Echte Perlen? #SchweizerBuchpreis 25/01

Schweizer Buchpreis 2025 – das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer:innen oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autori:nnen. Ist das möglich? Kann das eine Jury bestimmen? Gibt es das eine, beste Buch? Was sind die Kriterien für das beste Buch?

Ich bin mir sicher, dass die Jury mit Tim Felchlin, Literaturredaktor und Kulturjournalist, Martina Läubli, Kulturjournalistin, Simone Nuber, Master of Science, Isabelle Vonlanthen, stellvertretende Leiterin des Literaturhauses Zürich und Manuela Waeber, freie Lektorin alles daran setzen, die Nominierungen und die Wahl zum Schweizer Buchpreises möglichst objektiv aussehen zu lassen, würden doch deutliche Fehlentscheidungen die Glaubwürdigkeit eines solchen Prädikats „bestes Buch“ noch mehr in Frage stellen. Aber das beste Buch gibt es nicht. Die Frage scheitert an mehreren Punkten. Auch wenn es Leute aus dem Literaturbetrieb gibt, die der Überzeugung sind, dass es unauslöschliche Kriterien für gute Literatur gibt. Gute Literatur zeichnet sich durch ihre Fähigkeit aus, tiefgründige Wahrheiten über die menschliche Erfahrung zu vermitteln, starke emotionale Reaktionen hervorzurufen und die Zeit zu überdauern. Sie zeichnet sich durch gut entwickelte Charaktere, fesselnde Handlungen und eine reiche, nuancierte Sprache aus. Aber wer bestimmt, was tiefgründig ist? Ist es nicht so, dass emotionale Reaktionen ganz unterschiedlich ausfallen können, nicht nur in der Kunst. Was ist „nuancierte“ Sprache? Wülstig mit Sicherheit nicht. Schon gar nicht sichtbar durch die Anzahl von Adjektiven.

Vielleicht muss ich ganz persönlich auf die Frage antworten, was gute Literatur zumindest für mich sein kann: Sie muss mich fesseln. Sie muss mich überraschen. Sie muss mich in irgend einer Form provozieren. Sie muss in mir einen Nachhall erzeugen, muss sich in mir festhaken. Der Sound muss musikalisch sein. Ich soll bewegt werden… Ich könnte die Liste noch weiterführen, ohne je den Anspruch zu haben, eine solche Liste habe Allgemeingültigkeit. Robert Walser wurde wie Franz Kafka zu Lebzeiten nur von wenigen beachtet und geschätzt, am wenigsten vom Buchmarkt. Oder umgekehrt; Kennen sie John Knittel? Der Schweizer Schriftsteller war zu Lebzeiten sehr erfolgreich, starb 1970. Heute kennt ihn kaum mehr jemand. Vergessen. Kennen sie Ruth Blum? Die Schaffhauserin starb 1975. Ich kaufte alle ihre Bücher in Antiquariaten und war hell begeistert. Vergessen. Noch so eine lange Liste.

Das beste Buch! Warum ist unter den Nominierten nicht „Sommerschatten“ von Urs Faes? Oder „Walzer für niemand“ von Sophie Hunger? Oder „Sechzehn Monate“ von Fabia Andina? Hört die Schweiz an den Sprachgrenzen auf?Schweizer Buchpreis? Oder „die spinne“ von Eva Maria Leuenberger? Warum nicht einmal Lyrik in der Liste der Nominierten? Weil man der Lyrik kein Scheinwerferlicht zutraut? Weil sich damit keine Verkaufszahlen generieren? (Hut ab vor allen Verlagen, die sich noch immer tapfer trauen, Lyrik zu drucken!) Die Liste jener Bücher, die es auch verdient hätten, wird mit der Intensität des Lesens nicht kürzer. Auch das Unverständnis über diese Versäumnisse. Zudem muss man wissen, dass sich etliche Grössen der hiesigen Literatur durch ihre Verlage gar nicht mehr zur Wahl stellen wollen.

Immerhin stehen für einmal keine Debüts in der Liste. Wie soll ein Debüt eine Chance haben neben einem Buch eines literarischen Schwergewichts? Und Schwergewichte sind in der Liste der Nominierten sehr wohl vertreten: Mit Sicherheit die erst 40jährige Dorothee Elmiger, die mit ihrem Roman „Die Holländerinnen“ auch in der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht. Und zweifelsohne Jonas Lüscher. Meral Kureyshi schaffte es mit ihrem Debüt „Elefanten im Garten“ vor 10 Jahren auf die Liste der Nominierten und gilt seither als wichtige Stimme der CH-Literatur. Von Melara Mvogdobo las ich vor ein paar Jahren ihr Debüt „Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden“ und konnte mich nicht wirklich begeistern lassen, genauso wie vom Debüt „Anton will bleiben“ von Nelio Biedermann. Dass ihre Folgeromane von ganz anderer Qualität sind, darüber lässt sich streiten, zumal „Lásár“ in einer Weise gehypt wurde und wird, die jede Verhältnismässigkeit vermissen lässt.

Meine Meinung war ziemlich schnell gemacht.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Dorothee Elmiger «Die Holländerinnen», Hanser

Es gibt sie, die Autor*innen, die sich trauen, die nicht den üblichen Erzählkonventionen entlangschreiben, die nicht in erster Linie unterhalten wollen, sondern Leser*innen und Lesegewohnheiten aufbrechen. Neben Jonas Lüscher und Christian Kracht glänzt Dorothee Elmiger mit ihrer Expedition in menschliche Tiefen.

