Die Kinder im Dorf hatten alle braune und grüne Augen, ich war die Einzige mit klarem Blau im Blick. Das hatte ich von meinem Vater geerbt. Die Augen und den englischen Nachnamen. Darüber verlor ich aber kein Wort. Es hätte nur weiteren Anlass zu Spott gegeben. Es hieß, dass nur die Stadtkinder blaue Augen hätten, das käme vom vielen Waschen. Man schrieb den Städtern einen regelrechten Reinlichkeitsfimmel zu. Gut, was meine Mutter betraf, stimmte das vielleicht. Ich war davon aber sicherlich nicht betroffen. Dass die Kinder selbst jeden Morgen das Gesicht in kaltes Brunnenwasser tauchten, kam ihnen dabei wohl nicht in den Sinn. „Blaue Augen, blaues Blut“, lästerten sie, wenn sie mich wieder einmal des Stalles verwiesen, weil eine Kuh kalbte oder ein neuer Stier dabei war, sich einzuleben. Das Umfeld wäre zu gefährlich für mich. Sie hatten nicht ganz Unrecht damit. Es war nicht nur einmal passiert, dass ein Tier ausgebüchst war, durch die Bretterwand gekracht, schon in den ersten Tagen. Die Restaurationsarbeiten waren schnell geschehen. Die neue Wand hielt aber nicht mehr aus, als die zuvor zerstörte. Es gab nur eine Box mit Stangen aus Metall, speziell für Neuankünfte, was normalerweise ausreichend war. Es kamen nicht oft neue Tiere ins Dorf. Die Gutshöfe mussten Geld zusammenlegen, um sich qualitatives Neuvieh leisten zu können. Man teilte sich die Stallarbeit und das Futter. Meine Tante Mila erzählte, sie wäre einmal fast niedergetrampelt worden, hatte sich gerade noch ins Haus retten können, bevor ein junger Stier durch den Garten gerast war. Die Beete waren im Eimer und das übermütige Tier kaum einzufangen. Sogar die Kühe rannten vor ihm davon, er war ihnen wohl nicht ganz geheuer. „Ziemlich umtriebig, der gute Bursche“, bestätigte auch mein Onkel. Einige Kühe wurden trächtig. Sie waren wohl doch dem Charme des Stieres erlegen, befand ich. Mila schüttelte zweifelnd den Kopf, schwieg aber.
Katharina J. Ferner, 1991 geboren, lebt als Poetin und Performerin in Salzburg. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift &Radieschen sowie der österreichischen Dialektzeitschrift Morgenschtean. 2016–2019 Mitbetreuung der Lesereihe ADIDO (Anno-Dialekt-Donnerstag) in Wien. 2017 Stadtschreiberin in Hausach (D), 2019 Lyrikstipendium am Schriftstellerhaus Stuttgart. Bei Limbus erschien ihr vielbeachtetes Lyrikdebüt «nur einmal fliegenpilz zum frühstück» (2019) und der Roman «Der Anbeginn».
Katharina J. Ferners Roman „Der Anbeginn“ ist ein starkes Stück über keimendes Leben und den Tod, über archetypische Figuren und fiebrige Innenwelten, über vermeintliche Realitäten und flirrende Zwischenwelten. Wer sich gerne von Literatur bezaubern lässt, ist mit diesem Roman reich beschenkt!
Ein Mädchen wächst auf in einem Dorf, das aus der Zeit gefallen ist. Die Szenerie des Romans erinnert an einen langen Traum, eine Zwischenwirklichkeit, an eine Welt, die immer gleich durch die Jahrhunderte getragen wird, in der Tote nicht verschwinden, Lebende umso mehr, wo der Fährmann der Grenzer ist, in der das Matriarchat zur Selbstverständlichkeit wird. Katharina J. Ferner zeichnet eine Welt, die keiner Zeit unterworfen ist, die aber in jedem von uns lebt, weil sie weit über den Traum hinaus in unsere Wirklichkeit hineinspielt. Eine archaische Welt, die sich der Logik, der Ratio lächelnd entzieht. Wer „Der Anbeginn“ liest, lässt sich ein in eine Welt, die in ihrer Gültigkeit in jedem von uns steckt, von der wir uns aber immer schneller und immer weiter entfernen. „Der Anbeginn“ ist märchenhaft aber kein Märchen. Der Roman erzählt von den Urkräften des Lebens, von Geburt und Tod, von Liebe und Leidenschaft, von der Suche und vom Finden.
