Jane Wels «Das Es reiten», Edition offenes Feld

Ich weiss, Gedichte soll man immer wieder lesen. Die neuen Gedichte von Jane Wels rufen einem förmlich, wenn auch sanft und ganz leise. Als würde mir die Autorin zuflüstern. Auch der zweite Band der Lyrikerin überzeugt durch seine Subtilität, seine Empathie und seine Prägnanz.

Ich las die Gedichte der Lyrikerin noch einmal am Rhein, auf einer Bank unter Plantanen, mit Sicht aufs Riet an der gegenüberliegenden Seite des breiten Wassers. Die Sonne wärmte meinen Rücken, die Gedichte meine Seele. Die Sprache streichelte meinen Bauch.

Sag’ mir,
was du willst,
meine linke Hand
wird es schreiben.
Sie legt dein Staunen
ins Regengrüne,
verzapft sich
in Erinnerungen
aus verschlucktem Hall.
Jeder Buchstabe
schmeckt nach dir.

Jane Wels «Das Es reiten», eof, mit einem Grusswort von José F.A. Oliver, 2025, 92 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-8423-8414-9

Viele ihrer Gedichte führen mich als Leser in einen Dialog, einen Dialog mit ihr, einen Dialog mit mir. Ich fühle mich ganz direkt angesprochen, ohne dass sich die Dichterin aufzudrängen versucht. Mit ihrem Schreiben eröffnet Jane Wels unsere gemeinsame Welt, stellt sich dazwischen, als würde sie sich neben mein Unbewusstes gesellen. Vielleicht auch darum der Titel ihres neuen Buches; „Das Es reiten“. Sie stellt sich jenen Fragen, die nie endgültig beantwortet sein wollen, die nach Offenheit dürsten und Perspektiven in die Weite suchen.

Gleich einem wandernden Fisch
in die Vergangenheit springen;
das Gedächtnis ist ein Geruch,
ein Butterbrot,
eine Achselhöhle,
ein Blick.

Augenblicke, ein Duft, Momente und das Empfinden, das aufblitzt. Was bei mir gleich wieder im Vergessen versinken würde, dem gibt Jane Wels sprachliche Kontur. Sie zeichnet mit feinen Strichen, was sich während des Lesens mit Farbe füllt.

Spüre ihr Gewicht,
fühle den verholzten Stiel,
bevor du ihn herausziehst
aus dem weichen Fleisch,
einen Krater in ihre Schale reißt
– Zerfetzen ist ein Geräusch -,
sie schälst,
ihr das Kerngehäuse herausschneidest,
sie vierteilst,
ihr Saft durch die Finger rinnt,
duftend, zartflüssig,
bis sie schließlich
auf deiner Zunge liegt,
die köstliche Charneux.

Es sind nicht die grossen Gesten. Dafür immer wieder das genaue Tun, das Bewusstsein im Genuss, einfaches Tun, das zu heiliger Handlung wird, selbst dann, wenn das Gedicht  „nur“ den Verzehr einer Birne beschreibt. Jane Wels gibt dem Alltäglichen, dem, was sonst kaum je im Fokus steht, das man übersieht, ein Stück beinahe übernatürlicher Sinnlichkeit.

Morgen
tu ich so,
als sei ich Emil Sinclair,
bestelle einen Singapore Sling;
hänge den schwarzen Wald
an den Nagel
und lasse mich,
wie eine Wirbellose,
in deine Lagune treiben.

(Emil Sinclaire war ein Pseudonym von Hermann Hesse) Ein Lebensgefühl einer Frau, die weiss, wo die Anfänge und Enden ihrer Träume sind, die in sich zuhause ist, auch wenn sie sich auf dem Rücken ihrer Imagination treiben lassen kann. Ein Lebensgefühl, von dem ich mir gerne ein Stück abschneiden würde.
Jane Wels beschenkt mich mit ihren Gedichten!