Es gibt Schreibende, die mich nicht wegen ihrer Geschichten faszinieren, sondern wegen ihrer Bilder, ihrer Sprache, ihrer Wucht, ihrem Sperren gegen das Konventionelle. Bei Dorothee Elmiger fasziniert alles; die Geschichte, die sich immer wieder spiegelt, die nicht nur inhaltlich an Filme von Werner Herzog erinnert, sondern auch in der Intensität ihrer Bilder. Dann die Sprache, das Mäandern in Satzkaskaden, von denen ich mir kaum vorstellen kann, wie und in welcher Intensität sie geschrieben werden mussten. Das Buch liest sich phasenweise so, als hätte Dorothee Elmiger die Fähigkeit, in einem unendlich langen Atem Satz an Satz aneinanderzureihen, abzusinken in die Tiefen einer Szenerie, weit hinauf oder tief hinunter. Als hätte sie tief eingeatmet und in einem Guss geschrieben, wofür anderen niemals die Luft reichen würde. Sie spielt mit der Sprache, die Sprache spielt mit ihr. Klar will Dorothee eine Geschichte erzählen. Aber es ist die Geschichte einer Frau, die sich verloren hatte, die Geschichte des Sich-Verlierens. Die Geschichte einer Frau, die in der Kulisse, in den Bildern absinkt, die ihr Leben fast verloren hätte.

Dorothee Elmiger «Die Holländerinnen», Hanser, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28298-8

Die Frau erzählt die Geschichte auf der Bühne, hinter einem Mikrophon, vor Zuhörer*innen, einem ganzen Saal. Sie erzählt von einem Anruf eines Theatermachers, der sie zu einem ganz besonderen Projekt eingeladen hat, ihr den Auftrag gegeben hatte, das Geschehen, das Gesprochene, das Herausgefundene aufzuschreiben, festzuhalten, zu protokollieren. Ein Theaterprojekt mit dem Titel „Die Holländerinnen“. Der Theatermacher, der weitab im Urwald, zwischen den Wendekreisen am Meer, wie damals Werner Herzog mit Klaus Kinski „Fitzgeraldo“ oder „Aguirre der Zorn Gottes“, ein Theaterprojekt realisieren will, lädt eine ganze Truppe von Menschen in die Abgeschiedenheit ein, einen „Fall“ nachzuspielen, jenen der Holländerinnen. Man sammelt sich und macht sich gemeinsam auf, wobei niemand eine wirkliche Ahnung davon zu haben scheint, wo das Abenteuer hingehen soll, auch der Theatermacher selbst nicht. Man will eine Geschichte entstehen lassen. Man werde sich im Laufe der Arbeit verdoppeln, ja vervielfachen, es würden, im besten Falle, andere, verschüttete Teile ihrer selbst zum Vorschein kommen.

Sie selbst, die auf der Bühne steht und erzählt, von ihrem Manuskript liest, hatte die Aufgabe, als Protokollantin eine Mitschrift dieser Tage anzufertigen, eine Mitschrift, die im Grunde alles enthalte, ALLES, in Grossbuchstaben… Eine Aufgabe, die ihr in diesen seltsamen Tagen weit ab aller Zivilisation alles abverlangt, in der jede Begegnung, selbst ein ausrangierter Kühlschrank, den man an einer Halde entsorgte, eine Kaskade von Erinnerungen und Assoziationen auslöst. Geschichten, die andere, die Mitreisenden erzählen, Geschichten, die sie sich selbst erzählt. Auf den Spuren jener Frauen aus der holländischen Stadt Leiden, die damals auf ihrer Reise ohne Ende am selben Ort wie sie vor Ort gewesen waren, einer Reise auf den Spuren einer anderen Reise. Als hätte sich die mittelalterlichen Erzählungen „Canterbury Tales“ von Geoffrey Chaucer in eine undurchsichtige Gegenwart transformiert.

Was in diesem seltsamen, geheimnisvollen, rätselhaften Roman so bestechend ist, ist die Sprache, Dorothee Elmigers Kunst, sich einem Sprachrausch hinzugeben, der sich aller Schreib- und Erzählstrategie verweigert. Dorothee Elmigers Buch wabert an den Grenzen von Sein und Nichtsein, zwischen Leben und Tod. Es riecht nach der Feuchte des Urwaldes, schildert eine Gruppe loser miteinender verbundener Menschen, die dem Theatermacher in fast messianischem Gehorsam folgen. Man lauscht den kryptischen Äusserungen dieses Mannes, staunt darüber, wozu Menschen bereit sind, wenn sie der Überzeugung sind, an etwas Aussergewöhnlichen, Besonderen teilhaben zu können.

Wer plottgesteuert liest, wird von Dorothee Elmigers neustem Husarenstück enttäuscht sein. „Die Holländerinnen“ ist weder Strand- noch Einschlaflektüre. Ihr Buch setzt sich fest, nistet sich ein. Ihr üppiger Sound macht trunken. Wären Elmigers Sprachbilder Gemälde, dann erinnern sie an jene von Anselm Kiefer.

Dorothee Elmiger, geboren 1985 in der Schweiz, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in New York. Ihre Bücher «Einladung an die Waghalsigen» (2010), «Schlafgänger» (2014) und «Aus der Zuckerfabrik» (2020) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für die Bühne adaptiert und vielfach ausgezeichnet.

Gewinnerin des Deutschen Buchpreis 2025

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Beitragsbild © Georg Gatsas