„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein Roman darüber, wie sehr wir Menschen uns von scheinbaren Gewissheiten leiten lassen wollen, wie leicht wir uns in Ausweglosigkeiten verrennen und wie naiv das Sprichwort ist, Zeit würde Wunden heilen. Die Zeit heilt nichts. Was nicht ausgestanden ist, sickert nur tiefer, selbst wenn wir darüber eine heile Welt errichten.
Das der 2. Weltkrieg mit der Kapitulation zu Ende ging, liest man wohl in Geschichtsbüchern, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Genauso wie die Vorstellung, die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts hätten sich endgültig vom irrigen Glauben verabschiedet, die Welt wäre durchsetzt von bösen und unheilvollen Kräften. Wir brauchen Erklärungen und wenn nötig Schuldige, denen wir das eigene Unvermögen, all das Unerklärliche, das sich nicht leugnen lässt, aber auch die eigene Dummheit und die eigenen Fehler unterjubeln lassen.
Als das Tausendjährige Reich in Schutt und Asche lag, war das Leiden noch lange nicht zu Ende. Da war der Schmerz über all das Leid, das der Krieg und der Nationalsozialismus über Europa und die ganze Welt brachte, die Verwundeten an Leib und Seele, das Grauen, das sich nicht nur in Lagern abspielte, sondern überall, nicht zuletzt auch in den Herzen und Köpfen der Betroffenen. Da waren Heerscharen an Leib und Psyche Verwundeter, Versehrter und Verkrüppelter, die aus dem Krieg oder Jahre oder Jahrzehnte später aus Lagern zurückkehrten, unfähig, dort weiterzumachen, wo man sie herausgerissen hatte. Da waren die Zurückgebliebenen, Frauen und Familien, die nicht nur das Leben aufrecht zu erhalten hatten, sondern auch den Glauben an eine bessere Zukunft. Da war eine Nation, ein „Volk“, das man zum Führerglauben erzogen hatte, das in strengem Gehorsam Wegschauen und Verdrängen gelernt hatte. Wie hätte man vom strammen Glauben an einen Endsieg so einfach das eigene Denken reaktivieren sollen, die Selbstverantwortung.
Man hatte den Massen jahrzehntelang eingebleut, dass Andersgläubige und Andersdenkende für das eigene und kollektive Versagen und Unvermögen verantwortlich wären. Wie sollten jene Massen mit dem erklärten Ende des Krieges so einfach aus einem „bösen“ Traum erwachen, wenn man sie ein halbes Leben in die eine Richtung drillte?
Helga Bürster erzählt von einem Moordorf; Unnenmoor, nicht weit von Oldenburg. Noch vor dem Krieg heirateten die beiden Freundinnen Edith und Annie. Aber von beiden Männern kam ziemlich schnell kein Zeichen mehr von der Front. Während sie als verschollen galten, hatten die beiden Frauen in der Heimat zu kämpfen; Edith gegen das Klischee, das man mit ihren flammend roten Haaren verband und Annie mit dem stummen Sohn Willi, den sie kaum zu bändigen weiss. Beide sind eingespannt in ihre Pflichten als Zurückgelassene und ausgesetzt als Frauen, die man für eigene Zwecke einspannen will. Im Dorf, etwas ausserhalb, lebt Guste, die ihren Mann schon während des ersten Weltkriegs verloren hatte, die ihr Alter längst vergessen hat und in ihrer Kate lebt, als wäre sie noch Jahrhunderte vom anbrechenden Fortschritt entfernt. Betty, Ediths Tochter, die Guste immer wieder mal einen Topf mit Suppe bringt, freundet sich mit der alten Guste an, eine Freundschaft, die ebenso argwöhnisch beobachtet wird, wie die Tatsache, dass sich ihre Mutter mit dem Dorfjournalisten anfreundet, wo doch nicht einmal klar ist, ob Ediths Mann aus dem Krieg zurückkehren wird.
Eines Tages kehrt dann wirklich einer zurück. Einer, der nicht nur beide Beine in einem russischen Sumpfloch zurückgelassen hatte, sondern sämtliche Erinnerungen. Das einzige, was blieb, war ein Ring mit eingraviertem Namen, der aber auf keinen seiner Finger passte. Je näher der Versehrte der Gegend kommt, in der man seine Sprache spricht, desto mehr bricht Erinnerung hervor. Erst glaubt er Otto, der Mann einer Edith zu sein, bis Annie feststellt, dass es Joseph, ihr Mann ist. Da ist einer zurückgekehrt. Aber schon nach wenigen Wochen bricht durch, was der Versehrte an Grauen mit aus dem Krieg nahm. Genauso wie das, was im Dorf und im Lager am Rande des Dorfes in den verwundeten Seelen der Einwohner weiterwirkt.