Jane Wels, geboren 1955 in Mannheim, lebt im Nordschwarzwald. Sie studierte Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Medienwissenschaften. Wels veröffentlichte in Literaturzeitschriften und in Online-Magazinen. Zuletzt erschien von ihr der Band «Schwankende Lupinen» (edition offenes feld, 2024).

Webseite der Schriftstellerin und Lyrikerin

Beitragsbild © privat

Jane Wels „Sandrine“ von Jane Wels
 (Auszug aus dem Manuskript)

Sandrine. Notate.
Nicht-lineare Erinnerungen eines weiblichen Ichs

„Man kann nicht ohne Liebe lesen. Wenn man schon zuvor ein Bild von einem Text hat, dann weist man ihn ab.“ Hélène Cixous



Ihr Atem ist so leise wie ein Hauch Gänsedaunen. Jetzt, da die Zeit in stehenden Gewässern friert, kann sie die kommenden Verwerfungen spüren. Sie schrauben sich um eine gedachte Achse. Das Gefühl dazu findet sich an keinem Strang. Wie ein Fresko legt es sich auf die Haut. Schicht um Schicht, feucht vermalte Erstarrung.



Erste Texturen falten sich auf. Bislang stets scharfe Umrisse geben die Konturen frei. Eine Art Vorgebirgszone legt sich vor ihr aus, deren Mitte sich ins Freie wölbt, ein Eigenleben führt. Sandrine könnte eine jede sein. Ihr Tagwerk rutscht ins Monochrome ab. Endlos verschleifen sich die Tage, verkürzen sich. Drehen sich nach ihr um.



Paris. Die weiße Wohnung an der Île de la Cité. Je ne suis pas là, ma chère. Die Zeit streckt ihre Fühler aus. Eine Nummer wählen. Dem Rauschen zwischen den Freizeichen lauschen. Laufmaschig zum Quai de Montebello. Taxi!



Rückwärts. Der Steg über den Main. Wasser, das über das Geländer greift. Wände, die auf Tuchfühlung gehen. Flashbacks. She’s like a rainbow. Keine Schonung überdeckt das Danach: Stoßkanten, Risse und ein Verlust, der keiner ist.



Vorwärts. London. Chalk Farm Studios. You are so funny! Stay like this. Peking Duck bei Mr. Chow. Teppiche sind Tagebücher. Sie dämpfen die Gegenwart, mischen sie mit Staub und dem Schlaf der anderen. Abflug.



Französische Provinz. Sandrine inmitten einer Herde Maneches. Waagerecht langgezogene Pupillen, schwarze Köpfe. Sie mischt sich ins wollige Feld: offenporig, körperlos. Voilà.



Zurückspulen. Germersheim. I take you to the backside of the moon. Brachlandig liegen. Furche an Furche. Gleichschaltung zweier Wesen. Augen auf! Es gibt immer ein Dazwischen.



Vorspulen. Zeit ist ein Hüpfspiel. Himmel und Erde, dazwischen Störstellen und haufenweise Glück. Sandrine ist nicht der Diminutiv von Alexandrine.

Jane Wels «Schwankende Lupinen», edition offenses feld, 2024, 80 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-7597-2115-0

Jane Wels, 1955 geboren in Mannheim, Magister-Studium der Erziehungswissenschaften, Entwicklungspsychologie und Medienwissenschaften, 1989 erste Lesung im Heine-Haus Düsseldorf, 2024 Debüt mit „Schwankende Lupinen“, Hrsg. Jürgen Brôcan, edition offenes feld, diverse Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften,  Anthologien und Online-Magazinen.

literaturport.de/lexikon/jane-wels/

Rezension zu «Schwankende Lupinen» auf literaturblatt.ch

Jane Wels «Schwankende Lupinen», edition offenes feld

Jane Wels Gedichtband «Schwankende Lupinen» ist eine Sammlung ganz zarter Gedichte, durch die man den Wind der Erfahrung spürt, die Fähigkeit, in die Stille hineinzuhören. «Schwankende Lupinen» begleitete mich eine wunderbare Weile auf meinem Nachttisch und im Zug und ist zu einem Freund geworden.

