Kristin Valla „Ein Raum zum Schreiben“, mare

Ach, wie wunderbar die norwegische Schriftstellerin Kristin Valla schreibend vom Schreiben erzählt! Man möchte ein Haus kaufen … aber erst einmal dieses Buch!

Gastbeitrag von Frank Keil

Es gibt eine Art Schlüsselszene in Kristin Vallas wunderschönem Buch „Ein Raum zum Schreiben“, da kommt einiges mit einem Mal zusammen: das Gefühl, bald etwas Schwieriges geschafft zu haben, das Wissen, sie kann sich auf sich und sie kann sich auf die Welt verlassen, und eine tiefe Ruhe, auf der sich aufbauen lässt. Sie hat den Bus genommen, der vom Bahnhof aus fährt, in das kleine Dorf, in das sie muss; also sie hofft, dass er bis dorthin fährt, der Bus und sein Fahrer, die Schrift des Fahrplans ist so klein, dass sie die einzelnen, aufeinanderfolgenden Stationen nicht zu entziffern vermag, vermutlich fährt er nicht so weit, wie er für sie fahren muss. Und nun sitzt sie in dem Bus, der sie von Ort zu Ort schaukelt, längst ist es dunkel, am Ende ist sie der einzige Fahrgast, der noch in dem Bus sitzt, einen ganzen Bus hat sie für sich allein, und der Fahrer wird an den letzten Station, die er für heute anzufahren hatte, nicht anhalten, er wird weiterfahren zu ihrem Dorf, erst dort wird er stoppen, und er wird mit einem Lächeln sagen: „Ich konnte Sie ja nicht einfach da stehen lassen.“


Kristin Valla, die norwegische Schriftstellerin, die sich ein Haus in Südfrankreich angelacht hat, hat in diesem, ihrem Buch viel zu kämpfen: Wird sie es schaffen, sich einen Raum zum Schreiben zu besorgen, ihn zu gestalten und dann in ihm zu schreiben? 

Gewiss, man denkt bei dem Buchtitel schnell an Virginia Woolf und ihr programmatisches Buch „Ein Zimmer für sich allein“, dass man als griffige Parole auch dann verwenden kann, wenn man es gar nicht gelesen hat – und natürlich werden wir noch Virginia Woolf begegnen. Erstmal aber geht es um einen Raum im umfassenden Sinne und bald um mehr als das: Es geht gleich um ein ganzes Haus, mit Küche und Badezimmer und Schlafgemach und über allem ein Dach, aus dem es leckt und tropft und rinnt, wenn es regnet, und es regnet auch in Südfrankreich oft und dann zuweilen recht ausgiebig, wie wir lesen werden, und kalt werden kann es auch, dass man sich alles anzieht, was man an Kleidung mitgebracht hat von daheim, wo man eigentlich lebt und wohnt und seine Familie hat (einen Mann, zwei Kinder, zwei Jungs).

Ein Haus lernen wir kennen, dass sich eine Schriftstellerin erst wünscht, dann sucht, dann kauft, auch wenn es Schulden-machen nach sich zieht (ihr Mann bürgt für den Kredit, aber es ist vor allem ihr Haus, ihr Risiko), und die dann nach und nach realisiert, was ein Haus zu besitzen bedeutet – um einen Ort für sich und ihr Schreiben erst zu finden und dann zu haben.

Kristin Valla „Ein Raum zum Schreiben“, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Mare, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 34.50, ISBN 978-3-86648-737-6

Aber erst einmal sind wir noch in Oslo, Kristin Valla, die recht erfolgreich als junge Schriftstellerin gestartet ist (gleich ihr erster Roman „Muskat“ wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter ins Deutsche; auch der zweite Roman lief nicht schlecht), hat seit Jahren kein Buch mehr veröffentlicht und – was wichtiger ist – sie hat sei Jahres keines mehr geschrieben. Stattdessen hatte sie beizeiten für lange Zeit einen festen Job als Redakteurin angenommen; die Sicherheit, das monatliche Gehalt Jahr für Jahr, die Lebensverlässlichkeit, die damit einher geht, das hat nicht nur Charme, das ist auch gut, wenn man Kinder hat, die auf ihre Romane folgten. Nicht nur Schriftstellerinnen bleiben in dieser Falle hängen, aber meistens sind es doch die Frauen, denen es so ergeht. 
Immerhin hat sie diese Anstellung nun gekündigt, als wir lesend dazukommen, sie arbeitet jetzt frei und selbstständig für dieses und jenes Magazin, aber wer gut ist und wer schreiben kann, und das eine ist sie und das andere kann sie, der bekommt eben Auftrag nach Auftrag nach Auftrag, und auch so vergeht die Zeit. Literarisch schreiben? Es gibt da ein paar Ideen, auch Skizzen, erste Entwürfe, doch ein Buch wird daraus noch lange nicht. Man muss es auch schreiben.

