Ich lese, weil ich die Welt nicht aus den Augen verlieren will. Ich lese, weil sich die Welt der Gegenwart sonst in rasendem Tempo von mir entfernt. Und manchmal lese ich ein Buch, das mich daran erinnert, auch einmal jung gewesen zu sein. Kein Buch über die Unbeschwertheit, schon gar nicht die Leichtigkeit des Seins. Aber ein Buch wie das von Leona Stahlmann, das zeigt, dass es nicht erst die Welt der Erwachsenen braucht, um gefangen zu sein.
Sie lernen sich in der Schule kennen, im letzten Jahr, Mina und Vetko. Mina sieht sich nicht so wie die anderen Mädchen in der Klasse. Aber Mina sieht in Vetko, dem Aussenseiter, der alleine vorne in der ersten Reihe sitzt und um einiges älter ist alles alle andern, einen Verbündeten. Auch einen, der nicht ist wie alle andern im Dorf. Sie kommen sich näher. So nahe, dass die Spuren der Nähe auf Minas Haut unübersehbar werden. Mina sieht in der Art und Weise, wie Vetko ihr begegnet nur die immerwährend schwelende Bestätigung, dass an ihr etwas nicht stimmt. Etwas stimmt nicht, weil Vetko die Welt in unumstösslichen Sätzen zu erklären weiss, eine Welt,, die sie nicht versteht. Etwas stimmt nicht, weil sie genau spürt, dass die Bindung zu Vetko anders ist als das, was man als Liebe bezeichnet, wovon die andern Mädchen in der Klasse schwärmen. Etwas stimmt nicht, weil sich alles ineinanderfügt und sich niemand, schon gar nicht ihre Mutter oder jemand ander dem Strudel entgegenstellt, der Mina hinabzieht. Etwas stimmt nicht, weil Vetko sie permanent zu bestrafen scheint für eine Welt, die aus den Fugen geraten ist.
Die Treffen zwischen den beiden finden in aller Heimlichkeit statt, verborgen vor allen. Treffen, an denen sich Vetko mit seinem sonderbaren Paarungsverhalten immer verletzender an Mina vergeht, Mina untertan macht, sie erniedrigt, knechtet, ihr Prüfungen auferlegt, die beweisen sollen, dass nur er der ist, der versteht. Aus Minas Faszination für den schlaksigen Einzelgänger wird tief eingegrabene Abhängigkeit. Vetkos Strenge scheint die Fortsetzung der mütterlichen Strenge zu sein. Vetkos gebieterische Art die einzige Möglichkeit, ihren Defekt zu kompensieren.
Mina rutscht immer tiefer in die Abhängigkeit, tut alles, um Vetko zu genügen, fügt sich seinen Verboten und Geboten. Und obwohl sie immer wieder einmal den Versuch unternimmt, Distanz zwischen sich und Vetko zu bringen, siegt immer wieder die Angst, sie würde die letzte Orientierung, den letzten Halt verlieren.
Leona Stahlmann schildert hart. Nicht nur das, was an verletzenden Körperlichkeiten zwischen den beiden geschieht. Was ihren Roman zum Leseerlebnis macht, ist nicht die Drastik der Geschehnisse, die sie beschreibt, sondern der diametrale Kontrast ihrer Sprache zum Geschehen. Sie schreibt nicht in Grautönen, scharf gezeichnet. Sie mäandert mit der Sprache. Was sie beschreibt, sind nicht bloss die Spuren auf Minas Haut, die blauen Flecken, das Leben, das wie Säure in den Rachen rinnt. Leona beschreibt, was innen bleibt, tut das in einem Sound, der flirrend luftig rockt, der sich aufbauscht, Kapriolen schlägt. Ein Ton, der einem berauscht und betört. So sehr die Geschichte nach unten zieht, bis zum letzten Satz, so sehr erhebt sich die Sprache in ungewohnte, fast schwindelnde Höhen.
Leona Stahlmann beschreibt, wie weit weg der eigene Planet abdriften kann, wie sehr man sich auf der Suche nach Echtheit, nach seiner eigenen Kontur, nach Liebe verlieren kann. Literatur für mutige LeserInnen. Literatur, die mich nicht so leicht wieder entlässt. Ein Roman, der ein Versprechen für die Zukunft ist!
