Anna Katharina Fröhlich «Die Yacht», Friedenauer Presse

Wenn ein schmales Buch mit „Eine Sommernovelle“ untertitelt ist, ist man versucht, es für ein flockig leichtes Geschichtchen zu nehmen. Was in seiner Tonalität ein bisschen verklärt und fast antiquiert daherkommt, offenbart Tiefen, die überraschen. „Die Yacht“ ist ebenso melancholisch wie tiefgründig. Anna Katharina Fröhlichs Novelle mahnt zur Ehrlichkeit.

Anna Katharina Fröhlich lebt in Italien. Sie kennt das Licht, die Gerüche und Geräusche, den Geschmack und den Duft. Wer „Die Yacht“ liest, taucht, nimmt all dies mit, taucht ein in eine Welt, die zumindest ich, nur von Urlauben kenne. Und Anna Katharina Fröhlich beherrscht in ihrer Sprache eine Kunst, die mich staunen lässt, etwas, was mich auf den ersten Seiten misstrauisch machte, weil ich mich selbst beim Schreiben davor hüten würde; Anna Katharina Fröhlich mischt in ihre Novelle Adjektive derart üppig, dass ihre Sprachmelodie im ersten Moment fast aufgeblasen scheint. Aber ihr grosszüger Umgang mit dieser Wortart korrespondiert mit der Welt, die sie beschreibt. Auf der einen Seite lebt dieses Buch von sinnlichen Eindrücken, zum andern beschreibt sie sehr genau die Oberfläche, sei es die der Dinge, der Menschen und der Innenwelten.

„Hinsehen ist besser als denken, weil sehen auch erschaffen bedeutet.“

Martha Oberon ist eine junge Frau, die in einer italienischen Kleinstadt nicht nur die Ruhe, die Distanz, Antworten und eine Richtung sucht, sondern sich selbst. Ausgebrochen aus der Enge ihres Elternhauses und den Verwirrungen ihrer Gegenwart will Martha herausfinden, wie sie dorthin gelangt, wo sie einst ihr Grossvater hinsteuern wollte. Marta zeichnet. Sie besucht in der kleinen Stadt in Italien einen Malkurs. Aber sie will mehr. Sie will Wegweiser.

Anna Katharina Fröhlich «Die Yacht», Matthes & Seitz, 2024, 164 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-7518-8012-1

Sie lässt sich ein in das Leben dieser Stadt. An einem Sonntagmorgen lernt sie in einer Bar einen Mann mit einer Rose im Knopfloch kennen. Salvatore Spinelli. Ein seltsam aus der Zeit gefallener Herr, auf den ersten Blick mit gediegener Eleganz, bei genauerem Hinschauen; geflickte Löcher in seinem weissen Hemd, ein Riss im Ärmel seiner Leinenjacke. Sie kommen ins Gespräch und Martha fühlt, bei ihm etwas gefunden zu haben, wonach sie schon so lange gesucht hatte. Spinelli zeigt ihr jeden Winkel der Stadt. Jeder und jede kennt ihn, weiss von seiner Armut, seiner Offenherzigkeit, seinem Charme. Er ist ein Teil dieser alten Mauern, ein Überbleibsel einer Welt, die sich im Bann moderner Kommunikationsmittel und dem Stress der Gegenwart zu verlieren droht. Spinelli öffnet sie in eine Welt, von der sie mit ihrer Art des Zeichnens ahnte. Mit einem Mal scheint sich aufzutun, was ihr bisher verschlossen blieb.

„Spinelli war der einzige Mensch, den sie kannte, der keinen Beruf, keine Versicherung, keinen Status, kein Bankkonto, keine Frau und keine Kinder hatte, in denen er das Erbe seines Wesens hätte sichern können. Er vertrat nichts und niemanden mehr ausser sich selbst.“

Spinelli lädt sie ein zu einer Reise in den Süden, nach Sizilien. Dort kennt er die Tabarins. Ein Paar, das in einem weissen Haus auf einem Felsplateau über dem Meer wohnt, das es vor Jahren im Zuge einer Kunstvermittlung kennengelernt hatte. Dort residiert man, von Bediensteten umgarnt, lädt andere Reiche ein, tummelt sich in der Gewissheit, dass einem die Welt gehört. Martha, gleichsam fasziniert wie verunsichert lernt die Malerin Mrs Moore kennen, eine alte Bekannte von Spinelli. Die eigenwillige Künstlerin macht ihr das Angebot, sie zu malen und sie in ihre Kunst einzuführen. Ein Angebot, das für Martha nach Erfüllung riecht und ihrem Leben mit einem Mal Richtung gibt.

Bei einer der Fahrten mit der Yacht der Tabarins, der Devil’s Kiss, lernt Martha den in Tabarins Diensten stehenden Balthasar kennen, der eigentlich Griša Pavloviç heisst und mit dem Namenswechsel seiner Herkunft zu entfliehen versucht, ein Verbündeter, später ein Geliebter. Aber Martha muss schmerzhaft erfahren, dass die Welt im weissen Haus über dem Meer und der mit allem Luxus ausgestatteten Yacht, wie alles eine Welt des Scheins, eine perfekt inszenierte Kulisse ist.