Und dann gibt es diesen einen Abend (wieder ein Schlüsselmoment, wie überhaupt Schlüsselmomente sich durch dieses Buch ziehen), ein Abend, wo sie den großen amerikanischen Romancier John Irving moderieren darf, im örtlichen Literaturhaus, große Bühne also, viel Publikum. Und hinterher gehen sie etwas essen, das macht man so, ein junger Schriftsteller-Kollege kommt hinzu. Die beiden Männer unterhalten sich schnell über das Schreiben und also über das Leben, und sie hört still zu.

Und warum erzählt sie ihrerseits nichts, warum beteiligt sie sich nicht am Gespräch? Sie hätte durchaus etwas dazu beizutragen, sie ist doch eine von ihnen! Oder nicht oder nicht mehr? Und tief verstört über ihr eigenes sich-unwichtig-machen, geht sie nach diesem Abend-zu-dritt grübelnd nach Hause, und bald wird sie sich auf die Suche nach jenem Raum zum Schreiben machen, findet ihn in diesem seltsam verwohnten Haus in Südfrankreich (das einer Schweizer Familie gehörte, die es nicht mehr haben wollte, die es Hals-über-Kopf verliess, allen möglichen Krempel, liess die Familie zurück, nur weg! Ist das ein gutes Zeichen?) und dass sie nun gekauft hat, obwohl mehr als tausend Gründe dagegensprechen. Das Haus in seinem Zustand, etwa.
Sie wird viel weinen in diesem Haus. Und sie wird immer wieder aufstehen und sich die Tränen vom Gesicht wischen und dann irgendetwas machen: aufräumen (oder es wenigstens versuchen), die Wände streichen (die Küche etwa wird knallgelb), Vorhänge aufhängen (in einem Gebrauchtwarenladen erstanden und nicht bei IKEA, wie sonst manches, Decken und Kissen für das kommende Wohlbehagen); sie wird versuchen das Haus mal ordentlich durchzuwärmen, damit man es überhaupt in ihm aushält.

Und zwischendurch geht sie auf literarische Reisen und schaut nach schreibenden Frauen, die gleichfalls ein Haus oder manchmal auch ein ganzes Gehöft erworben hatten, in dem sie glücklich oder unglücklich wurden oder beides nacheinander oder beides zugleich: Tania Blixens und Suzanne Brøggers und Sigrid Undsets Häuser lernen wir kennen; das elterliche, zuvor in Konkurs gegangene Gut von Selma Lagerlöf wird uns nahegebracht; bei Marguerite Duras schaut Valla erzählend vorbei, die zeitweise einen alten Bauernhof auf dem Lande, eine Wohnung am Meer und noch eine Wohnung in Paris besass und die zwischendurch so runter war mit dem Leben und dann mit den Nerven, dass sie das Schreiben morgens mit dem Leeren einer ersten Flasche Rotwein begann, womit sie glücklicherweise eines Tages aufhörte. Und auch bei Virginia Woolf wird vorbeigeschaut (ebenso bei Doris Lessing, bei Patricia Highsmith, die zeitweise zurückgezogenst in einem verschrobenen Dorf lebte, ohne Laden, ohne Bäcker, ohne Schlachter), und immer wieder wird sie von diesen Ausflügen zurückzukehren in ihr eigenes Haus, immer auch ein wenig mehr als erholt, manchmal geradezu gestärkt von den imaginierten wie recherchierten Besuchen in den Leben und in den Häusern der Anderen.

