Dave Eggers «Die Augen und das Unmögliche», Atlantis

Gibt es Kinderbücher? Jugendbücher? Wahrscheinlich gibt es Bücher, die explizit für ein Publikum geschrieben sind. Aber manchmal gibt es Bücher, die alle Sprachen sprechen, jene der Kinder, jene Jugendlicher und jene Erwachsener. Bücher wie „Die Augen und das Unmögliche“ von Dave Eggers. Bücher mit scheinbar einfacher Melodie. Mit Zwischen-, Unter- und Obertönen.

Haben sie „Momo“ von Michael Ende gelesen und dabei irgendwann das Gefühl gehabt, sie würden eine Kindergeschichte lesen? Eine einfache Geschichte für einfache Gemüter? „Momo“ spiegelt genauso wie Dave Eggers „Die Augen und das Unmögliche“ die Welt und was passiert. Diese Geschichte ist auch keine Tiergeschichte, auch wenn der Protagonist Johannes ein Hund ist. Ein Hund mit einer Aufgabe, denn in diesem grossen, riesengrossen Park ist Johannes ‹Das Auge›. Kein Wachhund, aber der Blick fürs Ganze, das Auge für die drei alten, weisen Bisons Freya, Meredith und Samuel, die seit ewigen Zeiten das Sagen über die Geschicke der Tiere haben und stets in ihrem Gehege bleiben, von Wärtern gefüttert.

Dave Eggers «Die Augen und das Unmögliche», Atlantis, 2024, Illustrator Shawn Harris, aus dem amerikanischen Englisch von Ilse Layer, 240 Seiten, CHF ca. 33.00, ISBN 978-3-7152-3013-9

In diesem riesigen Park hat es auch Menschen, mal wenige, mal viele. Solche, die mit Rädern an den Füssen über Wege und Strassen flitzen, manchmal mit eigenartigen Geräuschen aus tragbaren Kisten. Solche, die tanzen. Aber auch solche, die unerklärlichen Lärm verursachen, Dinge zerstören oder Müll zurücklassen. Oder solche in Uniformen. In diesem Park gibt es neben Wegen und Strassen auch Gebäude. Manch eines ist riesig. Und in der Mitte des Parks geschehen seltsame Dinge, denn dort wächst ein riesiges Ding mit nur wenigen Fenstern, das die Tiere im Park verunsichert.

«Lebendig sein heisst, seinen Weg zu gehen.»

Überhaupt scheint im Park eine Zeit des Umbruchs anzubrechen. Der immergleiche Alltag des Parks wird mehr und mehr gestört. Eines Tages stehen rund um das neu entstehende Gebäude Tafeln mit Bildern. Bilder, die Johannes eine Wirklichkeit zeigen, von der er nichts wusste, einer Wirklichkeit, die in über die Massen in Bann zieht, die in so sehr fesselt, dass er nicht einmal merkt, dass er von einem der Menschen gestreichelt wird. Eine Berührung durch dieses Bild und eine Berührung durch diese Hand.

Johannes ist der einzige seiner Art. Es gibt wohl noch andere Hunde, aber diese werden an Leinen von Menschen geführt. Sie sind auch nicht so schnell wie er, denn Johannes ist, wenn er denn will, so schnell wie das Licht. Man achtet Johannes, denn ohne ihn gäbe es ‹Das Auge› nicht für die drei alten Bisons. Und ohne Freya, Meredith und Samuel gäbe es die tausendjährige Ordnung nicht.

Doch eines Tages gerät Johannes, erstarrt im Bann jener Bilder vor dem eigenartig grossen Gebäude mitten im Park, in die Fänge von Menschen. Sie packen ihn und zerren ihn in eine metallene Kiste auf Rädern. Nur mit Hilfe seiner vielen Freunde im Park gelingt Johannes die Flucht vor den Dieben. Und weil ihm Gutes getan wurde, weil man ihn unter Aufbietung aller Kräfte rettete, meint auch Johannes etwas Grosses tun zu müssen; Die drei Bisons Freya, Meredith und Samuel sollen frei sein.

