie waren einmal erlesen und teuer gewesen. Nino richtet sich auf seinem Holzstuhl auf. «Ich lebe in einem Land, wo man seine Meinung frei äussern darf. Davon habe ich Gebrauch gemacht. Es ist mir schlicht nichts anderes in den Sinn gekommen, und nach neunzig Minuten musste ich den Aufsatz abgeben.» «Freie Meinungsäusserung in Ehren, mein Lieber, aber Beleidigungen gehen gar nicht. Merken Sie sich das. Sie beleidigen unsere Schule und das Personal. Seien Sie dankbar für diese hochstehende Ausbildung, die Ihnen hier zuteilwird. Ich gehe davon aus, dass dies ein einmaliger Ausrutscher war. Im jugendlichen Leichtsinn kann so etwas passieren.» Nino schluckt leer. Der ältere Herr erhebt sich und weist ihn unmissverständlich zur Tür.

An eine Rückkehr in die Klasse ist im Augenblick nicht zu denken. Nino starrt auf seine abgewetzten Schuhspitzen, die ihn wie von selbst zum Bahnhof hinunter führen. Sinnierend lässt er sich auf einer Wartebank nieder. An der Ecke steht der Blumenverkäufer. Nino zögert. Schliesslich nähert er sich dem Mann und kauft ihm eine Rose ab. Mutter wird sich wundern.

Katharina Michel «Sommersprossen und Kondensstreifen», BoD, illustriert von Lea Frei, 2021, 144 Seiten, Euro 24.99, ISBN 978-3-754-32791-3
Hier direkt zu beziehen!

Katharina Michel-Nüssli geboren 1964 im Tösstal lebt im Oberthurgau. Primarlehrerin, Lerntherapeutin, Jobcoach.
«Schreiben war immer etwas Lustvolles, ausser vielleicht bei Diplomarbeiten. Mich inspirieren Natur, Menschen, das Abweichende, die Liebe zum Leben. Schreibkurse bei Ruth Rechsteiner und Michèle Minelli haben mich ermutigt, regelmässig zu schreiben. Biografisches und Kurzgeschichten, Portraits und Poetisches, was eben zeitlich Platz findet. Oft sind es berührende Begegnungen, Stimmungen am See oder im Wald, unvermutete menschliche Abgründe, die Schönheit eines vom Leben gezeichneten Gesichts, Absurditäten des Normalen. Meinen Schreibstil bezeichne ich als verdichtet, manchmal poetisch, oft dazu anregend, zwischen den Zeilen zu lesen.»

Katharina Michel-Nüssli «Später vielleicht», Plattform Gegenzauber

„Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiss es nicht.“ Nino kratzt sich am Kopf. Was diese Lehrer sich ausgedacht haben. Neunzig Minuten für einen Aufsatz. Der Anfang ist gegeben. Weltliteratur. Da kann das Eigene nur schlechter werden. Ich bin nicht Camus. Wenn der wüsste, dass sein genialer Anfang für eine Prüfungsnote missbraucht wird. Und nicht einmal in der Originalsprache. „Aujoud’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.“ Das tönt viel tiefgründiger, das hat Atmosphäre, lässt Tragik erahnen. Moll mit Disharmonien. Nebelschwaden. Ach, man wirft Perlen vor die Säue. Wer kennt schon die Grossartigkeit dieser Erzählung. Meine Kollegen haben auf den Hundertstel genau ausgerechnet, welche Note sie brauchen, um nicht provisorisch promoviert zu werden. Sie wissen genau, dass man nur wenige Adjektive verwenden soll. Helvetismen und monotone Satzanfänge sind zu vermeiden. Selbstverständlich soll man keine Rechtschreibfehler machen, die Kommas am richtigen Ort setzen und mindestens zwei Seiten füllen. So hat man die genügende Note auf sicher. Wie hat wohl Camus schreiben gelernt? Einmal im Monat zwei Seiten in neunzig Minuten? Was für ein Witz.

Draussen schwanken die vom Herbststurm geschüttelten Äste des Ahorns vor dramatischen Wolkengebilden. Der Himmel ist so wild und unbezähmbar wie vor Jahrhunderten, am Boden hingegen, der von hier aus nicht zu sehen ist, findet sich kein Stoff für grossartige Geschichten. Mit forschendem Blick versucht Nino, sich die Wirklichkeit der Welt in das Vakuum der wohlaufbereiteten Bildungspläne zu holen. Wäre er ein Waisenkind, dann wüsste er, wie sich Tod und Verlassenheit anfühlen. Er müsste nicht lange überlegen. Insgeheim schämt er sich für seine wohlbehütete Kindheit.