Und wie sie davon erzählt, wie sie zwischen den Orten und den Leben schreibender und Häuser-besitzender Frauen hin und her switcht, das ist einfach ganz wunderbar, wie es überhaupt sehr tricky ist, dass Kristin Valla gar nicht viel über ihr Schreiben schreibt. Nicht, an was sie arbeitet, was das Thema ist, erfahren wir; was die Geschichte ist, die sie entwickelt, die Handlungsstränge, die sie auslegt, die Erzähl-Perspektiven, mit denen sie experimentiert, womöglich, solche Sachen. Kaum bis wenig bis zuweilen nichts wird davon erzählt, nur dass ein Roman erscheinen wird (der erste seit sechzehn Jahren!) erzählt sie uns zum Ende hin, als sie sich eingelebt hat in ihrem Haus, auch in dem Dorf, das zum Haus gehört, zu dem sie von Norwegen aus das Flugzeug nehmen muss und dann den Mietwagen, Oslo liegt nun mal nicht gerade um die Ecke, und in den Ferien kommt die Familie mit und stört sich nicht an dem Chaos, das sie umgibt, sondern genießt das sanfte Durcheinander, dass sie selbst so oft in den Wahnsinn wirft.

Stattdessen erfahren wir viel über feuchte Wände, in denen der Schimmel steckt, wie zu riechen ist, kaum ist man durch die Tür und hat man eingeatmet. Über Steckdosen, die nicht angeschlossen sind, schreibt sie; über Deckenbalken, die ausgetauscht werden müssen, was nicht so einfach ist, wenn es um darunter stehende, tragende Wände geht, was man da macht. Aber sie beisst sich durch, Kristin Valla wird eine richtige Handwerkerin (gleich zu Anfang kauft sie sich einen Bohrer und eine Latzhose), durchsetzungsstark auch gegenüber den professionellen Handwerkern, die sie immer wieder engagieren muss, weil das Haus mit seinen Schäden und Macken schlicht eine Nummer zu gross für sie zu seien scheint.

Und wenn sie so ziemlich gen Schluss, so viel soll verraten werden, kurz davor ist, dieses Haus zu verraten, fügt sich alles auf wundersame Weise, und man liest dieses Buch mit immer wachsendem Vergnügen und immer öfter ist da dieser heimlicher Gedanke, man sollte sich auch ein Haus kaufen oder wenigstens eines mieten, manchmal, vielleicht.

Kristin Valla, aufgewachsen im norwegischen Nordland, ist Autorin, Journalistin und Lektorin und schreibt u. a. für das Dagbladet Magasinet und das Kulturmagazin K der Zeitung Aftenposten. Mit ihrem Roman «Das Haus über dem Fjord» eroberte sie 2022 die Herzen deutscher Leserinnen und Rezensentinnen.

Gabriele Haefs, geboren am Niederrhein, studierte Volkskunde, Vergleichende Sprachwissenschaft und Keltologie. Heute lebt sie in Hamburg und ist seit vielen Jahren freie Autorin und Übersetzerin u.a. aus dem Irischen und Norwegischen. Ihre Arbeit wurde vielfach prämiert, u.a. mehrmals mit dem Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen.

Beitragsbild © Julie Pike

«Es ist nicht leicht, Mensch zu sein» über «Wiederholung» von Vigdis Hjorth, S. Fischer (19)

Lieber Bär

„Die Zeit heilt Wunden“, sagt man und versucht zu trösten, sehr oft sich selbst. Aber gibt es Heilung, oder ist das, was wir unter Heilung verstehen, das Akzeptieren einer Verwundung, eine bleibende Narbe, die einem immer wieder einmal in Erinnerung ruft, was da einmal geschah. Du bist Arzt und weisst viel besser als ich, was Verletzungen mit uns machen. Dass sich solche Wunden, solche Verletzungen, die sich vielleicht nur oberflächlich schliessen, Jahrzehnte später wieder aufbrechen können, manchmal gar über Generationen.

Die Erzählerin, Vigdis Hjorth lässt in ihren Romanen keinen Zweifel darüber, ob es nicht doch Fiktion sein könnte, zieht sich in eine einsame Hütte in Nordamerika zurück und muss feststellen, dass ausgerechnet in dieser selbst gewählten Einsamkeit, die ihr doch eigentlich Erholung schenken sollte, etwas aufbricht, was Jahrzehnte in der Seele unter Verschluss war. Etwas, was mit Sicherheit in jedes Stück Gegenwart miteinwirkte.