Ich mag Gedichte, zu denen ich keinen Schlüssel brauche, die sich nicht restlos erschliessen müssen, aber denen ich mich mit jedem Mal Lesen näher fühle. Gedichte, die mich mit offenen Armen empfangen und sich mir nicht spröde verweigern oder mit Geheimniskrämerei auf Abstand bleiben. Die Gedichte von Jane Wels sind Blicke durch aussen ins Innen, spiegeln Aussenwelten in Innenwelten und umgekehrt. Sie ergründen das Schreiben, die Zeichen der Welt, der Natur. Man glaubt im Rücken der Dichterin zu sitzen, mit ihr hinaus in den Garten zu schauen und manchmal über die Schulter auf das Blatt Papier, auf das sich die Spur ihrer Gedanken legt.

Ich will die Sprache vernähen
zu einem Quillt aus Worten,
die keinen Schatten werfen
und schweigen,
wie ein fliegendes Papiertaschentuch
oder der rote Faden,
der sich verliert.

Ihre Gedichte sind Erinnerungen, Gedanken, manchmal schaftkantige Beobachtungen. Bilder, Geräusche, Gerüche und Düfte, die sich in filigranen Sprachgebilden offenbaren, die nacherleben lassen, was in den Traumfängern der Dichterin hängen bleibt. Bilder, die sich manchmal abstrahieren, die feinen Skizzen gleichen, auf Japanpapier gezeichnet, meist nur kurz, als wären es ein paar wenige, vieldeutige Schriftzeichen.

Diese Tage schreiben
neue Ränder in die Zeit,
lösen Schichten, 
die Gespinste tragen
und Nachtpfauenaugen.

Jane Wels «Schwankende Lupinen», edition offenses feld, 2024, 80 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-7597-2115-0

Lupinen sind aufrechte Gartenblumen, in vielfältigen Farben. Der Name stammt vom lateinischen lupus. Blumen, deren Samen giftige Bitterstoffe enthalten, die bei der wilden Gartenlupine zu Atemlähmungen führen können. So schön und üppig die Blume, so heimtückisch ihre Frucht. Ganz anders die Wirkung dieser Gedichte. Auch sie erzeugen Wirkung, nehmen einem zuweilen durch ihre Dichte, ihre Intensität den Atem.
Sie sind keine vergeistigten Konstrukte. Es ist, als würde die Dichterin im Traum leise flüstern. Es sind weder Rätsel noch Abgründe. Jane Wels nimmt mich mit in ihre feine Art des Sehens.

Leere Mengen
streuen Fragen
in die trauernden Felder
des existierenden Nichts
wuchern Suchbewegungen.
Wer ist Ich?

Wenn Sie es mögen, dass sie Sprache begleitet, wenn ein Büchlein das richtige Format hat, um im Herbst in der Brusttasche ihres Sakkos mitzureisen oder wenn sie stille Bilder brauchen, die sie aus den Wirren eines Tages lotsen – oder darüber hinaus, dann lesen sie «Schwankende Lupinen» von Jane Wels!

Der frühe Morgen zieht einen Scheitel in den Tag,
kämmt ihm die Knoten aus dem Schlaf.
Unschärfen mischen sich
mit dem Duft von weissem Tee.
Als wir ein Sternbild waren,
nannten sie uns Wolf.

(Die vier Gedichte sind aus dem Band «Schwankende Lupinen». Ich danke der Autorin für die Erlaubnis, diese zu veröffentlichen.)

Jane Wels, geb. 1955 in Mannheim, lebt im Nordschwarzwald. Sie studierte Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Medienwissenschaften und arbeitete als Sozialtherapeutin, Sexualpädagogin, Heilpraktikerin Psychotherapie. Wels veröffentlichte in Zeitschriften und auf Onlineplattformen. Der vorliegende Band ist ihr Buchdebüt.

