Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel

„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein Roman darüber, wie sehr wir Menschen uns von scheinbaren Gewissheiten leiten lassen wollen, wie leicht wir uns in Ausweglosigkeiten verrennen und wie naiv das Sprichwort ist, Zeit würde Wunden heilen. Die Zeit heilt nichts. Was nicht ausgestanden ist, sickert nur tiefer, selbst wenn wir darüber eine heile Welt errichten.

Das der 2. Weltkrieg mit der Kapitulation zu Ende ging, liest man wohl in Geschichtsbüchern, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Genauso wie die Vorstellung, die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts hätten sich endgültig vom irrigen Glauben verabschiedet, die Welt wäre durchsetzt von bösen und unheilvollen Kräften. Wir brauchen Erklärungen und wenn nötig Schuldige, denen wir das eigene Unvermögen, all das Unerklärliche, das sich nicht leugnen lässt, aber auch die eigene Dummheit und die eigenen Fehler unterjubeln lassen.

Als das Tausendjährige Reich in Schutt und Asche lag, war das Leiden noch lange nicht zu Ende. Da war der Schmerz über all das Leid, das der Krieg und der Nationalsozialismus über Europa und die ganze Welt brachte, die Verwundeten an Leib und Seele, das Grauen, das sich nicht nur in Lagern abspielte, sondern überall, nicht zuletzt auch in den Herzen und Köpfen der Betroffenen. Da waren Heerscharen an Leib und Psyche Verwundeter, Versehrter und Verkrüppelter, die aus dem Krieg oder Jahre oder Jahrzehnte später aus Lagern zurückkehrten, unfähig, dort weiterzumachen, wo man sie herausgerissen hatte. Da waren die Zurückgebliebenen, Frauen und Familien, die nicht nur das Leben aufrecht zu erhalten hatten, sondern auch den Glauben an eine bessere Zukunft. Da war eine Nation, ein „Volk“, das man zum Führerglauben erzogen hatte, das in strengem Gehorsam Wegschauen und Verdrängen gelernt hatte. Wie hätte man vom strammen Glauben an einen Endsieg so einfach das eigene Denken reaktivieren sollen, die Selbstverantwortung.

Foto © Emsland Moormuseum, Fotoarchiv

Man hatte den Massen jahrzehntelang eingebleut, dass Andersgläubige und Andersdenkende für das eigene und kollektive Versagen und Unvermögen verantwortlich wären. Wie sollten jene Massen mit dem erklärten Ende des Krieges so einfach aus einem „bösen“ Traum erwachen, wenn man sie ein halbes Leben in die eine Richtung drillte?

Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel, 2023, 285 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-458-64388-3

Helga Bürster erzählt von einem Moordorf; Unnenmoor, nicht weit von Oldenburg. Noch vor dem Krieg heirateten die beiden Freundinnen Edith und Annie. Aber von beiden Männern kam ziemlich schnell kein Zeichen mehr von der Front. Während sie als verschollen galten, hatten die beiden Frauen in der Heimat zu kämpfen; Edith gegen das Klischee, das man mit ihren flammend roten Haaren verband und Annie mit dem stummen Sohn Willi, den sie kaum zu bändigen weiss. Beide sind eingespannt in ihre Pflichten als Zurückgelassene und ausgesetzt als Frauen, die man für eigene Zwecke einspannen will. Im Dorf, etwas ausserhalb, lebt Guste, die ihren Mann schon während des ersten Weltkriegs verloren hatte, die ihr Alter längst vergessen hat und in ihrer Kate lebt, als wäre sie noch Jahrhunderte vom anbrechenden Fortschritt entfernt. Betty, Ediths Tochter, die Guste immer wieder mal einen Topf mit Suppe bringt, freundet sich mit der alten Guste an, eine Freundschaft, die ebenso argwöhnisch beobachtet wird, wie die Tatsache, dass sich ihre Mutter mit dem Dorfjournalisten anfreundet, wo doch nicht einmal klar ist, ob Ediths Mann aus dem Krieg zurückkehren wird.

