Ein neuer Name auf der literarischen Bühne – ein Name, den ich mir merken werde – ein Name, mit dem sich Grosses entfalten kann. Rebecca Gislers erstaunliches Debüt verblüfft nicht durch seine Geschichte, sondern durch die Sprache, die hohe Kunst schmeichelnder Sätze, die Frische verspielter Satzkaskaden. Wer sich als literarischer Gourmet versteht, lese diesen Roman!
Klar, ein Debüt soll verblüffen. Schliesslich nimmt man mit jedem neuen Namen, der ein Buch ziert die Hoffnung mit, einem aufsteigenden Stern zuzusehen. Keiner Sternschnuppe, sondern einem neuen Fixstern im Meer der vielen kleinen und grossen Lichter am Bücherhimmel. Manchmal, aber eher selten passiert das. So erinnere ich mich an die Erstlektüre von Markus Werners Debüt „Zündels Abgang“ (1984), der mich als Lehrer doppelt bewegte, oder an Ruth Schweikerts „Erdnüsse. Totschlagen“ (1994) Erzählungen aus dem Epizentrum Familie, den ich als Vater einer wachsenden Familie mit einer ordentlichen Portion Verunsicherung las.
„Vom Onkel“ ist als Geschichte schnell erzählt. Der Onkel, noch nicht einmal sechzig, wohnt in einem kleinen Haus an der französischen Nordküste. Weit ab vom Schuss. Der Onkel ist aber nicht nur örtlich weit ab vom Schuss, sondern in seiner ganzen Art, wie er das Leben nicht meistert. Es geht ihm schlecht. Und weil Nichte und Neffe, als sie Kinder waren und die Grossmutter noch lebte, immer wieder Ferien in dem Haus am Meer machten, entschliessen sich die beiden, mehr oder weniger ungefragt in das weisse Haus mit den blauen Läden zu ziehen. Sie ins Zimmer neben dem Onkel, er in einen Teil der Garage. Eine Art Wohngemeinschaft an der bretonischen Küste.
Das Leben des Onkels ist ein einfaches. Seine Arbeit als Gärtner hat er aufgegeben. Er sitzt in seinem Haus, schaut fern, ernährt sich von Schokokeksen und Wurstschnitten, bewegt sich allerhöchstens mit seinem Mofa bis zum nächsten Supermarkt und reisst sich auch zur Körperhygiene kein Bein mehr aus. Nichte und Neffe beginnen eine langsame Annäherung an einen Onkel, der sich eigentlich schon lange verabschiedet, aufgegeben hat. Ebenso ist es für Nichte und Neffe eine Annäherung an sich selbst, an die Frage, was aus ihrem Leben noch werden soll, was im Leben wichtig ist, wofür es sich lohnt. „Vom Onkel“ erzählt von einem Mann, dem das Tempo des Lebens immer zu schnell war, der sich abhängen liess, der es nie schaffte „auf eigenen Füssen zu stehen“. Solange Grossvater und Grossmutter noch da waren, hatte er seinen Platz, später zieht er sich immer mehr in ein Leben zurück, dass mit den anderen und mit anderem nichts mehr zu tun haben will. Bis der Gesundheitszustand des alten Mannes dramatische Dimensionen annimmt.
Aber eben – es ist nicht die Geschichte. Das hätte auch für eine Erzählung gereicht. Was den alles überragenden Reiz dieses Buches ausmacht, ist die überbordende Kraft der Sprache. Die langen Sätze, die sich wie Schlingen um mich als Leser winden, die aber nie krampfhaft einem Plan folgen, einer Absicht, die nichts beweisen müssen. Dass es Rebecca Gisler schon mit ihrem Debüt schafft, mich derart zu verblüffen, in vielfacher Weise hochstehend zu unterhalten, ist selten genug. Mag sein, dass die einen bemerken: Lange Sätze komplizieren nur! Aber bei Rebecca Gislers Erstling eben nicht. Sie schmeicheln mir. Es sind spielerisch, leichte Satzgirlanden, die mich manchmal veranlassten, einen Abschnitt ein zweites Mal zu lesen, um es noch einmal zu geniessen.
Ein erstaunliches Debüt in einem Verlag, der sich mit diesem Buch vielversprechend bemüht aus der Asche seiner grossen Geschichte zu steigen!
Interview
Waren zu Beginn einzelne Bilder, gar Textpassagen, die sich erst mit dem Schreiben zu einem grösseren Gebilde fügten? Oder war das ganz banal auch der Wunsch, „eine Geschichte zu erzählen“?