Walter Fabian Schmid «Die Lost Places zucken noch», Plattform Gegenzauber

TOKAMAK

Du hast unseren Frieden in den Vorhof
gepflanzt. Abgesteckte Beete. Wie Kammern,
aus denen unbekannte Namen flimmern.

Wir Auferstandenen steigen weiter und weiter auf.

An den Rändern schwarzer Löcher verglühen
unsere Herzen. Nur Plasma. Energie
für unsere Kinder, die nie mehr kommen.
Die nie diese Wärme spüren. 150 Millionen
Grad. Gemessen in der Zeit,
die wir als Menschen verbrachten.

 

AUCH TOURISTEN VERSTRÖMTEN WÄRME

Im Sonnenbrand der Winteräpfel
warfen die Meere Blasen,
verbrühten die Gletscher und
verdampften an der Himmelskruste.

Wir sassen in unseren Autos
und bestaunten die Feuer.

»Was für ein Postkartenmotiv!«

Auf halbem Weg ging die Sendung verloren.
Auch unsere Restsouvenirs gingen zu Bruch.

Tollpatschig fielen die Felswände um.
Berge besuchten uns öfter
im Tal. Die Gäste fuhren schon früher
mit E-Bikes dem Sturz entgegen.

Im Winter legte sich Frost
über das Magma. Ein roter
Spiegel voller Risse,
die blicken liessen
auf die eingeschmolzenen
Feldspaten abgewanderter Bauern.

 

WIR TRUGEN DÜNNERE HÄUTE

Seen schwitzten das Klima aus.
Wälder nur qualmende Stummel.

»Wer verträgt schon diese Gluten?«

Sommerfrischler bestiegen ausgekühlte Halden.
Ihr Schweiss schwemmte Fahrbahnen frei
für Aschetransporter. »Feinstes Karbon!«

Die Staublungen der Erdhörnchen keuchten.
Schwer scharrten sie alte Apparate aus.
iPhones auf Stand-by. Ein Beistand
für grausame Bilder.

Wir zählten die Baumringe unter den Augen,
als die Schattenseite der Äpfel schon brannte.

Die Luft trug einen reizenden Feststoff
aus und wir schlüpften in dünnere Häute.

 

MAN HÄNGTE UNS EINFACH SO AB

In unseren Stuben lagen die
Leitungen blank.

Aus Dielen rieselten Schritte.
Wege, die sich wie Frassgänge
in unser Holz gekerbt hatten.

Erinnerung legte sich
nur noch den Tieren in die Instinkte.

Dem Marder, der nach den Kabeln schürfte,
um am versiegten Stromfluss zu lecken.

Vom Berghang rollten
verlorene Echos, krochen durch
Röhren unserer Fernseher,
die niemand mehr reparierte.

Abgehängt hinterliessen auch wir
nur die hellen Flecken auf der Tapete.

 

WIR WURDEN ZU STAUB,
AUS DEM WIR UNS MACHTEN

Im Herbst kam den Feldern
das Suppenkraut hoch.

Mit schiefem Kreuz
humpelten Alte zur Kirche.

Der Mief holte sich noch einmal Luft
von entlaufenen Kindern.

Wir aber waren schon abgefahren
mit unseren Zweitaktern und
holten die Auferstandenen
unmöglich ein.

 

(Die wiedergegebenen Gedichte sind aus «Die Lost Places zucken noch», edition offenes feld. Dortmund 2023.)

Walter Fabian Schmid, geboren 1983 in Regen, ist Schweizer und Deutscher und lebt im Kanton Bern. Er studierte Diplom-Germanistik in Bamberg, arbeitete als Redaktor, Literaturvermittler und Texter. Er erhielt den Calwer-Hermann-Hesse-Preis 2010 als Mitredaktor der Literaturzeitschrift poet, war nominiert für den Leonce-und-Lena-Preis 2011 und 2015 sowie den open mike 2014 und den Dresdner Lyrikpreis 2020. Gemeinsam mit Tristan Marquardt gründete er die Lesereihe «meine drei lyrischen ichs».

Beitragsbild © Sascha Kokot