Eines Tages kehrt dann wirklich einer zurück. Einer, der nicht nur beide Beine in einem russischen Sumpfloch zurückgelassen hatte, sondern sämtliche Erinnerungen. Das einzige, was blieb, war ein Ring mit eingraviertem Namen, der aber auf keinen seiner Finger passte. Je näher der Versehrte der Gegend kommt, in der man seine Sprache spricht, desto mehr bricht Erinnerung hervor. Erst glaubt er Otto, der Mann einer Edith zu sein, bis Annie feststellt, dass es Joseph, ihr Mann ist. Da ist einer zurückgekehrt. Aber schon nach wenigen Wochen bricht durch, was der Versehrte an Grauen mit aus dem Krieg nahm. Genauso wie das, was im Dorf und im Lager am Rande des Dorfes in den verwundeten Seelen der Einwohner weiterwirkt. 

Edith soll für alles Mögliche und Unmögliche im Dorf verantwortlich sein, sie sei eine Hexe, so wie die alte Guste, und mit Sicherheit auch Ediths Tochter Betty. Während Joseph sich kaputtsäuft, der ehemalige Lageraufseher Fritz Renken als «Spökenfritz» und Wunderheiler den Dorfbewohnern die Welt erklärt und sie gegen Edith aufhetzt, während man mit einem riesigen Moorpflug, dem Mammut, die Untiefen der Moorlandschaft in fruchtbare Wiesen umzugraben beginnt und damit dem Fortschritt den Weg ebnen will, heizen sich die Geister, die wirklichen und unwirklichen, an den Verschwörungstheorien der Unbelehrbaren auf. 

© Helga Bürster

Helga Bürsters Roman wird zur atemlosen Lektüre, vielschichtig ineinander verschränkt , von ungeheurer Unmittelbarkeit. Die Autorin spiegelt die Gegenwart ebenso, wie sie Unverdautes an die Oberfläche reisst. “Als wir an Wunder glaubten“ ist sowohl dramaturgisch wie sprachlich Feinkost.

Interview

Ihr Buch beruht auch auf einem Prozess, der 1956 gegen einen Mann geführt wurde, der es mittels fragwürdiger Methoden und Behauptungen schaffte, ein ganzes Dorf durch Aberglauben und Hexenbanner-Tätigkeit gegen einzelne Frauen aufzuwiegeln. Kein Mittelalterprozess, sondern ein Teil des 20. Jahrhunderts. Die Coronazeit hat verdeutlicht, dass auch die Gegenwart nicht vor den abstrusesten Verschwöhrungs- und Erklärungsversuchen gefeit ist. So wie es die Religion für Jahrhunderte schaffte, auf schwierige Fragen einfache Antworten zu geben, schaffen dies auch Diktaturen bis in die Gegenwart. Dort hocken die Schuldigen, vernichten wir sie. Wir schaffen es zwar auf den Mond, aber erliegen der grassierenden Dummheit trotzdem. Macht sie das nicht manchmal mutlos.
Um ehrlich zu sein: Ja, es frustriert mich. Wenn es eng wird, wird das Denken, so scheint es, zur Qual. Es wird anstrengend, die vielen Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß, die Zwischentöne in all dem Gebrüll, noch wahrzunehmen. Zu viel Komplexität verwirrt. Einfache Antworten sind gefragt. Der Diskurs wird unversöhnlich, befeuert noch vom Barbarismus im Internet. In unseren Köpfen brennen die Scheiterhaufen. Aber, um auch dies zu hinterfragen: Wir dürfen die vielen Menschen nicht vergessen, die tagtäglich dagegen anleben. Es gibt, wie immer, Hoffnung. 