Was damals geschah, als sie sechzehn war und an einem Tag im November jenen Tiefpunkt erreichte, der die Beziehung zu ihren Eltern unwiderruflich zu einem Alp machte, musste in diesem Buch niedergeschrieben werden. Ein junges Mädchen spürt, dass es an einem Wendepunkt in ihrem Leben ist. Dort, wo das Eine, Entscheidende endlich geschehen und aus ihr eine Erwachsene, eine Eingeweihte machen soll. Sie spürt es, weil es in der Schule, überall dort, wo sie mit Gleichaltrigen zusammentrifft, wie das Tor zu einer anderen Welt über allem schimmert, eine Art Sternentor. Etwas, das aus ihr etwas Ganzes macht, das ihr zeigt, wie sich wirkliches Leben anfühlen soll.

Aber ihr Elternhaus, allen voran ihre Mutter, begegnet diesem Drängen, dieser Sehnsucht, dieser ganz natürlichen Regung mit maximaler Angst, mit Misstrauen, mit der Furcht, dass das, was da geschehen könnte, auf sie und ihre Familie einbrechen könnte. Eine Mutter, die wie ein Geier über das Leben ihrer Tochter wacht, die in jeder Regung den Untergang, das Verkommene, das Unwiederbringliche sieht. Zwischen Mutter und Tochter reisst ein unüberwindbarer Graben auf, ein Graben aus Lügen, Verdächtigungen und Angst.

Vigdis Hjorth «Wiederholung», S. Fischer, 2025, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, 160 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-10-397690-8

Dabei hat die junge Frau doch nur den einen Wunsch; jenes Geheimnis zu lüften, das in ihrer Welt, unter ihren Freundinnen, dann, wenn sie sich mit den Jungs aus dem Ort in irgend einer Wohnung treffen, Musik hören, tanzen, Bier trinken, rauchen und knutschen als wilder Drang ankündigt. Dieser eine Moment, wenn sie der eine Junge, der schon etwas älter als sie ist, an der Hand nimmt, in ein Zimmer im Obergeschoss führt und tut, wovon sie weiss, dass es der grosse Anfang sein muss, das, wofür sie in ihrem Tagebuch den einen freien Platz reserviert hat.

Verletzungen geschehen unweigerlich, auch in Familien, in der Erziehung. Etwas vom schlimmsten an solchen Verletzungen, ist das Schweigen darüber, das Zudecken, das So-tun-als-ob, die Unfähigkeit, über den eigenen Schatten zu springen. Vigdis Hjorth Roman ist keine leicht verdauliche Kost, obwohl sich das Buch scheinbar leicht lesen lässt. Das liegt an der Sprache der Autorin, dem Umstand, dass da eine Frau aus jahrzehntelanger Distanz erzählt und zu ordnen versucht. Denn was damals geschah, hat ihr offenbart, was Sprache auszulösen vermag.

Ich begegnete der Autorin bei einem Literaturfestival in Österreich, lernte sie erst im Vorfeld dieses Festivals als Autorin kennen. Eine überaus streitbare Autorin, die mit ihren Romanen in Norwegen grosse Wellen warf, nicht zuletzt darum, weil sie ihre Familie zu ihrer Bühne machte.

Wie ist es Dir bei der Lektüre ergangen?

Liebgruss
Gallus

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Lieber Gallus

Dieses Buch, der Tipp von dir ist ein literarisches Meisterstück, existentiell, beklemmend und tiefbohrend. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die durch ein unausgesprochenes Geheimnis ihrer Familie gezwungen wird, alles allein schweigend zu tragen. Es geht um die Macht des Erinnerns und die Suche nach Wahrheit, darum, was Angst- und Schuldgefühle bewirken, wenn eine Aussprache nicht möglich ist.

Alles, was du vergessen willst, kehrt zu dir zurück, es sucht dich heim, so wahrhaftig, dass du das Gefühl hast, es noch einmal zu durchleben. Wiederholung ist der Ernst des Lebens.