Edith soll für alles Mögliche und Unmögliche im Dorf verantwortlich sein, sie sei eine Hexe, so wie die alte Guste, und mit Sicherheit auch Ediths Tochter Betty. Während Joseph sich kaputtsäuft, der ehemalige Lageraufseher Fritz Renken als «Spökenfritz» und Wunderheiler den Dorfbewohnern die Welt erklärt und sie gegen Edith aufhetzt, während man mit einem riesigen Moorpflug, dem Mammut, die Untiefen der Moorlandschaft in fruchtbare Wiesen umzugraben beginnt und damit dem Fortschritt den Weg ebnen will, heizen sich die Geister, die wirklichen und unwirklichen, an den Verschwörungstheorien der Unbelehrbaren auf.
Helga Bürsters Roman wird zur atemlosen Lektüre, vielschichtig ineinander verschränkt , von ungeheurer Unmittelbarkeit. Die Autorin spiegelt die Gegenwart ebenso, wie sie Unverdautes an die Oberfläche reisst. “Als wir an Wunder glaubten“ ist sowohl dramaturgisch wie sprachlich Feinkost.
Interview
Ihr Buch beruht auch auf einem Prozess, der 1956 gegen einen Mann geführt wurde, der es mittels fragwürdiger Methoden und Behauptungen schaffte, ein ganzes Dorf durch Aberglauben und Hexenbanner-Tätigkeit gegen einzelne Frauen aufzuwiegeln. Kein Mittelalterprozess, sondern ein Teil des 20. Jahrhunderts. Die Coronazeit hat verdeutlicht, dass auch die Gegenwart nicht vor den abstrusesten Verschwöhrungs- und Erklärungsversuchen gefeit ist. So wie es die Religion für Jahrhunderte schaffte, auf schwierige Fragen einfache Antworten zu geben, schaffen dies auch Diktaturen bis in die Gegenwart. Dort hocken die Schuldigen, vernichten wir sie. Wir schaffen es zwar auf den Mond, aber erliegen der grassierenden Dummheit trotzdem. Macht sie das nicht manchmal mutlos.
Um ehrlich zu sein: Ja, es frustriert mich. Wenn es eng wird, wird das Denken, so scheint es, zur Qual. Es wird anstrengend, die vielen Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß, die Zwischentöne in all dem Gebrüll, noch wahrzunehmen. Zu viel Komplexität verwirrt. Einfache Antworten sind gefragt. Der Diskurs wird unversöhnlich, befeuert noch vom Barbarismus im Internet. In unseren Köpfen brennen die Scheiterhaufen. Aber, um auch dies zu hinterfragen: Wir dürfen die vielen Menschen nicht vergessen, die tagtäglich dagegen anleben. Es gibt, wie immer, Hoffnung.
Viele leben im irrigen Glauben, der 2. Weltkrieg wäre mit der Kapitulation des Dritten Reichs zu Ende gegangen. Ihr Roman ist die Verdeutlichung dieses Irrglaubens. Kriege hallen und wirken nach. Unrecht hallt und wirkt nach. Nicht auszudenken, was mit all den Wunden passiert, die aktuelle Kriege aufreissen. Wer heute durch Berlin geht und nicht viel über das vergangene Jahrhundert weiss, sieht nichts. Da steht wohl ein Mahnmal, dort ein Museum. Aber man sieht nur, wovon man weiss. War das Schreiben dieses Romans Museum und Mahnmal zugleich?
Kriege gehen nie mit dem Friedensschluss zu Ende. Zwar fallen keine Bomben mehr, aber die Schrecken wirken über Generationen weiter. Von transgenerationellen Tramata ist hier die Rede. Ich kenne das aus meiner eigenen Familie. Die Aufarbeitung, wenn sie überhaupt stattfindet, ist zäh, schmerzvoll und schambehaftet. Warum sollte man im Frieden noch am Krieg leiden? Nach den Lesungen kommen immer Menschen, die ihr eigenes Erleben erzählen. Oft wissen Betroffene gar nicht, dass die Panik, die sie manchmal überfällt (um nur ein Beispiel zu nennen) nicht ihnen gehört, sondern der Mutter, dem Grossvater, Onkel und Tanten, die im Krieg Schreckliches erlebt haben. Um besser damit umgehen zu können, bräuchte es Bildung, Bildung und nochmal Bildung. Wie hängen die Dinge zusammen, was war vor uns, woher kommen wir, wohin gehen wir. Nur so könnten wir, um in Ihrem Beispiel zu bleiben, einer Berliner Fassade seine Geschichte ablauschen. Oder einer räudigen Moorhütte. So gesehen ist der Roman Museum und Mahnmal zugleich und ein bisschen auch Therapie.