Viele leben im irrigen Glauben, der 2. Weltkrieg wäre mit der Kapitulation des Dritten Reichs zu Ende gegangen. Ihr Roman ist die Verdeutlichung dieses Irrglaubens. Kriege hallen und wirken nach. Unrecht hallt und wirkt nach. Nicht auszudenken, was mit all den Wunden passiert, die aktuelle Kriege aufreissen. Wer heute durch Berlin geht und nicht viel über das vergangene Jahrhundert weiss, sieht nichts. Da steht wohl ein Mahnmal, dort ein Museum. Aber man sieht nur, wovon man weiss. War das Schreiben dieses Romans Museum und Mahnmal zugleich?
Kriege gehen nie mit dem Friedensschluss zu Ende. Zwar fallen keine Bomben mehr, aber die Schrecken wirken über Generationen weiter. Von transgenerationellen Tramata ist hier die Rede. Ich kenne das aus meiner eigenen Familie. Die Aufarbeitung, wenn sie überhaupt stattfindet, ist zäh, schmerzvoll und schambehaftet. Warum sollte man im Frieden noch am Krieg leiden? Nach den Lesungen kommen immer Menschen, die ihr eigenes Erleben erzählen. Oft wissen Betroffene gar nicht, dass die Panik, die sie manchmal überfällt (um nur ein Beispiel zu nennen) nicht ihnen gehört, sondern der Mutter, dem Grossvater, Onkel und Tanten, die im Krieg Schreckliches erlebt haben. Um besser damit umgehen zu können, bräuchte es Bildung, Bildung und nochmal Bildung. Wie hängen die Dinge zusammen, was war vor uns, woher kommen wir, wohin gehen wir. Nur so könnten wir, um in Ihrem Beispiel zu bleiben, einer Berliner Fassade seine Geschichte ablauschen. Oder einer räudigen Moorhütte. So gesehen ist der Roman Museum und Mahnmal zugleich und ein bisschen auch Therapie.

eine trocken gelegte Moorlandschaft © Helga Bürster

Jeder, der in einem Dorf aufgewachsen ist, weiss von der Eigendynamik einer Dorfgemeinschaft. Einer Gemeinschaft, die wirklich Gemeinschaft sein kann, aber in seiner Enge und Nähe auch unkontrollierbare Feuer entfachen kann. Hier die dörfliche Unausweichlichkeit, dort die Anonymität der Stadt. Magazine wie „Landleben“ nähren eine Sehnsucht; jene nach Unmittelbarkeit und Authentizität. Die Stadt suggeriert „unbegrenzte Möglichkeiten“. Sind wir nicht genauso Opfer unserer Sehnsüchte wie unserer Ängste?
Ich wüsste nicht, wie wir das vermeiden könnten. Ich habe in der Stadt gelebt und mich nach dem Land gesehnt, nun lebe ich auf dem Land und sehne mich immer mal wieder nach der Stadt. Habe ich ein paar Tage Berlin hinter mir, bin ich froh, in mein stilles Dorf zurückzukehren. Sitze ich wochenlang einsam an meinem Schreibtisch, muss ich raus in die Grossstadt, um zu spüren, dass ich noch lebe. Es kommt darauf an, wie ich damit umgehe. Mein Rezept heisst Abstand von mir selbst und ein Schuss Selbstironie. Solange ich mich selbst hinterfrage, bin ich kein Opfer. Aus solchen Ambivalenzen entstehen Stoffe für Geschichten. Es ist anstrengend, aber ich liebe es. 

Katie, eine Hausiererin, von vielen argwohnisch beobachtet, taucht eines Tages nicht mehr mit dem Handwagen vor Ediths bescheidenem Hof auf, sondern aufgemotzt mit einem Auto und dem Versprechen, auch Edith etwas von dem Wohlstand ins Haus zu bringen. Edith soll Spitzenwäsche schneidern, neben erotischen „Hilfsmitteln“ ein neues Geschäftsfeld von Katie, die so etwas wie eine Freundin Ediths wurde. Ein bisschen die Geschichte von Beate Uhse. Eine Frau, der der Erfolg Recht gab, die aber an ihrer Kollaboration mit den „Dorfhexen“ hätte scheitern können. Warum schafft Beate Uhse, was in der kleinbürgerlich verklemmten Gesellschaft der Nachkriegsjahre so gar nicht hineinzupassen schien?
Was mich bei den Recherchen fasziniert hat, war der Umstand, dass es nach dem Krieg ein grosses weibliches Bedürfnis nach sexueller Freiheit gab und ich war überrascht, wie offen und modern die vermeintlich muffigen 50er Jahren auch waren. Die Frauen, im Krieg als Gebärmaschinen und Lückenbüsser missbraucht, hatten die Nase gehörig voll. Beate Uhses «Schrift X», ein Aufklärungsheftchen, in dem es u.a. um Verhütung ging, fiel da auf sehr fruchbaren Boden, nicht nur in der Stadt. Es wurde zum heimlichen Bestseller. Die Frauen hatten gewaltig an Selbstbewusstsein gewonnen. Die Scheidungsrate war immens hoch. Es brodelte so gewaltig in der Gesellschaft, dass sich sogar der Bundestag mit dem «Zerfall der Familie» beschäftigte. Ich war erstaunt, dass dies heute so wenig bekannt ist. Aus diesem Grunde habe ich Katy ein bisschen von der Biografie Beate Uhses angedichtet, obwohl Frau Uhse nicht als Einzige in Sachen Erotik unterwegs war, aber sie war die erfolgreichste. 