Der sechzehnjährigen Frau gelingt es nur durch Alkohol, der ängstlichen Kontrolle ihrer Mutter kurz zu entkommen. Diese steht am Fenster, wenn sie heimkommt, sie will genau wissen, mit wem sie sich getroffen hat, ob geraucht oder Alkohol getrunken wurde. Dies übt so viel Druck aus, dass die Protagonistin zur «Bombe» wird, die genau das sucht, was die Eltern verhindern wollen. Eine Aussprache wird durch Angst- und Schuldgefühle verunmöglicht. Die Tochter kann ihr Tagebuch, das die Mutter eines Tages liest, nicht besprechen, beiderseits wird schweigend in Vermutungen gelebt, Hass entsteht. «Es ist nicht leicht, Mensch zu sein», wie der Vater geheimnisvoll ausspricht, nachdem er sich erstmals betrunken hat. Die Eltern haben ihrerseits eine Schuld, die nicht genau ausgesprochen wird, Missbrauch? 

Deshalb kam ich nicht auf die Idee, weder damals noch in den Jahren danach, Mutter Vorwürfe zu machen, weil sie mein Tagebuch gelesen hatte. Denn darum ging es nicht, nicht das war das Verbrechen, das Verbrechen war ein anderes, eines, mit dem keine von uns in Berührung kommen durfte, und ich war schon im Voraus schuldig. Ich verspürte starke Schuld.

Es gelingt Viridis Hjorth einzigartig, menschliches Verhalten atmosphärisch dicht und leidenschaftlich in Sprache umzusetzen. Spannend und tief berührend! Existentiell!

Ich wünsche diesem Buch viele Leserinnen und Leser.

Herzlich Bär

Vigdis Hjorth, 1959 in Oslo geboren, ist eine der meistrezipierten Gegenwartsautorinnen Norwegens. Sie ist vielfache Bestsellerautorin, wurde für ihr Werk unter anderem mit dem norwegischen Kritikerprisen und dem Bokhandlerprisen ausgezeichnet und war für den Literaturpreis des Nordischen Rates, den National Book Award sowie den International Booker Prize nominiert. 2023 erschien «Die Wahrheiten meiner Mutter», im Frühjahr 2024 der Roman «Ein falsches Wort». Nach Stationen in Kopenhagen, Bergen, in der Schweiz und in Frankreich lebt Vigdis Hjorth heute in Oslo.

Gabriele Haefs, geboren 1953, studierte Sprachwissenschaft in Bonn und Hamburg. Sie übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen, Schwedischen, Englischen, Niederländischen und Gälischen, u.a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt. 

Beitragsbild © Agnete Brun

Kristin Valla «Das Haus über dem Fjord», mare

Elin ist Journalistin in Oslo und kehrt in ihr Heimatdorf an der norwegischen Küste zurück. Ihre Mutter ist gestorben, das Elternhaus leer und Elin hat kein Interesse, jenes Haus wieder zu ihrem Zuhause zu machen. Während sie Ordnung in die Geschichte ihrer Familie zu bringen versucht, offenbaren sich Geheimnisse, die ein Leben dahinter öffnen.

Elins Kindheit war keine einfache. Sie endete abrupt, wie aus heiterem Himmel, an einem Sonntag, an dem man die Verwandtschaft besuchen wollte. Elin hätte mit ihren Eltern und den beiden Brüdern fahren sollen. Aber weil es mit der Zehnjährigen wie immer Probleme gab, sie nicht wollte, wie es die Mutter wollte, fuhren Vater und die Brüder alleine – und kamen nie zurück.

Bauarbeiten wegen einer Umfahrungsstrasse und ungünstiger Untergrund verursachten an jenem Sonntag einen gewaltigen Erdrutsch an Norwegens Küste, liessen scheinbar festen Untergrund zu einem zähen Brei werden und riss alles mit und weg, was der Zufall nicht zu retten wusste. Elins Brüder fand man tot und ihr Vater wurde irgendwann für tot erklärt, obwohl man seine Leiche nie finden konnte.

