Hubert Mingarelli «Ein Wintermahl», ars vivendi

Es ist eisig kalt. Drei Wehrmachtssoldaten machen sich noch vor der Tagwache auf, um in der Umgebung nach versteckten Juden zu suchen. Der einzige Weg, um weg von den täglichen Erschiessungen zu kommen, weg vom alltäglichen Gräuel, der sie fest im Griff hat. Der im Januar 2020 verstorbene Hubert Mingarelli schrieb mit „Un repas en hiver“ ein Kammerstück über drei Männer, die der Geschichte nicht entrinnen können.

Obwohl Hubert Mingarelli in Frankreich zu den bekannten Autoren gehört, ist „Ein Wintermahl“ der erste in Deutsch erschienene Roman Mingarellis. Eine Entdeckung, denn der Roman fokussiert in die geschundenen Seelen deutscher Soldaten, denen während des Krieges, während des tödlichen Gehorsams in der Wärme eines Feuers, einer Mahlzeit Menschlichkeit aufbricht, die angesichts eines einzelnen Schicksals zum Rettungsanker werden soll. Hubert Mingarelli stösst mich als Leser in den Zwiespalt, Mitgefühl mit den Vollstreckern zu bekommen. Er zeigt mir, wie nah die Norm dem Bösen ist, wie elitär der Glaube ist, vor den Abgründen der Unmenschlichkeit gefeit zu sein.

Hubert Mingarelli «Ein Wintermahl», ars vivendi, 2020, 142 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7472-0178-7

Wären sie im Lager zurückgeblieben, hätte sie Leutnant Graaf früh morgens aus der Turnhalle in der Kälte antreten lassen, um sie zu den täglichen Erschiessungen polnischer Juden einzuteilen. Eine Maschinerie, der man nur ausweichen konnte, wenn man sich bereiterklärte, in der Umgebung, in den Wäldern nach flüchtigen Juden zu suchen. Sie machen sich auf, irgendwann immer hungriger werdend, bis sie durch Zufall in einer Erdhöhle versteckt einen jungen Juden aufspüren, den sie durch klirrende Kälte vor sich her treiben. Bis zu einer verlassenen Hütte am Strassenrand, in der sie den Ofen einheizen, in einem schmutzigen Topf Schnee ins Haus tragen mit der Absicht, aus einer Zwiebel, einer Wurst und Maisgriess eine Suppe zu kochen. Bis ein Pole mit seinem Hund auftaucht und sich nicht aus der Hütte vertreiben lässt. Bis dieser eine Flasche Kartoffelschnaps auspackt und sich zum Wintermahl einkauft.

Eine fast traute Situation am warmen Ofen, wenn da der Jude in der Kammer nebenan nicht wäre. Irgendwann fällt auch die Tür zwischen ihnen und dem Juden dem Ofen zum Opfer. Der Pole teilt seine Suppe mit dem Juden und zwischen den drei Soldaten entbrennt ein stiller Streit darüber, was mit dem Gefangenen anzufangen ist.

Hubert Mingarelli koppelt den Suppendampf mit dem Rest von Menschlichkeit, der in den drei Soldaten in der aufkommenden Wärme der Hütte aus dem zugeschütteten Gewissen der Soldaten dampft. Ein Dampf, der nur so lange dauert, bis der Hunger gestillt ist, bis sie die Kälte des polnischen Winters wieder in den Klauen hat und sie wissen, dass sie zurückkehren müssen zu Leutnant Graaf. Hubert Mingarelli schildert aus der Sicht einer der drei Wehrmachtssoldaten, die Gespräche zwischen ihnen und zwischendurch gar den Blick in den kommenden Frühling, zu diesem einen Moment unter einer Brücke im Regen, als eine Kugel das Leben aus einem seiner Kumpanen reisst.
Mingarelli konfrontiert mich mit dem verkümmerten Versuch, sich einen letzten Rest Menschlichkeit, Würde zu greifen, weil jeder der drei ganz genau weiss, dass ihr Tun sie nie mehr loslassen wird, dass es keine Gnade geben wird. Mingarelli kocht die Suppe in 142 Seiten ein, diesen Spagat zwischen eisiger Kälte und dem kurzen Moment der Sättigung, wenn die warme Suppe im Magen ist. 