Moorsee © Helga Bürster

Männer sind tot oder Fracks, verwundet, traumatisiert, aus den Angeln gehoben oder Verdränger. Nach einem Krieg, der sechs Jahre dauerte und Millionen von Toten forderte, kein Wunder. Frauen halten zusammen, was übrig blieb, kompensieren, räumen auf. Auch in den Kriegen der Gegenwart sind Rollenverteilungen alles andere als „modern“. Ändert sich nicht erst dann wirklich etwas, wenn man „Menschsein“ über das Rollenmodell und das Geschlechtliche hinaus zu leben beginnt?
Auf jeden Fall. Wenn wir nicht mehr in Geschlechtern denken, wenn Stereotype, dass eine Frau besser pflegen und ein Mann besser den Hammer schwingen kann, endlich der Vergangenheit angehörten, wenn alle Arbeit gerecht verteilt wäre, je nach Fähigkeit und Neigung, erst dann hätten wir echte Gleichberechtigung. Eine schöne Vorstellung. 

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR Hörspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Debüt «Luzies Erbe«.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Uwe Stalf/Insel 

Helga Bürster «Luzies Erbe», Insel

Johanne ist bei Luzie, als diese stirbt. Luzie, Johannes Grossmutter, fast hundert, war zeitlebens eine, die nicht viel sprach, das «Masur’sche Schweigen» wie eine schallschluckende Glocke über die Familie hängte. Und nun ist sie tot, nimmt alle Geheimnisse mit hinein in dieses grosse letzte Schweigen. Aber Johanne lässt das, was seit Generationen über der Familie Liebe schluckte, nicht los.

Vier Generationen versammeln sich im Haus von Luzie, als diese aufgebahrt in ihrem Zimmer liegt. Ihre beiden Töchter Helene und Thea, beide selbst in die Jahre gekommen, Helenes Tochter Johanne und später auch deren Tochter Silje, die noch studiert. Erdbestattung oder Urne? Thea und ihr Mann unter dem gleichen Dach schlafen, während Luzie tot daliegt? Während sich unter Luzies Töchter wie so oft der Streit entfacht, flieht Johanne in den Keller, bügelt lieber, als sich den Streitereien der beiden auszusetzen. Johannes Schmerz und Trauer mischt sich mit der Verzweiflung darüber, allein gelassen zu sein, allein mit dem, was nie zur Sprache kam, dem Geheimnis um einen Makel in der Familie, der wie ein eitrig gewordener Splitter aus der Vergangenheit ausstrahlt.

Helene und Thea hätten einen Vater. Aber man sprach von ihm höchstens als Pronomen. Er war ein Geist. Genauso wie Luzies Bruder, der nie aus dem Grossen Krieg zurückkehrte, wie Luzies einstmals Verlobter, der von der Bildfläche verschwand. Luzies Töchter nahmen das Schweigen ihrer Mutter hin, akzeptierten, dass das, was während des Krieges geschah unter dem Deckel des Mazur’schen Schweigens ruhen sollte. Und nun, nach dem Tod ihrer Grossmutter, soll Johanne akzeptieren, was jahrzehntelang sein Gift aussandte?

Auf einem der vielen Schränke in Luzies Haus liegt ein alter metallener Koffer, seit Jahrzehnten, stets bereit, mitgenommen zu werden, aus der Angst, man würde dereinst wieder fliehen müssen. Johanne nimmt den Koffer mit nach unten in den Keller, findet Fotos, Dokumente, Briefe von Luzies Bruder von der Front – und ganz unten in einer Blechdose etwas von dem, was den Deckel lüftet.