Tatsächlich war zu Beginn vor allem die Figur des Onkels. Mehr als den Wunsch, eine Geschichte zu erzählen, gab es den Wunsch, den Onkel zu erzählen, ohne genau zu wissen, wohin das führen soll. Was mich persönlich am meisten interessiert beim Schreiben und am Lesen, sind die emotionalen Eindrücke, die ein Text hinterlässt, Sprachbilder, die aneinandergereiht so etwas wie eine Geschichte ergeben können und weniger der Wunsch danach, etwas (nach) zu erzählen. Ich denke, dass ein Text seine Sprache erfindet, genauso wie die Sprache den Text erfindet. In „Vom Onkel“ widerspiegelt die Sprache die Figur des Onkels und umgekehrt: Eine Psychologie, die vor allem durch Gesten und Körper entsteht, eine Abfolge von beobachteten Tatsachen in einfacher Sprache.
Lange Sätze, die schmeicheln, die sich wie Sprachmelodien über eine ganze Seite ziehen. Ich erinnere mich an einen meiner Deutschlehrer, der uns stets ermahnte, kurze Sätze zu schreiben, uns nicht zu verheddern. Genau dieses Verheddern passiert Ihnen nie. Gelingt Ihnen das leicht? Wie arbeiten Sie an solchen Sprachgefügen, damit sie so leicht bleiben?
Ich glaube, dass diese langen Sätze viel damit zu tun haben, dass ich das Buch zuerst auf Französisch geschrieben habe. Der Wechsel der Schreibsprache, das Übertragen ins Deutsche aus dem Französischen, das meine Muttersprache ist, eine Familiensprache und damit vor allem eine mündliche Sprache, hat, glaube ich, viel dazu beigetragen, dass diese Figur und diese Sprache entstanden sind. Ich fühlte mich anfangs beim Schreiben auf Französisch viel weniger wohl als beim Schreiben auf Deutsch. Die französische Sprache, die ich in gewisser Weise auf eine naivere Art benutze, hat mir geholfen, mich von einer „korrekten Grammatik“ zu befreien, mit der ich das Deutsche verband, mit der Sprache als Material zu spielen, sie zu einer wirklich subjektiven Erfahrung zu machen, die manchmal roh, manchmal unkorrekt ist und eine grosse Anzahl von Einflüssen mit sich bringt.
Als es dann darum ging, den Text ins Deutsche zu übertragen, habe ich versucht die Sprache so gut wie möglich anzupassen. Wobei ich sagen muss, dass ich die Sätze in der deutschen Fassung teilweise kürzer halten musste, wahrscheinlich ebenfalls aus dem Grund, dass die deutsche Sprache meine Schulsprache ist und war, die ich anders gelernt habe als die französische.
Der Onkel ist ein Sonderling, das, was man heute Messie nennt. Ein Mann zieht sich zurück, schliesst sich ein, müllt sich zu. Ein Phänomen, das ganze TV-Dokus füllt und ZuschauerInnen mit Gänsehaut zusehen lässt. Der Onkel in Ihrem Roman offenbart sein Geheimnis nicht. Ihnen geht es nicht um Erklärungen. Dabei ist in einer Zeit wie dieser der Rückzug zumindest aus meiner Perspektive nicht die letzte Option. Ist Schreiben auch ein Rückzug?
Definitiv. Ich merke selber, dass Schreiben und Lesen, fast die einzigen Orte in meinem Alltag sind, in denen ich frei imaginieren kann. In diesem Sinne ist Schreiben ein Rückzug, aber keineswegs ein Rückzug von der Realität oder von menschlichen Kontakten, sondern viel eher ein Ort des Denkens und des Beobachtens von Realitäten. Teilweise, und das ist der Punkt, an dem ich tatsächlich das Gefühl habe, zu schreiben, verschwinde ich hinter dem Schreiben, als ob sich der Text von alleine schreiben würde. Vielleicht ist das mit der Figur der Ich-Erzählerin vergleichbar, deren Rolle es ist, den Onkel zu beobachten, während sie selbst hinter diesem Beobachten verschwindet. Der französische Autor Jean-Pierre Martinet meinte sogar, dass die Literatur ein Zufluchtsort für Nichtsnutze sei. Das finde ich auch schön.
Der Onkel ist auch ein „Pendler“, sein Pendel das einzige, was er bei seinem unfreiwilligen Verlassen des Hauses mitnahm. Nimmt einem das Handeln die Last der Entscheidung? Hat sich der Onkel je entschieden? Etwas, was man von uns in der Gesellschaft permanent abverlangt.