Jeder, der in einem Dorf aufgewachsen ist, weiss von der Eigendynamik einer Dorfgemeinschaft. Einer Gemeinschaft, die wirklich Gemeinschaft sein kann, aber in seiner Enge und Nähe auch unkontrollierbare Feuer entfachen kann. Hier die dörfliche Unausweichlichkeit, dort die Anonymität der Stadt. Magazine wie „Landleben“ nähren eine Sehnsucht; jene nach Unmittelbarkeit und Authentizität. Die Stadt suggeriert „unbegrenzte Möglichkeiten“. Sind wir nicht genauso Opfer unserer Sehnsüchte wie unserer Ängste?
Ich wüsste nicht, wie wir das vermeiden könnten. Ich habe in der Stadt gelebt und mich nach dem Land gesehnt, nun lebe ich auf dem Land und sehne mich immer mal wieder nach der Stadt. Habe ich ein paar Tage Berlin hinter mir, bin ich froh, in mein stilles Dorf zurückzukehren. Sitze ich wochenlang einsam an meinem Schreibtisch, muss ich raus in die Grossstadt, um zu spüren, dass ich noch lebe. Es kommt darauf an, wie ich damit umgehe. Mein Rezept heisst Abstand von mir selbst und ein Schuss Selbstironie. Solange ich mich selbst hinterfrage, bin ich kein Opfer. Aus solchen Ambivalenzen entstehen Stoffe für Geschichten. Es ist anstrengend, aber ich liebe es.
Katie, eine Hausiererin, von vielen argwohnisch beobachtet, taucht eines Tages nicht mehr mit dem Handwagen vor Ediths bescheidenem Hof auf, sondern aufgemotzt mit einem Auto und dem Versprechen, auch Edith etwas von dem Wohlstand ins Haus zu bringen. Edith soll Spitzenwäsche schneidern, neben erotischen „Hilfsmitteln“ ein neues Geschäftsfeld von Katie, die so etwas wie eine Freundin Ediths wurde. Ein bisschen die Geschichte von Beate Uhse. Eine Frau, der der Erfolg Recht gab, die aber an ihrer Kollaboration mit den „Dorfhexen“ hätte scheitern können. Warum schafft Beate Uhse, was in der kleinbürgerlich verklemmten Gesellschaft der Nachkriegsjahre so gar nicht hineinzupassen schien?
Was mich bei den Recherchen fasziniert hat, war der Umstand, dass es nach dem Krieg ein grosses weibliches Bedürfnis nach sexueller Freiheit gab und ich war überrascht, wie offen und modern die vermeintlich muffigen 50er Jahren auch waren. Die Frauen, im Krieg als Gebärmaschinen und Lückenbüsser missbraucht, hatten die Nase gehörig voll. Beate Uhses «Schrift X», ein Aufklärungsheftchen, in dem es u.a. um Verhütung ging, fiel da auf sehr fruchbaren Boden, nicht nur in der Stadt. Es wurde zum heimlichen Bestseller. Die Frauen hatten gewaltig an Selbstbewusstsein gewonnen. Die Scheidungsrate war immens hoch. Es brodelte so gewaltig in der Gesellschaft, dass sich sogar der Bundestag mit dem «Zerfall der Familie» beschäftigte. Ich war erstaunt, dass dies heute so wenig bekannt ist. Aus diesem Grunde habe ich Katy ein bisschen von der Biografie Beate Uhses angedichtet, obwohl Frau Uhse nicht als Einzige in Sachen Erotik unterwegs war, aber sie war die erfolgreichste.
Männer sind tot oder Fracks, verwundet, traumatisiert, aus den Angeln gehoben oder Verdränger. Nach einem Krieg, der sechs Jahre dauerte und Millionen von Toten forderte, kein Wunder. Frauen halten zusammen, was übrig blieb, kompensieren, räumen auf. Auch in den Kriegen der Gegenwart sind Rollenverteilungen alles andere als „modern“. Ändert sich nicht erst dann wirklich etwas, wenn man „Menschsein“ über das Rollenmodell und das Geschlechtliche hinaus zu leben beginnt?
Auf jeden Fall. Wenn wir nicht mehr in Geschlechtern denken, wenn Stereotype, dass eine Frau besser pflegen und ein Mann besser den Hammer schwingen kann, endlich der Vergangenheit angehörten, wenn alle Arbeit gerecht verteilt wäre, je nach Fähigkeit und Neigung, erst dann hätten wir echte Gleichberechtigung. Eine schöne Vorstellung.
Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR Hörspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Debüt «Luzies Erbe«.
Beitragsbild © Uwe Stalf/Insel