Helga Bürster verwebt die Geschichte von Luzies Familie, Luzies Leben während und kurz nach dem Grossen Krieg und jenes des totgeschwiegenen Grossvaters Jurek, jenes polnischen Zwangsarbeiters, in den sich Luzie in den Wirren des Krieges verliebte und aus Rassenschande zwei Kinder wurden. Helga Bürster erzählt, dass der Krieg mit einer Kapitulation nicht vorbei und schon gar nicht ausgestanden ist, wie sehr sich die Verletzungen in jene einfrassen, die nach Mai 1945 das Leben wiederaufnehmen sollten. Johanne nimmt die Spur auf zu jenem Mann, den der Krieg wie einen Kiesel in deutsche Gefangenschaft spülte, an den Hof von Luzies Familie, der die Liebe genauso wie unsäglichen Kummer mitbrachte. «Luzies Erbe» ist, wie Helga Bürster in einem Nachwort schreibt, die Geschichte ihrer eigenen Grossmutter. «Wenn man mit einem solchen Schweigen aufwächst, lernt man zu lauschen», schreibt Helga Bürster. «Luzies Erbe» ist das Erbe von Generationen. Deshalb so wichtig, dass davon erzählt wird. Und Helga Bürster tut dies hervorragend!

© Uwe Stalf

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/NDR sowie vom SWR einige Hörspiele von ihr ausgestrahlt.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Philipp Lyonel Russell «Am Ende ein Blick aufs Meer», Insel

Frederick Bingo Mandeville, Meister der Selbstinszenierung, schon als Kind mit dem Namen „Spassvogel“ markiert, wird britischer Schriftsteller, ein Gigant im Literaturbetrieb mit über 50 Romanen. Und doch bleibt am Schluss eines langen Lebens nur der schwere Stein auf dem Friedhof über einem Komet, der in der Grube langsam erkaltet.

Ich nahm den Roman nur schon zur Hand, weil ihn der Schriftsteller Christoph Hein vom Amerikanischen ins Deutsche übersetzte. Der Name des Übersetzers, eines Schriftstellers, den ich seit Jahrzehnten überaus schätze, musste doch Garant und Versprechen genug sein, denn über das Pseudonym Philipp Lyonel Russell sind zumindest bis jetzt keine Rätsel zur knacken.

Frederick Bingo Mandeville geniesst bis kurz vor seinem Tod eine Sonderstellung, schon als ihn die Hebamme in die Wiege, die Ammen an ihre Brüste legten. Ein Sonnenkind. Ein Kind, das sich auch nicht grämt, als sich die Eltern wieder in den fernen Osten absetzen, um dort den hehren Aufgaben für Vaterland und Krone weiterzudienen und den Kleinen zusammen mit seinen Schwestern den Tanten überlassen.
Bingo erobert seine Welt im Sturm, obschon er von seinem Ammenduo gemästet zeitlebens den Speck nicht mehr ablegt. Trotz seiner Fülle, obwohl er in der Schule und später als Jugendlicher weder beim Militär noch im Sport zu reüssieren vermag, liegen ihm die Menschen zu Füssen. Denn Bingo kann eines wie kein anderer; erzählen. Zuerst gegen den Willen seiner Eltern in kleinen Theatern in London, später in Übersee vor immer zahlreicheren Zuschauern und Zuhörern, dann in der ‚Abtei‘, der Drehbuchwerkstatt von MPPC in Fort Lee nahe New York, dort, wo in prehollywood’schen Zeiten die zaghafte Filmgeschichte der USA begann. Schon dort beginnt Mandeville zu schreiben, Romane, die er in Schliessfächern zurückhalten muss, weil er vertraglich ganz an seinen rigiden Arbeitgeber gebunden ist.

Aber nachdem er, der allen Frauen gegenüber stets zuvorkommend und niemals aufdringlich war, eine Frau kennenlernt und von ihr zukünftig getragen wird, startet er als erfolgreicher Schriftsteller durch. Von den Fesseln der Filmindustrie und des Alltags befreit, schreibt sich Mandeville in die Herzen der Amerikaner genauso wie in jene der Europäer. Nur nicht ins Herz seines Vaters, der sich noch immer schämt über seinen aus vom britischen Selbstverständnis emanzipierten Sohn.