Ich denke, der Onkel ist eher unversöhnlich, oder besser gesagt; er hat sich nie versöhnt (mit der Gesellschaft, wohlgemerkt). Das macht ihn wahrscheinlich zu einem glücklichen Charakter. Weil sein ungewöhnlicher Charakter ihn vor einigen allgemeinen Formen der Entfremdung schützt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob sein Schicksal beneidenswert ist, und ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um nicht in das Klischee des glücklichen Verrückten zu verfallen. Zunächst einmal habe ich darauf geachtet, mich an die Beobachtung zu halten, und dabei kam heraus, dass die Handlungen des Onkels, selbst die irrationalsten, einer ziemlich unerbittlichen Logik folgten, nämlich seiner eigenen, die in keiner Weise weniger logisch ist als unsere. In dieser Hinsicht stellt er meiner Meinung nach eine Herausforderung an die Norm dar. Er ist gleichzeitig sehr isoliert in der Gesellschaft und sehr nah an ihr dran.
Warum haben Sie es vermieden, ihren Figuren Namen zu geben?
Figuren, die keine Namen haben, tragen etwas Ungreifbares mit sich und leben von ihren Funktionen in dieser freien Familienlegende, in der die Rollen nicht klar definiert sind. Ich glaube, dass diese Freiheit hier zum grossen Teil von der Verwandtschaftsbeziehung zwischen dem Onkel und seinem Neffen bzw. seiner Nichte herrührt. Es ist ein Verhältnis, das man im Gegensatz zu dem, das uns beispielsweise an unsere Eltern bindet, nicht aufrechterhalten muss und das daher weniger psychologisch belastet ist. Das hat mir eine gewisse Loslösung ermöglicht. Wenn man sich von den Affekten befreit, kann man sich auf das konzentrieren, was vom Klatsch übrig bleibt, der übrigens immer fragwürdig ist und daher, wie mir scheint, die Imagination begünstigt.
Zu Beginn des Schreibens von «D’oncle» habe ich oft über das Thema der Verantwortung nachgedacht, die die Nichte und der Neffe gegenüber ihrem Onkel haben würden, aber ich habe schnell festgestellt, dass dies eine falsche Fährte war: Die Nichte und der Neffe haben in Wirklichkeit keinerlei Verantwortung gegenüber ihrem Onkel, sie sind völlig frei, nicht bei ihm zu bleiben. Ich hatte dieses Gefühl, dass die Verwandtschaftsbeziehungen erschüttert oder ausgelöscht wurden, und es war, als hätte der Onkel die Erzählerin letztlich zum Leben erweckt.
Dieses Haus am Meer. An der bretonischen Küste. Ein Sehnsuchtsort, ein Ort, an dem sich alles niederschlägt, alles liegen bleibt. Ein kleines, weisses Haus, mit blauen Fensterläden. Und doch hat das Haus in Ihrem Roman so gar nichts Romantisches. Das Haus als Kontrast zu Ihrer Sprache?
Ich weiss nicht, ob ich meine Sprache in „Vom Onkel“ als romantisch bezeichnen würde. Vielmehr widerspiegelt sie die Figur des Onkels, wie auch das Haus und die Umgebung, in denen der Onkel lebt. Ein rissiges mit Efeu überwachsenes Haus, welches im Gegensatz zu den anderen Häusern im Dorf, durch seine „unschöne“ Art heraussticht.
Die Sprache musste sich einfach an den allgegenwärtigen organischen Rhythmus anpassen. Das ist ein Grundprinzip der Erzählung und daher ist es auch kein Zufall, dass sie mit der Szene des Verschwindens in der Toilette beginnt. Mich interessieren diese unterschwelligen, viszeralen Rhythmen, die sich zwangsläufig irgendwo in der Sprache wiederfinden. Aber schlussendlich kann man auch sagen, dass all das Unromantische oder Unschöne, sollte es ein Gefühl für die Welt hervorrufen, für mich das Gefühl ihrer Schönheit wäre, der Schönheit ihrer Wildheit und manchmal auch ihrer Grausamkeit.
Rebecca Gisler, geboren 1991 in Zürich, studierte von 2011 bis 2014 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und absolvierte anschliessend den Master-Studiengang Création littéraire an der Universität Paris. Sie schreibt auf Deutsch und auf Französisch; Veröffentlichungen von Lyrik und Prosa in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien; Mitorganisatorin der Reihe «Teppich» im Literaturhaus Zürich. Ihr Debütroman «Vom Onkel», den sie auf Französisch und auf Deutsch verfasst hat, erschien im Herbst 2021 unter dem Titel «D’oncle» in Frankreich und wurde für mehrere Literaturpreise, u.a. für den Prix Les Inrockuptibles, nominiert. Mit einem Auszug aus der deutschen Fassung gewann sie 2020 den Open Mike in Berlin. Rebecca Gisler lebt in Zürich und Paris.
Beitragsbild © René Ruis