Elin ist Journalistin in Oslo und kehrt in ihr Heimatdorf an der norwegischen Küste zurück. Ihre Mutter ist gestorben, das Elternhaus leer und Elin hat kein Interesse, jenes Haus wieder zu ihrem Zuhause zu machen. Während sie Ordnung in die Geschichte ihrer Familie zu bringen versucht, offenbaren sich Geheimnisse, die ein Leben dahinter öffnen.
Elins Kindheit war keine einfache. Sie endete abrupt, wie aus heiterem Himmel, an einem Sonntag, an dem man die Verwandtschaft besuchen wollte. Elin hätte mit ihren Eltern und den beiden Brüdern fahren sollen. Aber weil es mit der Zehnjährigen wie immer Probleme gab, sie nicht wollte, wie es die Mutter wollte, fuhren Vater und die Brüder alleine – und kamen nie zurück.
Bauarbeiten wegen einer Umfahrungsstrasse und ungünstiger Untergrund verursachten an jenem Sonntag einen gewaltigen Erdrutsch an Norwegens Küste, liessen scheinbar festen Untergrund zu einem zähen Brei werden und riss alles mit und weg, was der Zufall nicht zu retten wusste. Elins Brüder fand man tot und ihr Vater wurde irgendwann für tot erklärt, obwohl man seine Leiche nie finden konnte.
Mehr als zwei Jahrzehnte später ist Elin wieder da. Das Trauma der Zehnjährigen ist in den Tiefen ihrer Vergangenheit versenkt. So wie sich die Mutter in den Jahren vor ihrem Tod mit Nippes zudeckte, jeden Zentimeter im Haus mit leerem Zeug belegte, so legte sich Schicht um Schicht über die Trauer, die Angst, die Ungewissheit und eine Ordnung, die geholfen hätte.
Jetzt will sie Ordnung, ein letztes Mal sauber machen, das Haus verkaufen, abschliessen, was vom alten Leben übrig ist. Beim Aufräumen findet sie auch den letzten Terminkalender ihres Vaters. Sie blättert und stellt mit Befremden fest, dass alle Einträge ihres umtriebigen Vaters mit dem Tag seines Verschwindens enden. Die Seiten nach jenem Sonntag vor 22 Jahren blieben leer. Wie kann jemand, der bei einer Naturkatastrophe ums Leben kommt, wissen, dass es danach nichts mehr zu tun und zu erinnern gibt? Elin stutzt. Elin erfährt auch von Konten auf der Bank, die wohl grosse Beträge auswiesen, aber Elin im Unklaren lassen, wofür das Geld verwendet wurde oder liegen blieb. Elin stutzt immer mehr.
Während Elin nicht nur im Haus ihrer Eltern Ordnung zu machen versucht, schläft sie nicht im Haus, das sie verkaufen will. So kommt sie unweigerlich auch mit jenen Leuten in Kontakt, die geblieben waren. Auch mit Ole, dem Freund ihrer Brüder, zu dem sie sich schon in ihrer Jugend hingezogen fühlte, der im kleinen Ort geblieben war und sich als Schriftsteller versucht. So sehr Elin spürt, dass Gewissheiten zu bröckeln beginnen, so sehr spürt sie auch, dass die Menschen von damals mehr mit sich herumtragen, als sie über die Jahre preisgaben.
Kristin Valla hat einen Roman geschrieben, der einem bewusst macht, wie unbedacht wir mit scheinbaren Gewissheiten umgehen. Wie leicht wir uns in falscher Sicherheit wiegen, wie schnell fest geglaubter Untergrund wegrutschen und alles mitreissen kann. Die Autorin beschreibt die Reise einer jungen Frau, die nicht nur von ihrer journalistischen Neugier getrieben wird, sondern von einem alles durchdringenden Wunsch, Ordnung in ihr Leben zu bringen. Eine Ordnung, die eine echte Zukunft erst möglich werden lässt. Elin geht auf eine Reise, eine Reise bis nach Frankreich, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise zu einer Familie, die sie verloren und verschollen glaubte, die man ihr weggenommen hatte.
„Das Haus über dem Fjord“ erzählt von den Geheimnissen einer Familie, vom Versteckspiel, das einem eine Gesellschaft der Angst und Vorurteile aufzwingt. Was sich spannend wie ein Krimi liest. Ein Roman über den Versuch, mehr als ein Leben zurückzugewinnen. Ein Roman über eine Gesellschaft, die sich verschliesst, über versteckte Leben und verlorene Existenzen. Ein Roman darüber, was die Einsicht bewirkt, feststellen zu müssen, dass einem die Nächsten am weitesten entfernt sind.
Kristin Valla, aufgewachsen im norwegischen Nordland, ist Autorin, Journalistin und Lektorin und schreibt u.a. für das Dagbladet Magasinet und das Kulturmagazin K der Zeitung Aftenposten. Ihr Romandebüt «Muskat» erschien im Jahr 2000 und wurde in sieben Sprachen übersetzt. «Das Haus über dem Fjord» ist ihr dritter Roman.
Gabriele Haefs, geboren am Niederrhein, studierte Volkskunde, Vergleichende Sprachwissenschaft und Keltologie und promovierte über das Irenbild der Deutschen. Heute lebt sie in Hamburg und ist seit vielen Jahren freie Autorin und Übersetzerin u.a. aus dem Irischen. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen Máirtín Ó Cadhain, Eilís Ní Dhuibhne und Eimar O’Duffy. Ihre Arbeit wurde vielfach prämiert, u.a. mehrmals mit dem Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen.
Beitragsbild © Birgit Solhaug