„Nur weil ich tot bin, heisst das noch lange nicht, dass ich auch so aussehen muss.“
Ein Dorf an einem Fluss, nicht weit vom Meer. Während eine Tochter geboren wird, stirbt die Grossmutter. Der Vater ist Maler. Das Kind wächst mit Farbe und Pinsel auf, weiss, dass jene Wirklichkeiten, die gemalt sind, ebenso wirklich sein können, wie jene ausserhalb des Ateliers ihres Vaters. So wie die Grossmutter Wirklichkeit bleibt, obwohl sie der Fährmann geholt hatte. Das Mädchen wächst auf mit Mutter und Vater, mit den zwei Schwestern der Mutter, Ida und Ada, in einem Dorf mit der Bäckerin Svenja, mit anderen Kindern unter denen sie schon bald eine Sonderstellung einnimmt. Man begegnet ihr mit Respekt, so wie sie selbst allem und jedem mit Respekt begegnet. So wie sie den Tieren, selbst den Spinnen in ihrem Zimmer mit Respekt begegnet, sie an ihrem Leben teilnehmen lässt. Die Wiese, der Wald, der Fluss ist genauso ihr Zuhause, wie das Zimmer im Haus ihrer Künstlereltern, das Dorf, die Menschen genauso ihr Körper wie der ihrige.
Das Leben im Dorf ist eines in den Traditionen, in Regeln, die das Zusammenleben geschaffen hat. Eine Welt, die in immer grösserem Kontrast zur Welt in der wir leben gesehen werden muss. Katharina J. Ferner malt auf grosse dreidimensionale Leinwände, schafft eine Tiefenwirkung, die mich einsaugt, die mich fasziniert. Sie schafft, was sonst nur Träume vermögen und tut dies mit traumwandlerischer Sicherheit, mit faszinierender Selbstverständlichkeit.
„Vater malte mir eine Sonnenblumeum den Nabel herum, die Blätter waren so gross, dass sie mir bis zu den Rippen hinauf reichten.“
Dieses Dorf ist eine Zwischenwelt. Ein Dorf, das mit der Natur eins ist. Menschen, die sich als Teil dieser Welt sehen und sie nicht unterwerfen. Hier manifestiert sich die Natur nicht als Gegenüber des Menschen. In „Der Anbeginn“ nistet sich die Natur bis in die Haare der Protagonistin ein. „Der Anbeginn“ ist so rätselhaft wie das Leben selbst, wie die Geburt und der Tod, das Leben und das Sterben. Wer diesen Roman liest, die Geschichte dieser jungen Frau, die Geschichte dieses Dorfes jenseits des grossen Flusses, der begibt sich in eine Art Tagtraum, eine von Farben und Gerüchen satte Welt.
Interview mit Katharina J. Ferner:
Was hat dich bewogen, deinen Roman in einer Art Zwischenwelt anzusiedeln Die Zwischenwelt hat mehrere Beweggründe. Einerseits bin ich selbst grosser Fan von Erzählkulturen, die eine Tradition des Mystischen, der Märchen und des Surrealismus in der Literatur pflegen. Im deutschsprachigen Raum wird oftmals nicht über vermeintliche Grenzen hinauserzählt, was ich persönlich schade finde. Die Fülle der Geschichten, die so gesponnen werden können und das Eintauchen ins Fantastische eröffnen mir so zusätzlich zur Handlung auch eine poetischere Sprache. Auf der anderen Seite hängt die Entscheidung mit der Figurenkonstellation zusammen. Ohne eine Zwischenwelt kann die klassisch angelegte Figur des Fährmanns nicht mit dieser Selbstverständlichkeit existieren. Und somit verlören auch die Figuren, die auf ihm aufbauen, an Glaubwürdigkeit und blieben bloss als Hirngespinste der Ich-Erzählerin vorhanden.
