Woran hält man sich, wenn einem der Boden unter den Füssen weggerissen wird? Was passiert, wenn alle Sicherheiten wegbrechen? Wie schon bei Franszika Gänslers Debüt „Ewig Sommer“ geht es in ihrem neuen Roman um Existenzielles. Eine junge Frau sucht nach Erklärungen und muss feststellen, dass ihr Leben auf Sand gebaut ist.
Nichts von früher hätte sich in „behütete Kindheit“ einordnen lassen. Vielleicht die innigen Momente zusammen mit ihrer kleinen Schwester Oda. Die Jahre damals im umgebauten Bauwagen am Meer in den Dünen, als Zoeys Welt aus der Zweisamkeit mit ihrer Schwester bestand, der kleinen Welt an der Küste.
Aber als vor zwanzig Jahren ihre kleine Schwester verschwand, sich das ruhige Leben am Meer mit einem Mal umstülpte, alles und jeder eine Antwort verweigerte, als sie zusammen mit ihrer Mutter zurück nach Berlin reiste in eine ihr fremde Stadt und sich das Verschwinden ihrer kleinen Schwester wie ein Alp an ihr Innerstes klebte, löschte ihre Mutter die Vergangenheit. Oda schien nicht einmal mehr in Erinnerungen zu existieren. Aber das Gefühl einer Mitschuld blieb.
„Wie Schnüre rollen sich die Erinnerungen in mir auf.“
Zwanzig Jahre später ist Zoey zurück an jenem Ort am Meer. Sie wartet auf die sterblichen Überreste ihrer Mutter, die sie in den vergangenen Jahren bis zur Selbstaufgabe gepflegt hatte. Ihre Freundin Ari organisiert alles, während Zoey in diesen Tagen spürt, wie sehr sie die Pflege ihrer Mutter von der Welt entfernt hatte. Aber nicht nur von der Welt. Auch von ihren Erinnerungen an die Jahre am Meer, ihren Erinnerungen an ihre kleine, verschwundene Schwester Oda. Die letzten Jahre galten ihrer Mutter und ihrer Arbeit, schlossen alles andere aus, selbst das Wissen, dass da doch eigentlich viel mehr sein müsste, nicht zuletzt ein Vater, eine Familie, ein Leben hinein in die Welt.
In den Tagen des Wartens macht sich Zoey auf die Spuren in ihren Erinnerungen. Den Campingplatz gibt es noch, auch die umgebauten Bauwagen ganz hinten vor dem Wald. Der Wagen, den sie mit ihrer Mutter und Oda bewohnte, zerfällt. Nicht so die Bilder, die wieder aufsteigen auf ihren Streifzügen durch den Ort. Sie lernt Menschen kennen, die Zweifel auslösen. Sie wagt nach zwanzig Jahren den Gang zur Polizei und muss feststellen, dass damals keine Vermisstenmeldung aufgegeben wurde. Im Archiv der örtlichen Zeitung findet sie keine Meldung, als hätte es die Katastrophe damals nicht gegeben. Das, was sie sich in den zwei Jahrzehnten des Schweigens, der Verdrängung zurechtgelegt hatte, beginnt nach und nach zu bröckeln.
„Die Mutter, Oda und ich. Wir waren ein Körper mit drei Köpfen, und der Wagen war unsere Höhle.“
Oda war fünf, Zoey sieben. Als Oda verschwand, waren sie beide allein. In Zoeys Erinnerung gingen sie zusammen in den Wald. Und Zoey kehrte allein zurück. Warum waren sie damals allein? Wer waren die Menschen, die damals im Wald waren und zumindest in ihrer Erinnerung Deutsch sprachen? Warum verliessen sie fluchtartig den Campingplatz am Meer, um nach Deutschland zurückzukehren? Warum wartete man nicht? Warum suchte man nicht? Fragen, die jetzt zu brennen beginnen. Fragen, die sich erst jetzt, nachdem Zoey sich aus der allumfassenden Umklammerung ihrer Mutter lösen kann, mit aller Vehemenz aufdrängen und Antworten fordern, Antworten, um ihr Leben wieder aufnehmen zu können.
„Ich versuche irgendwie, nicht zu ertrinken.“
„Wie Inseln im Licht“ lebt von dieser Vehemenz. Zoey spürt erst jetzt, wie sehr sich das Schweigen, das Verschweigen, das Verleugnen wie ein Gewitter über ihr zusammenzieht. Dass sie erst dann in ihr Leben zurückkehren kann, wenn Fragen beantwortet sind und sie sich an Gewissheiten festhalten kann. „Wie Inseln im Licht“ ist die Entladung dieses einen Gewitters. Ein Sturm, der durch ein Haus aus Ahnungen und Interpretationen fegt. „Wie Inseln im Licht“ ist ein Buch der Befreiung, das sich aber nicht in erster Linie auf die Auflösung bohrender Fragen fokussiert, sondern auf die Auswirkungen jenes Sturms in der gebeutelten Seele einer jungen Frau. Franziska Gänslers Roman folgt einer verschlungenen Spur nach Innen und Aussen, in einer Sprache, die von Verletzlichkeit und Sehnsucht erzählt.
Ein Buch, das man nicht so einfach zurück ins Regal schiebt!
Franziska Gänsler hat in Berlin, Wien und Augsburg Kunst und Anglistik studiert. 2020 war sie Finalistin des 28. open mike. Ihr Debütroman «Ewig Sommer» erschien 2022, er wurde ins Französische übersetzt, für diverse Preise nominiert und 2023 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur sowie mit dem Literaturförderpreis der Stadt Augsburg ausgezeichnet. Sie lebt in Augsburg und Berlin.
Beitragsbild © Bahar Kaygusuz