In „Die Augen und das Unmögliche“ geschieht das Unmögliche. Es ist eine Geschichte über Freiheit und Mut, über die Grenzen dieser Freiheit und die Kraft der Gemeinschaft. Wie leicht wir uns fesseln lassen, weil wir zu wissen glauben. Dave Eggers Roman ist eine phantastische Parabel über eine Welt, die aus den Fugen gerät. Über die Macht von Bildern, äussere und innere.

Ich bin sicher, dass meine Enkelinnen mir gerne beim Vorlesen zuhören würden. Und ich bin sicher, dass ich dieses Buch immer und immer wieder lieben werde.

Berndt Lindholm, Forest Interior, 1878, Finnische Nationalgalerie, Helsinki, Finnland

PS Die Gemälde in diesem Buch sind klassische Landsachftsgemälde längst verstorbener Künstler. Der Illustrator Shawn Harris malte Johannes den Hund in alle diese Bilder hinein, ohne die Gemälde sonst zu verändern.

Dave Eggers (*1970) ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren. Sein Werk umfasst zahlreiche Bücher für Erwachsene, darunter «Every»,»»Der Circle» und «Ein Hologramm für den König». Ebenso hat er bereits mehrere Bücher für junge Leser*innen geschrieben, darunter «Die Mitternachtstür» und «Her Right Foot» und «What Can a Citizen Do?», die beiden letzteren illustriert von Shawn Harris. Dave Eggers ist Gründer von McSweeney’s, einem unabhängigen Verlag, und Mitbegründer von 826 National, einem Netzwerk von Schreib- und Nachhilfezentren für Jugendliche. Er lebt mit seiner Familie in Nordkalifornien.

Die neun Gemälde in diesem Buch sind klassische Landschaftsgemälde längst verstorbener Künstler. Shawn Harris, mit dem Dave Eggers schon häufig zusammengearbeitet hat, hat Johannes in alle Bilder hineingemalt, ohne sie ansonsten zu verändern. Shawn Harris lebt in Nordkalifornien, wo er auch gerne Songs schreibt, surft und Racquetball spielt.

lse Layer arbeitete nach ihrem Studium zunächst im Kulturbereich und in einem Verlag, bevor sie sich 1991 als Literaturübersetzerin für Spanisch und Englisch selbstständig machte. Sie lebt in Berlin. Für ihre Übersetzungen hat sie diverse Auszeichnungen und Preise erhalten, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Dave Eggers «Die Parade», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Brecht van Maele

Dave Eggers «Die Parade», Kiwi

Irgendwann, irgendwo in nicht ferner Zukunft. Zwei Männer asphaltieren die Strasse zur Hauptstadt, voll maschinell, in wenigen Tagen. Dann soll eine Parade stattfinden. Zu Ehren der Strasse? Der neuen Regierung? Als Beginn des zu erwartenden Fortschritts? Als Startschuss nach Jahren, die das Land zerstörte? Dave Eggers schildert, was im Windschatten grosser Veränderungen stattfindet. Ein düsteres Bild ganz nah an der Wirklichkeit.

Ein langer Krieg, ein Bürgerkrieg hat das Land verwüstet, die Infrastruktur zerstört. Korruption grassiert, eine neue, unrechtmässige Regierung ist an der Macht, deckt alles zu, was an Rebellion noch immer kocht. In einem Land, das irgendwo sein könnte, einem Land, das sich an der Wirklichkeit spiegelt. Eine hochtechnisierte Firma wird beauftragt zweihundertdreissig Kilometer einer zweispurigen Strasse, die den Süden mit der Hauptstadt verbindet, zu asphaltieren und markieren. Die Zeit für die riesige Maschine, die von zwei Männern in Betrieb genommen wird, ist knapp bemessen, dass Soll exakt definiert, Verzögerungen zur Not mit Gewalt zu minimieren.

Und weil die Firma in der Vergangenheit immer wieder einmal mit Störungen und Erpressungen konfrontiert wurde, ist die riesige Asphaltiermaschine RS-80 mit allem ausgerüstet, was Eventualitäten aus dem Weg räumen könnte. Auch die beiden Arbeiter, zwei Männer, nennen sich aus Sicherheitsgründen «Vier» und «Neun», erzählen sich nichts von sich selbst.

