Annie Ernaux bezeichnet sich selbst als «Ethnologin ihrer selbst». Weit gefehlt, wer glaubt, die Schriftstellerin betreibe damit Nabelschau. «Der Platz» ist eine Liebeserklärung an den toten Vater, eine Liebeserklärung an die Entschlossenheit eines Lebens.
Mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen und seiner Erstübersetzung auf Deutsch unter dem Titel «Das bessere Leben» erschien «la place» in einer sorgfältig neu übersetzten Ausgabe im vergangenen Jahr in der legendären Bibliothek Suhrkamp, in der «Bibliothek der Klassiker der Moderne». Annie Ernaux’s Erzählkosmos ist sie selbst, ihre Geschichte, ihre Herkunft, ihre Familie. Und kaum einer Autorin oder einem Autor sonst gelingt diese Art der Erkundung auf eine so schlichte, bescheidene, sachliche und fast dokumentarische Art wie Annie Ernaux. Kein Wunder spaltet die Autorin. Die einen werfen ihr vor, man lese nur immer und immer wieder das gleiche, Banales. Andere bezeichnen ihr Schreiben als geniale Mischung von Autobio- und Historiographie.
Annie Ernaux nimmt den Tod ihres Vaters als Anlass über ihn und sein Leben zu erzählen, ein Leben von Beginn des 20. Jahrhunderts, an zwei Kriegen vorbei, von bitterster Armut, dem Kampf ums Überleben, der permanenten Ernüchterung und der Angst vor Verlust. Ihr Vater konnte kaum lesen, kaum schreiben. Zeitlebens waren ihm Bücher, Bildung, Intellekt suspekt. Er war Bauer, Arbeiter, schaffte es irgendwann selbst Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens mit Ausschank zu werden, wurde aber nie der, der sich in seinem Stand sicher fühlte. Sein Leben bestand aus Arbeit, Kampf und der Einsicht, dass einem nichts geschenkt wird. Selbstverständlichkeiten aus heutiger Sicht, wie Ferien oder minimaler Luxus waren ihm fremd. Durch nimmermüden Einsatz gewonnener Überfluss verpflichtete zu Hilfe und Unterstützung jener, denen das Glück sich verweigerte. Leben bestand aus Arbeit. Man lebte, um zu arbeiten. Auch wenn sich heute solche Sätze umkehren, liest sich die Lebensgeschichte dieses Mannes als wäre sie prähistorisch. Dabei braucht man nur in den Fotoalben unserer Gross- und Urgrosseltern zu stöbern und man trifft sie wieder, die Ehepaare, die schwarz gekleidet vor einer drapierten Kulisse mit todernstem Gesicht dem Fotografen in die Linse starren.
Auch wenn sich der Text nüchtern, fast sachlich gibt, drückt der Schmerz hindurch, die Trauer darüber, nie jene Nähe zum Vater gewonnen zu haben, die das letzte Verstehen ermöglicht hätte, das beiderseitige Verstehen: «Vielleicht hätte er lieber eine andere Tochter gehabt.»
«Vielleicht sein grösster Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte.»
Annie Ernaux will verstehen. Sie öffnet sich selbst das Fenster zur Vergangenheit und blickt auf das Leben ihres Vaters, dem sie nur schreibend nahe kommen kann. Annie Ernaux schenkt mir als Leser einen Blick mitten in dieses Leben, eine Vergangenheit, die sich leicht verklärt, sei es durch Filme oder die Literatur selbst. Annie Ernaux beschönigt nichts. Wer ihre Bücher liest, spürt dem haftenden Gerüchen von Armut und Demut nach. Ihr Erzählen ist nüchtern, ohne Metaphern, chronologisch, ohne Abschweifungen. Einzige kurze Reflexionen über das Schreiben selbst durchziehen den Text, machen klar, mit wie viel Ringen das Schreiben verbunden ist.
«Der Platz» ist eine Annäherung an den Vater. «Eine Frau» jene an ihre Mutter. Ein perfekter Einstieg in das Leseabenteuer Annie Ernaux!
Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden.
Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada). 2019 erhielt sie den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis.
Annie Ernaux über ihr Schreiben und ihr Buch «Der Platz»
Beitragsbild © Sandra Kottonau