Frederick Bingo Mandeville ist zufrieden. Er schreibt in seinem Arbeitszimmer mit Sicht aufs Meer, seine Frau tut alles, dass er es ungestört tun kann und seine Romane verkaufen sich wie warme Semmeln.
Selbst als auf dem alten Kontinent der Krieg ausbricht, ist das nichts, was mit der Welt Frederick Bingo Mandeville zu tun hat, auch nicht in den Welten seiner Romane, die nicht abbilden sollen, womit die Gegenwart zu kämpfen hat. Mandevilles Romane sollen Erholung sein, eine Auszeit bedeuten. Selbst als England Deutschland den Krieg erklärt, glaubt er an einen Sitzkrieg, einen Drôle de guerre, einen Zustand, der mit britischer Diplomatie zu entschärfen ist. Bis deutsche Soldaten auf seinem Grundstück in Boulogne-sur-Mer auftauchen und den Schriftsteller im Viehwagon nach Spittal in Kärnten karren, in ein Internierungslager für Engländer. Aber selbst dort inszeniert er sich als „Spassvogel“, tut, was er wie kein anderer kann; Menschen mit spitzer Zunge unterhalten, selbst als ihn die Nazipropaganda über Radio Germany Calling erzählen lässt, wie fein man sich um die englischen Internierten kümmert.

Mandeville merkt nicht, isoliert von allen Informationen über den katastrophalen Kriegsverlauf, dass ihn seine britische Heimat zum Verräter abgestempelt hat. Nach dem Krieg nützen alle Beschwichtigungsversuche nichts. Sein Stern schwindet, seine Romane sollen vergessen werden, die Welt, sein Publikum wendet sich ab.

„Am Ende ein Blick aufs Meer“ ist ein Roman über Verblendung. Frederick Bingo Mandeville erzählt zwar, filtert seine Wahrnehmung nach dem, was in seiner geschlossenen Welt Verwendung findet, sieht aber nicht. Sieht nicht, was Leben ausmacht, sondern verkauft in Geschichten verpackt, was sein Publikum hören und lesen will. Frederick Bingo Mandeville ist ein Mann, der sich in seinem ganzen Tun der Welt mit grossem Erfolg verschliesst, dem der Erfolg recht gibt. Bis das Weltgeschehen ihn dafür straft. In der Gegenwart fordert man von keiner anderen Kunst wie der Schriftstellerei Haltung der Welt, dem Weltgeschehen gegenüber. Die Gegenwart zeigt, wie sich Autoren mit nicht mehrheitsfähiger Meinung ins Abseits reden und schreiben können (Peter Handke mit seiner Sicht auf Serbien, Uwe Tellkamp zu Flüchtlingspolitik). Selbst die Naivität eines grossen Autors wie Frederick Bingo Mandeville im Roman von Philipp Lyonel Russell wird gnadenlos bestraft.

„Am Ende ein Blick aufs Meer“ ist meisterhaft erzählt und ins Weltgeschehen eingeflochten. Ein Roman, dem man vielleicht vorhalten kann, dass einem als Leser die eigentliche Hauptperson seltsam fern bleibt. Aber vielleicht ist das Absicht, denn auch der Protagonist selbst bleibt sich fern, eingebettet in eine Welt nach seinem Geist, ein Leben lang über den Boden der Realität getragen, eingepackt in eine dicke Schicht isolierendes Fett.

Philipp Lyonel Russell wurde 1958 in der englischen Grafschaft Suffolk geboren und lehrt seit 1986 an Universitäten der Ostküste der Vereinigten Staaten, derzeit hat er einen Lehrstuhl in Boston inne. Er hat sich als Autor und Mastermind der National Science Foundation einen Namen gemacht. Seinen neuen Roman veröffentlicht er unter dem Pseudonym Philipp Lyonel Russell.