Dave Eggers «Die Parade», Kiepenheuer & Witsch, 2020, 192 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-462-05357-9

Aber es wird schnell klar, dass die Mission unter einem noch schwierigeren Stern steht, als die Umstände es fordern. Während «Vier», der Mann im Cockpit von RS-80, ein erfahrener Mann ist, der sich strickt an die Vorgaben seiner Firma zu halten versucht, ist «Neun», der die riesige Maschine mit einem Quad begleiten soll, um die zu asphaltierende Trasse von allen Störungen zu befreien, ein unerfahrener junger Wildfang, dem die Vorschriften der Firma wenig Eindruck machen.

Während das schwarze Band mit der weissen Doppellinie in der Mitte jeden Tag fast dreissig Kilometer länger wird, die Maschine, die einen sauberen, heissen Belag hinter sich in der Landschaft liegen lässt, während links und rechts überall die Narben von Krieg und Zerstörung noch lange liegen bleiben werden, im Schritttempo von Asphaltcontainer zu Asphaltcontainer kriecht, entfacht ein Nervenkrieg. Nicht so sehr zwischen den beiden Männern, als viel mehr im Kopf von „Vier“. Er ist allein. Allein mit sich und seinen Interpretationen des Geschehens. Mehrfach tauchen Figuren auf, die nichts Gutes erwarten lassen, die dann aber doch mehr helfen als stören. „Vier“ ist im Kriegszustand mit sich selbst, seinen schlimmen Befürchtungen und Vorahnungen, die durch seine Erfahrungen befeuert werden.

Dave Eggers Roman ist die Nahaufnahme eines Mannes, der mit sich selbst zu kämpfen hat. „Vier“ hat sich ganz der Erfüllung eines Auftrags, einer Aufgabe verschrieben. Er kümmert sich nicht um deren Zusammenhang, deren Auswirkung. Er hat einen Job. Einen Job, der im Notfall ausserordentliche Massnahmen fordert. Einen Job, der im Kleinen dem Grossen seinen Platz verschafft. Ihm muss egal sein, was um ihn herum geschieht, ein soldatisches Verhalten, dass sich oft unter dem Mantel der Loyalität verbirgt.
Auf der anderen Seite die „Neun“, die Jugend, die sich einlässt, aber auch gerne auslässt, die nicht verstehen kann, dass man sich mit vorauseilendem Gehorsam den Freuden des Lebens verweigern kann.

„Die Parade“ ist aber auch eine Parabel darüber, wie sich menschliche Unordnung und Zerstörungskraft gebärdet, wie eine Strasse zum Symbol für Zukunftshoffnung, Aufbruch und Fortschritt wird. Eine Welt, die vom männlichen Prinzip der Eroberung geprägt ist, in Kriegs- und Krisenzeiten, in denen Frauen abgedrängt und zu Opfern gemacht werden. „Die Parade“ spielt im Kleinen, als spiele es fast dauernd um die riesige RS-80, an der ein kaputtes Land im Schritttempo vorbeizieht. Aber die „Parade“ macht auch ratlos, denn vieles bleibt im Schatten, im Unklaren, nur wage, nur Vermutung, so wie das dauernd wechselnde Szenario im Kopf von „Vier“. Ein verstörender Roman, dem man sich auszusetzen bereit sein muss. Und ein Tor in den Kosmos Dave Eggers!

© Brecht van Maele

Dave Eggers, geboren 1970, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren. Sein Werk wurde mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet. Sein Roman «Der Circle» war weltweit ein Bestseller. Der Roman «Ein Hologramm für den König» war nominiert für den National Book Award, für «Zeitoun» wurde ihm u.a. der American Book Award und der Albatros-Preis der Günter-Grass-Stiftung verliehen. Eggers ist Gründer und Herausgeber von McSweeney’s, einem unabhängigen Verlag mit Sitz in San Francisco. Eggers stammt aus Chicago und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Nordkalifornien.

Klaus Timmermann und Ulrike Wasel entdeckten noch während des Studiums die Freude am gemeinsamen Übersetzen und beschlossen nach dem Examen, den Sprung in das Leben als Literaturübersetzer zu wagen. 2012 wurden sie gemeinsam mit dem Autor Dave Eggers für ihre Übersetzung seines Roman «Zeitoun» mit dem internationalen Albatros-Literaturpreis der Günther-Grass-Stiftung Bremen ausgezeichnet.

http://www.mcsweeneys.net

Beitragsbild © Sandra Kottonau