Kirstin Valle «Das Haus über dem Fjord», mare, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, 2022, 320 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-86648-649-2

Mehr als zwei Jahrzehnte später ist Elin wieder da. Das Trauma der Zehnjährigen ist in den Tiefen ihrer Vergangenheit versenkt. So wie sich die Mutter in den Jahren vor ihrem Tod mit Nippes zudeckte, jeden Zentimeter im Haus mit leerem Zeug belegte, so legte sich Schicht um Schicht über die Trauer, die Angst, die Ungewissheit und eine Ordnung, die geholfen hätte.
Jetzt will sie Ordnung, ein letztes Mal sauber machen, das Haus verkaufen, abschliessen, was vom alten Leben übrig ist. Beim Aufräumen findet sie auch den letzten Terminkalender ihres Vaters. Sie blättert und stellt mit Befremden fest, dass alle Einträge ihres umtriebigen Vaters mit dem Tag seines Verschwindens enden. Die Seiten nach jenem Sonntag vor 22 Jahren blieben leer. Wie kann jemand, der bei einer Naturkatastrophe ums Leben kommt, wissen, dass es danach nichts mehr zu tun und zu erinnern gibt? Elin stutzt. Elin erfährt auch von Konten auf der Bank, die wohl grosse Beträge auswiesen, aber Elin im Unklaren lassen, wofür das Geld verwendet wurde oder liegen blieb. Elin stutzt immer mehr.

Während Elin nicht nur im Haus ihrer Eltern Ordnung zu machen versucht, schläft sie nicht im Haus, das sie verkaufen will. So kommt sie unweigerlich auch mit jenen Leuten in Kontakt, die geblieben waren. Auch mit Ole, dem Freund ihrer Brüder, zu dem sie sich schon in ihrer Jugend hingezogen fühlte, der im kleinen Ort geblieben war und sich als Schriftsteller versucht. So sehr Elin spürt, dass Gewissheiten zu bröckeln beginnen, so sehr spürt sie auch, dass die Menschen von damals mehr mit sich herumtragen, als sie über die Jahre preisgaben.

Kristin Valla hat einen Roman geschrieben, der einem bewusst macht, wie unbedacht wir mit scheinbaren Gewissheiten umgehen. Wie leicht wir uns in falscher Sicherheit wiegen, wie schnell fest geglaubter Untergrund wegrutschen und alles mitreissen kann. Die Autorin beschreibt die Reise einer jungen Frau, die nicht nur von ihrer journalistischen Neugier getrieben wird, sondern von einem alles durchdringenden Wunsch, Ordnung in ihr Leben zu bringen. Eine Ordnung, die eine echte Zukunft erst möglich werden lässt. Elin geht auf eine Reise, eine Reise bis nach Frankreich, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise zu einer Familie, die sie verloren und verschollen glaubte, die man ihr weggenommen hatte. 

„Das Haus über dem Fjord“ erzählt von den Geheimnissen einer Familie, vom Versteckspiel, das einem eine Gesellschaft der Angst und Vorurteile aufzwingt. Was sich spannend wie ein Krimi liest. Ein Roman über den Versuch, mehr als ein Leben zurückzugewinnen. Ein Roman über eine Gesellschaft, die sich verschliesst, über versteckte Leben und verlorene Existenzen. Ein Roman darüber, was die Einsicht bewirkt, feststellen zu müssen, dass einem die Nächsten am weitesten entfernt sind.

Kristin Valla, aufgewachsen im norwegischen Nordland, ist Autorin, Journalistin und Lektorin und schreibt u.a. für das Dagbladet Magasinet und das Kulturmagazin K der Zeitung Aftenposten. Ihr Romandebüt «Muskat» erschien im Jahr 2000 und wurde in sieben Sprachen übersetzt. «Das Haus über dem Fjord» ist ihr dritter Roman.

Gabriele Haefs, geboren am Niederrhein, studierte Volkskunde, Vergleichende Sprachwissenschaft und Keltologie und promovierte über das Irenbild der Deutschen. Heute lebt sie in Hamburg und ist seit vielen Jahren freie Autorin und Übersetzerin u.a. aus dem Irischen. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen Máirtín Ó Cadhain, Eilís Ní Dhuibhne und Eimar O’Duffy. Ihre Arbeit wurde vielfach prämiert, u.a. mehrmals mit dem Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen.

Beitragsbild © Birgit Solhaug