„Den wahren Träumer sehe ich als Jäger, der in dem unergründlichen Dickicht des eigenen Bewusstseins Jagd auf etwas Fliehendes macht, das seine Existenz auf dieser Welt rechtfertigt.“

Anna Katharina Fröhlich konfrontiert ihre Protagonistin Martha durch eine eigentliche Schule des Sehens mit den Untiefen des Lebens. Einziger Leuchtturm ist Salvatore Spinelli, ein Mann, der sich aus allem herauszuhalten scheint, es aber versteht, den kleinen Geheimnissen des Lebens gegenüber offen zu sein. Ein Mann, der sich der Moderne verweigert. Ein Mann sich in einer Unmittelbarkeit dem Leben stellt, die ihn seltsam fremd und dafür umso faszinierender macht.

Anna Katharina Fröhlich, 1971 geboren, wuchs in Frankfurt a. M. und München auf. Sie veröffentlichte bisher die Romane «Wilde Orangen», «Kream Korner», «Der schöne Gast» und «Rückkehr nach Samthar». Zuletzt erschien ihr Roman «Die Yacht» in der Friedenauer Presse. Sie lebt als Gärtnerin und Vorstandsmitglied des italienischen Verlags Adelphi zwischen Mornaga am Gardasee und Mailand.

Beitragsbild © privat

Anna Prizkau «Fast ein neues Leben», Friedenauer Presse

Anna Prizkau ist jung und schreibt jung, schreibt Kurzgeschichten, weil sie es mag, da sie, so meint sie in einem Interview, von LeserInnen viel mehr abverlangen, weil man nicht einfach über eine Seite hinweglesen kann. «Fast ein neues Leben» ist das Buch einer jungen Frau, die anzukommen versucht; in einem Land, einer Sprache, bei den Menschen, in ihrem Schreiben.

Die Protagonistin, die in allen zwölf Geschichten im Zentrum steht, ist in einem fremden Land, weggegangen mit ihrer Familie aus einem alten Land, einer alten Stadt. Ein Mädchen und später eine junge Frau, die mit allen Mitteln versucht, eine Hiesige zu sein, und der man das Etikett der Ausländerin unvermeidlich und immer wieder auf die Stirn klebt. Ein Mädchen, das sich ihrer Familie, ihrer Eltern schämt, die nicht will, dass die Eltern bei Schulanlässen auftauchen und stets Bauarbeiten vorschiebt, um einen Grund zu haben, dass Freundinnen nicht bei ihr zuhause auftauchen. Ein Mädchen, das aber nur schwer verstehen kann, warum man abends bei andern bloss kalt isst und nicht gekocht wird, warum der Vater fehlt, warum alles so piekfein eingerichtet sein kann, dass man den Eindruck hat, es werde dort gar nicht gelebt. Ein Mädchen, eine junge Frau, die allein gelassen ist, weil sie sich alle Antworten selbst geben muss, weil sie sich hinausgestossen fühlt, nur geduldet. Ein Mädchen, eine junge Frau zwischen zwei Welten, die kaum etwas miteinander zu tun zu haben scheinen, von der Sprache bis zu den Gerüchen.

Anna Prizkau «Fast ein neues Leben», Friedenauer Presse, 2020, 111 Seiten, CHF 24.50, ISBN 978-3-7518-0600-8

Jeder fragt «Woher kommst du?», eine Frage die unweigerlich zur Ausländerin macht. Ein Frage, die stigmatisiert. Ein Frage, die permanent wegstösst. Die Protagonistin in den zwölf Geschichten ist nirgends zuhause, nicht im alten, nicht im neuen Land. Nicht einmal in den brüchigen Freundschaften, die sie mit kleinen und grossen Lügen aufrecht zu erhalten versucht. Nicht in der Wohnung zuhause, wo die Mutter hinter verschlossener Tür im Badezimmer weint. Nicht bei den Mitschülerinnen, bei denen sie in eine Rolle gezwängt wird, bei denen sie genau spürt, wie viele Abgründe sich hinter den Kulissen auftun. Sie will eigentlich nur am Leben teilnehmen, am Leben in dem neuen Land, in der Schule, in einer Freundschaft, in der man getragen wird. Und trotzdem wird sie immer und immer wieder zur Aussenseiterin, in eine Isolation gestossen, aus der sie sich nicht lösen kann.

«Fast ein neues Leben» ist aber auch ein Blick auf ein Land, auf Deutschland. Ein Land, das wie alle anderen von Ängsten zerrissen wird. «Fast ein neues Leben» sind die Geschichten einer Geschlagenen, einer Geschlagenen des Lebens, einer wirklich Geschlagenen, die man im Dunkeln niederknüppelt. Auch wenn das Buch nur wenig mehr als hundert Seiten hat, ist es tief und birgt ein grosses Versprechen für die Zukunft. Zwölf Geschichten mit langem Nachhall!

Anna Prizkau, 1986 in Moskau geboren, seit 1994 in Deutschland. Sie studierte in Hamburg und Berlin und hat als Kellnerin, Barkeeperin, Zeitungsausträgerin, Hostess, Probandin und Kunsthändlerin gearbeitet, bevor sie Journalistin wurde. Seit 2012 schreibt sie als freie Autorin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin über Ausländer, über Deutschland und andere Länder und über Literatur. Seit 2016 ist sie Redakteurin der F.A.S.

Beitragsbilder © Julia von Vietinghoff