Er beginnt zu schreiben: „Dieser Satz ist wie ein Fremdkörper hier. Fast nie stirbt jemandes Mutter in dieser Schule. Die Gesundheitsversorgung ist hervorragend und teuer. Wir können es uns leisten. Und man wüsste die Todeszeit auf die Minute genau, so wie man das Horoskop dank der exakten Geburtszeit entschlüsseln kann. Ob darin bereits die Sterbestunde festgelegt ist? Das bleibt hoffentlich ein Geheimnis. Es gibt noch die unverhofften Tode. Wer als Kind so etwas erlebt, dessen Chance, an diese Schule aufgenommen zu werden, sinkt gegen Null. Das hat verschiedene Gründe. Zuallererst schafft es kaum jemand, ohne zu pauken die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Das braucht gebildete Eltern, Zeit und Geld. Ausser man ist ein Genie. Obendrein ist hier alles so trocken, herzlos und verkopft, dass ein normal fühlender Jugendlicher nur überleben kann, wenn er zu Hause so etwas wie Geborgenheit erlebt. Wenn ich in der Klasse rumschaue, stelle ich fest, dass alle in einem Eigenheim leben, mit Ausnahme unseres Quotenausländers aus Portugal, dessen Sippe einen halben Wohnblock bevölkert – Nestwärme inklusive. Und die Lehrpersonen halten es nur aus, wenn sie eine Schutzschicht aus Staub ansetzen. Was wird aus uns, wenn wir die heiligen Hallen des Wissens verlassen? Wir sind die Elite, wir werden die Welt weiterbringen, das wird uns eingetrichtert. Ihr seid die künftigen Leader. Wir werden Firmenchef, Bundesrat oder Managerin. Heute tragen wir zerlöcherte Jeans, morgen Nadelstreifen und Deux-Pièces. Wir werden etwas erreicht haben in unserem Leben. Wenn wir sterben, wird eine ganze Zeitungsseite mit unseren Todesanzeigen gefüllt, weil wir bedeutende Persönlichkeiten gewesen sein werden. Unsere Biografien jedoch wären seichte Literatur, keine Dramen, nicht wert, aufgeschrieben zu werden. Ich wünsche uns keine Katastrophe, nein, denn sie ist schon da, in Form eines vorgespurten, genormten Lebens. Ich hoffe, diese Schulzeit möglichst unbeschadet zu überstehen, um später – vielleicht – das wahre Leben kennenzulernen.“

Der Sturm hat sich gelegt, leichter Schneeregen hat eingesetzt. Nino überfliegt den Text. In fünf Minuten muss er ihn abgeben, da bleibt keine Zeit mehr, etwas zu ändern. Nach dem Ertönen des Pausensignals rappeln sich die Jugendlichen von ihren Sitzen hoch und schlendern auf die verregnete Terrasse, die durch das Zimmer im vierten Stock zugänglich ist. Niemand scheint den Ausblick über die Dächer der Altstadt zu beachten. Man hofft auf eine gnädige Notengebung, Aufsätze sind Ermessenssache. Und morgen ist Physiktest, da gibt es nur richtig und falsch. Zum Glück darf man das Formelheft brauchen. Noch eine Lektion heute. Es dunkelt schon ein.

Nach Schulschluss zerstreuen sich die jungen Menschen in alle Richtungen. Nino beeilt sich, um den früheren Zug zu erreichen. Er möchte vor dem Handballtraining noch Zeit haben, um etwas zu essen. Beim Bahnhof steht wie immer der Rosenverkäufer. Seine Blumen leuchten wie ein Anachronismus im grauen Novemberabend. „Dieser Mann hatte wohl ein bewegtes Leben“, blitzt es Nino durch den Kopf. „Ich sollte ihn nach seiner Geschichte fragen. Später vielleicht. Der Zug fährt gleich.“

In der darauffolgenden Woche wird Nino zum Rektor zitiert. Noch nie ist er dieser Autorität so nah gegenübergetreten. „Nehmen Sie Platz“, gebietet dieser. Die Fältchen um die Augen des Schulvorstehers sind dem Schüler bisher nicht aufgefallen. Er ist eindeutig älter als Ninos Vater. Der Rektor räuspert sich. „Junger Mann, entweder sind Sie ein Revoluzzer oder dann einfach nur naiv. Was wollten Sie mit Ihrem Geschreibsel ausdrücken? Mit einer solchen Einstellung sind Sie dieser renommierten Schule nicht würdig.“ Die Möbel in diesem Büro haben ihre beste Zeit hinter sich. Sie waren einmal erlesen und teuer gewesen. Nino richtet sich auf seinem Holzstuhl auf. „Ich lebe in einem Land, wo man seine Meinung frei äussern darf. Davon habe ich Gebrauch gemacht. Es ist mir schlicht nichts anderes in den Sinn gekommen, und nach neunzig Minuten musste ich den Aufsatz abgeben.“ „Freie Meinungsäusserung in Ehren, mein Lieber, aber Beleidigungen gehen gar nicht. Merken Sie sich das. Sie beleidigen unsere Schule und das Personal. Seien Sie dankbar für diese hochstehende Ausbildung, die Ihnen hier zuteilwird. Ich gehe davon aus, dass dies ein einmaliger Ausrutscher war. Im jugendlichen Leichtsinn kann so etwas passieren.“ Nino schluckt leer. Der ältere Herr erhebt sich und weist ihn unmissverständlich zur Tür.

An eine Rückkehr in die Klasse ist im Augenblick nicht zu denken. Nino starrt auf seine abgewetzten Schuhspitzen, die ihn wie von selbst zum Bahnhof hinunter führen. Sinnierend lässt er sich auf einer Wartebank nieder. An der Ecke steht der Blumenverkäufer. Nino zögert. Schliesslich nähert er sich dem Mann und kauft ihm eine Rose ab. Mutter wird sich wundern.

Katharina Michel-Nüssli geboren 1964 im Tösstal lebt im Oberthurgau. Primarlehrerin, Lerntherapeutin, Jobcoach.
«Schreiben war immer etwas Lustvolles, ausser vielleicht bei Diplomarbeiten. Mich inspirieren Natur, Menschen, das Abweichende, die Liebe zum Leben. Schreibkurse bei Ruth Rechsteiner und Michèle Minelli haben mich ermutigt, regelmässig zu schreiben. Biografisches und Kurzgeschichten, Portraits und Poetisches, was eben zeitlich Platz findet. Oft sind es berührende Begegnungen, Stimmungen am See oder im Wald, unvermutete menschliche Abgründe, die Schönheit eines vom Leben gezeichneten Gesichts, Absurditäten des Normalen. Meinen Schreibstil bezeichne ich als verdichtet, manchmal poetisch, oft dazu anregend, zwischen den Zeilen zu lesen.»