Christoph Hein, der Übersetzer, (1944) lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er verfasste ein umfangreiches Werk und gilt als einer der Grossen der Deutschen Gegenwartsliteratur.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Martin Prinz «Die unsichtbaren Seiten», Insel

Nichts am Roman «Die unsichtbaren Seiten» ist spektakulär. Aber genau das ist das Spektakuläre am zweiten Roman des Österreichers Martin Prinz. Mit dem Tod seines Grossvaters, einer prägenden Figur in seinem Leben, spürt er seiner Vergangenheit nach, den Generationen vor ihm, der Frage, wie und warum man der geworden ist, der man ist. Es ist die Behutsamkeit seines Schreibens, die Unmittelbarkeit ohne einen Anflug von Exhibitionismus, die Klarheit der Linien, die wunderbar überzeugen.

Wer «Die unsichtbaren Seiten» liest, dem verschliesst sich nicht, dass sich alles an diesem Roman klar verorten lässt. Lilienfeld liegt südlich von St. Pölten, nicht weit von Wien. Ein kleiner Ort, in dem jeder jeden kennt, in dem sich die Strukturen, nicht zuletzt die politischen, bis in die Gegenwart scheinbar klar und eindeutig zeigen. Nach dem Krieg wird dort der Grossvater des Erzählenden Bürgermeister, der «König von Lilienfeld» und amtet fast drei Jahrzehnte.

Als der Grossvater stirbt und ein Haus voller Erinnerungen zurücklässt, streift der Enkel durch das leere Haus und fängt die Stimmen ein, die von überall her, aus allen Dingen und Gegenständen, vor allem aus Fotografien zu ihm sprechen. Fragen, die jedem mehr oder weniger gestellt werden, der sich nach dem Sterben eines Verwandten an den Nachlass machen muss, um das zu retten, was einst wichtig war und nun droht, entsorgt zu werden. Stimmen, die Geschichten erzählen und verschwinden, wenn die Erinnerung an den Verstorbenen zu verblassen droht.

«Die unsichtbaren Seiten» ist keine Abrechnung, da wird nichts aufgedeckt, niedergerissen oder durchleuchtet. Martin Prinz zeichnet unaufgeregt mit der perfekten Mischung aus Distanz und Nähe. Selbst jene Verwandten, die der Erzählende nie wirklich durchschaut, die ihm fremd, auf Distanz bleiben, schildert er mit derart feiner Wahrnehmung, dass aus Distanz Respekt, Liebe wird. Und weil nichts im Erzählstrom aufwirbelt, bleibt der Blick des Lesenden klar, stets vom Geschehen mitgerissen, von der Sprache fasziniert.

Martin Prinz erzählt von jenem Moment an, wo der Erzählende die Welt als solche erkennt. Der erste Teil des Romans ist die langsame Eroberung der Welt eines kleinen Jungen. Er spürt Menschen, ihren Verbindungen, den Ausstrahlungen, den Häusern und Orten nach, sieht zu Beginn mit den Augen eines Kindes. Er sinniert im Verlaufe des Romans immer mehr über die Veränderungen im Grossen und im Kleinen. Er leuchtet einen Ort, ein Geflecht aus, das sich im Laufe der Zeit immer mehr vom Lebensort zum Schlafort wandelt, in dem alles zu verschwinden droht, was Leben und Gemeinschaft über die eigenen Hausmauern hinaus ausmachte. Man spürt Heimweh, die Nähe und Unmittelbarkeit verloren zu haben, jenes kindliche Aufgehobensein ohne Deutungszwang. Die Erinnerung an Geräusche und Gerüche, die ihre entsprechenden Bilder verloren haben. An eine Zeit, in der man sich nicht mit Hobbys vor der Langeweile schützen musste, in der Arbeit Leben bedeutete und Leben Arbeit.

«Die unsichtbaren Seiten» erzählt von den unsichtbaren Seiten. Ein Buch, das sich am literarischen Himmel diametral von Krimis und emotionsgeladener Action unterscheidet. Einem Stück Literaturhimmel, in dem es sehr ruhig geworden ist. Es beschreibt, was sonst schnell nicht der Rede wert ist, schon gar kein Buch. «Die unsichtbaren Seiten» ist eine Liebeserklärung an das Leben und all jene, ohne die man niemals der geworden wäre, der man ist!

© Lukas Beck

Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld (Niederösterreich), studierte Theaterwissenschaft und Germanistik und lebt als Schriftsteller in Wien.

Martin Prinz liest.

Beitragsfoto © Sandra Kottonau