Ein Interview mit Leona Stahlmann
Was will ich mehr, als mit Literatur in Welten eintauchen. Auch in fremde Welten. Mit ihrem Roman geschieht genau das, auch wenn die Dorf-, Schul- und Landschaftskulisse vertraut ist. Umso mehr überrascht, dass Sie eine Welt ausleuchten, von der ich wenig Ahnung habe, eine Welt, die sich hinter all den Idealbildern verbirgt, die uns glauben machen, die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein sei nur ein Übergang. Ist das Aufklärung?
Aufklärung ist ein Lichtphänomen: eine eintretende Helligkeit an einer Stelle, die vorher nicht nur dunkel, sondern vielleicht sogar unsichtbar gewesen ist. Ich belichte mit diesem Buch gewohnte Bilder neu, zeige das Fremde in ihnen und darauf dem Leser, der Leserin, was dieses gefundene Fremde mit ihnen zu tun hat, wieviel von Ihnen, den Lesenden, mir, jedem Menschen im vermeintlich Abstossenden, in der Ausleuchtung der dunklen Ecke steckt.
Die Geschichte kontrastiert mit der Sprache und macht damit die Geschichte noch viel stärker. Ihr Buch erzählt nicht nur einfach vom Leiden einer jungen Frau, den Abhängigkeiten, der Suche nach dem Echten und Wirklichen. Sie erzählen in einer Sprache, die üppig und verspielt sein kann, grosse Musikalität beweist. War das die Absicht vom Beginn des Schreibens weg?
Ja, absolut. Ein Buch ist ein flexibler Container, der immer die Form seines Inhalts annehmen muss. Das Grausame und Harte und Zerrissene kann man, muss man schön, üppig, manchmal gar schmeichelnd erzählen, damit es auf die Seele wirkt, nicht nur auf den Verstand.
Mina ist ein Mädchen, eine junge Frau, die sucht, verzweifelt sucht. Die einen werfen sich in Ideologien oder Religionen. Mina in die Arme eines dunklen Propheten, der sie immer wieder zwingt, ihre Loyalität zu beweisen. Und doch schimmert in keiner Zeile ihres Romans eine Verurteilung durch, schlussendlich nicht einmal Hoffnung. Sind das die Auswirkungen all dessen, was durch die globalen Bedrohungen verloren geht; die romantische Hoffnung einer besseren Zukunft?
Dunkler Prophet, das gefällt mir sehr, auch wenn es ein falscher Ausdruck ist. Ich empfinde die Figur Vetko gar nicht als dunkel; er verdunkelt höchstens absichtlich einen Teil der überkomplexen Wahrheiten unserer verstrickten Zeit, um es sich einfach zu machen, sperrt einen Ausschnitt der Welt ab, der ihm passt, um ihn überschaubar zu halten. Ob das das Ende einer romantischen Hoffnung bedeutet oder ihren Anfang, habe ich bewusst offen gehalten; das mag ein anderer entscheiden, am Besten jeder Leser, jede Leserin für sich (und mir gern davon erzählen).
Vetko weiss es. Nur alle anderen wissen es nicht. Und Vetko weiss intuitiv, wieviel Angst er bei Mina mobilisieren muss, dass sie in seiner Abhängigkeit hängen bleibt. Eine Metapher für viel grössere Zusammenhänge?
Natürlich – dieses Buch funktioniert in Deutungsspiralen, die sehr gross gezogen werden können, bis zur globalen Spannweite, wenn man es möchte. Aber man muss es nicht.
Wir leiden alle unter Defekten. Die eine zerstörerischer als die andern. Ist Schreiben eine Form des Kampfes dagegen? Gegen den Defekt? Schreiben, ein fertiges Buch als ein ganz kleines Stück Paradies, das man zurückgewonnen hat?
Ein fertiges Buch ist wohl eher eine kleine Hölle, die man losgeworden ist auf ein paar hundert Seiten, sicher verstaut hinter zwei Pappdeckeln. Am Besten gehört übrigens ein Schuber drumherum, dann sind die Ungetüme darin garantiert ausbruchssicher. Beim nächsten Buch vielleicht 😉
Leona Stahlmann, geboren 1988, lebt in Hamburg und arbeitet als Autorin, Journalistin und Veranstalterin. 2017 gewann sie den Hamburger Förderpreis für Literatur, 2018 war sie Stipendiatin der Romanwerkstatt des Literaturforums im Brecht-Haus in Berlin und gewann den ersten Wortmeldungen-Förderpreis. «Der Defekt» ist ihr Debütroman.
Beitragsbild © Simone Hawlisch