Ist es, als würden sich in deinem Roman die Frauen dem Leben zuwenden und die Männer dem Leben eher abwenden? Weder noch. Die Frauen halten die Fäden in der Hand. Sie begrüssen das Leben zur selben Zeit, wie sie einen Tod beklagen, insofern würde ich nicht sagen, dass sie sich dem Leben konkret zuwenden. Die Männer sind bei den Todesritualen nicht dabei, weder bei der Verabschiedung der Verstorbenen noch bei der alljährlichen Schlachtung. Sie weichen dem Tod eher aus. Er ist kein Thema, das sie ständig beschäftigt und begleitet, während er bei den Frauen andauernd präsent ist.
Dein Roman ist von einer tiefen Weiblichkeit durchsetzt. Nicht dass sie mich stört! Ganz im Gegenteil! Es ist nur, als ob so einen Roman in dieser Art nur eine Frau schreiben könnte. Ich bin von dieser Weiblichkeit ebenso fasziniert wie verunsichert. Faszination und Verunsicherung, die gepaart beinah Schwindel erzeugen. Schreibst du dich von der Realität weg? Ich nehme das durchaus als Kompliment und denke es ist mir gelungen, viele Themen anzusprechen, die natürlich mit dem Frausein unmittelbar zusammenhängen, wie beispielsweise der Zyklus. Es gibt zwar keine Aufklärung in diesem Dorf, dennoch gibt es ein strenges Gefüge zwischen Männern und Frauen, das auch mit der körperlichen Wandlung und dem Alter zu tun hat. Die Konsequenzen die daraus entstehen, funktionieren im Roman anders, vielleicht gewagter.
Dein Vater malt. Du malst auch, dichtend und erzählend. Das Mädchen, die junge Frau in deinem Roman, wächst auch in einem Künstlerhaus auf. Was hat der Duft von Terpentin mit dir gemacht? Der Terpentingeruch hat tatsächlich keinen Ursprung in meinem Elternhaus, sondern in meiner Schulzeit. Bevor ich zu Literatur wechselte, belegte ich dort Bildnerische Gestaltung als Hauptfach. Im Roman fällt der Künstlervater ziemlich aus der Reihe, in einem Dorf, das auf Selbstversorgung angewiesen ist. Aber er gibt seiner Tochter seine Farben mit auf den Weg, damit sie sich die Welt ausmalen kann – genau so, wie ich es ja vielleicht auch mache. Früher habe ich viel fotografiert auf Reisen, nun notiere ich, sammle und (ver-)dichte.
Ich lernte dich an einer Lesung von Michael Stavarič kennen. Auch ein Schriftsteller, der es eindrücklich versteht, auf grossen Leinwänden kolossale Bilder zu erzeugen. Was bedeutet es dir, mit anderen AutorInnen zusammen schöpferisch zu sein, wo doch viele deiner ArtgenossInnen als EinzelgängerInnen gelten? Da hast du mich natürlich bei einer Lesung kennengelernt, von dem Menschen, der mich textlich schon am längsten und intensivsten begleitet. Mittlerweile verfolge ich vermehrt Kooperationen sowohl mit AutorInnen, als auch mit KünstlerInnen anderer Genres. Für mich bringen sie Inspiration, Wertschätzung, stärken das Vertrauen in die eigene Arbeit, fundierte Kritik. Manchmal hart erarbeitete, manchmal beflügelnde Geschenke. Und in diesem Jahr speziell sichern sie mir das eigene psychische Überleben. Grundsätzlich pflege und schätze ich aber Alleingänge ebenso. Gerade deswegen liebe ich das Konzept von Aufenthaltsstipendien.
Katharina J. Ferner, 1991 geboren, lebt als Poetin und Performerin in Salzburg. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift &Radieschen sowie der österreichischen Dialektzeitschrift Morgenschtean. 2016–2019 Mitbetreuung der Lesereihe ADIDO (Anno-Dialekt-Donnerstag) in Wien. 2017 Stadtschreiberin in Hausach (D), 2019 Lyrikstipendium am Schriftstellerhaus Stuttgart. Bei Limbus erschien ihr vielbeachtetes Lyrikdebüt «nur einmal fliegenpilz zum frühstück» (2019).