Ein Meisterstück.

Hubert Mingarelli () war Schriftsteller und Drehbuchautor, Gewinner des Prix Médicis 2003. Mit 17 Jahren verliess Hubert Mingarelli die Schule, um sich der Marine anzuschließen, die er drei Jahre später verliess. Er zog nach Grenoble, wo er in vielen Berufen arbeitete und in den späten 1980er Jahren zu veröffentlichen begann. Er gewann er den Prix Médicis für seinen Roman «Quatre Soldats». Er liess sich in einem Weiler in den französischen Alpen nieder, wo er bis zu seinem Tod etwa vierzig Jahre lang lebte.

Der Übersetzer Elmar Tannert, geboren 1964 in München, lebt in Nürnberg. Kaufmännische Ausbildung, Studium der Musikwissenschaft und Romanistik. 1991 bis 2003 tätig in verschiedenen Berufen, u. a. Datentypist, Zeitungsverkäufer, Lagerist, Tankwart, Paketzusteller. Erste Veröffentlichungen in Zeitungen ab 1994. Freier Schriftsteller seit 2003.

Wortlaut St. Gallen: Zum Beispiel Markus Orths und Jens Steiner!

Zwei Autoren, für die es sich schon lohnt, das 10. St. Galler Literaturfestival «Wortlaut» zu besuchen: Markus Orths erzählt in seinem grossen Roman «Max» vom wilden Leben des Malers und Lebenskünstlers Max Ernst, ein Leben in einem wahnwitzigen Jahrhundert in wahnwitziger Leidenschaft. Und Jens Steiner, der stille Grosse der Schweizer Literatur, in „Mein Leben als Hoffnungsträger“ vom kleinen Leben, in dem sich die Welt spiegelt.

Jens Steiner liest samstags um 14 Uhr im Raum für Literatur in der Hauptpost St. Gallen, Markus Orths am gleichen Samstag um 15 Uhr im Waaghaussaal. Zwei Termine, die man sich neben einer Fülle anderer merken sollte.

Ich freue mich auf die beiden Autoren. Aber am meisten freue ich mich auf eine eventuelle Zugabe von Markus Orts. Beim Verlag ars vivendi erschien in diesem Frühjahr das Buch „Aber sonst geht es mir gut“ von Markus Orths. Humoresken aus seinen bisher erschienen Büchern und speziell für dieses absolut lesenswerte Buch verfasste Schmankerl.

In vielen der in diesem Buch versammelten Geschichten erzählt Martin Kranich von seiner Mutter Ilse Kranich. Aber eigentlich schreibt Markus Orths über seine eigene Grossmutter. Ein Frau mit schwarzem Dutt, die den kleinen Markus oft in Schutz nahm, wenn er wieder was anstellte. Ein Frau, die unentwegt erzählen konnte und deren monologisierende Erzählkaskaden einem förmlich zudecken. Eine Frau aus einem anderen, fremd gewordenen Jahrhundert, in dem das mündliche Erzählen noch über lange Abende hinweghalf und einem über das Neueste in der direkten Umgebung auf dem Laufenden hielt. Eine Frau, die mit ihren Geschichten die Erinnerung an Menschen und Situationen lebendig hielt. Eine Frau, die sich noch nicht durch «Social Media» geschlagen geben musste, der man sich ergeben musste, um sich irgendwann wieder frei zu bekommen. Ein Büchlein, das perfekt fürs Nachttischen bestimmt scheint!

Markus Orts las vor ein paar Jahren schon einmal aus seinem Werk. Wer ihn erlebt hat, weiss, wie unterhaltsam, witzig, geistreich und frech seine Darbietungen sind. Obwohl Markus Orths alles andere als ein lustiger Schreiberling ist, weiss er um die Kunst des literarischen Humors. Markus Orths ist ein begnadeter Geschichtenerzähler!

Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren, studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik in Freiburg und lebt als freier Autor in Karlsruhe. 2017 erschien sein elftes Buch, der Roman Max. Drei seiner Bücher sind in insgesamt sechzehn Sprachen übersetzt worden. Seine Texte wurden u.a. ausgezeichnet mit dem Telekom-Austria-Preis (2008) in Klagenfurt, dem Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld (2009) und dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar (2011). In Paris gewann das Stück Femme de Chambre den Prix Théâtre 13 und den Publikumspreis. Im Theater Baden-Baden wurde Die Entfernung der Amygdala uraufgeführt. Der Film Das Zimmermädchen Lynn (nach dem Roman Das Zimmermädchen) kam 2015 in die Kinos. Zudem schreibt Markus Orths Kinderbücher und Hörspiele.

Jens Steiner, 2013 mit seinem zweiten Roman „Carambole“ Gewinner des Schweizer Buchpreises, ist ein stiller Zeitgenosse, ein stiller Beobachter. Ein Beobachter der kleinen, unscheinbaren Dinge, die sich oft auf Nebenschauplätzen abspielen. Mit „Mein Leben als Hoffnungsträger“ verpackt der Autor auf subtile Weise Gesellschaftskritik, seinen ganz eigenen Humor und offenbart Sätze und Textstücke, deren Zauber sich wie guter Wein in Mund und Nase entfaltet.

„Was in die Häuser der Leute alles reinpasst und ständig wieder raus muss. Mein lieber Mann!“

Philipp ist noch jung und für seinen Vater eine Enttäuschung. Er scheint nicht fähig, sich den Anforderungen der Gesellschaft zu stellen, seinen Mann zu stellen. Da nützen auch Zückerchen oder versteckte Drohungen nichts. Und als Philipp seine Lehre als Mechatroniker schmeisst und ihn seine WG-Mitbewohner wegen seines Putzfimmels auf die Strasse spedieren, bleibt wenig. Aber Philipp lässt sich nicht entmutigen. Er hat der Welt nichts angetan. Und die Welt tut ihm nicht weh. Er fröhnt dem Müssiggang, findet Unterschlupf in einer kleinen Bleibe in einem Wohnsilo und verdient das bisschen, das er braucht, bei Gelegenheitsjobs. Eigentlich könnte alles so bleiben.
Bis Uwe ihn auf einer Bank am Ende einer Strassenbahnlinie entdeckt. Und weil es sich Philipp seit seiner Kindheit zur Gewohnheit machte, Silberpapier (Stanniolpapier) zu sammeln, macht Uwe Philipp zu seinem Hoffnungsträger. Zuhause döselt Philipp jedes einzelne Papierchen auf und glättet sie mit dem Fingernagel. Beeindruckend für Uwe, der hinter der Endschleife der Strassenbahn Chef eines städtischen Recyclinghofs ist, ebenfalls eine Endstation. Aber Uwe zweifelt an einer Menschheit, die nur zu kaufen scheint, um sich wenig später davon zu befreien. Der Recyclinghof, ein Ort, wo sich die Menschen ihren Überflüssigkeiten entledigen. Die einen still und schnell, die andern verschämt oder schamlos.
Mit einem Mal tritt Philipp in ein Gefüge aus Mensch und Material. Auf dem Recyclinghof arbeiten auch noch Arturo und João, zwei Portugiesen, der eine störrisch faul, der andere umtriebig und geschäftstüchtig. Philipp hat seinen Platz gefunden. Wieder könnte alles so bleiben.
Aber Philipp gewinnt Nähe, die ihn ins Geschehen und die Leben auf dem Recyclinghof verstrickt. Sowohl als Uwes Hoffnungsträger wie als Verbündeter in den undurchsichtigen Nebengeschäften Joãos. Ein Freilufttheater auf der Bühne eines Recyclinghofs. Während im Hintergrund der Schredder rattert, spitzt sich die Lage zwischen Containern, Mulden und dem mannshohen Zaun, hinter dem Jahrmarktfahrer den Winter verbringen zu. Welttheater zwischen den unnütz gewordenen Errungenschaften der Zivilisation. Spannend wie ein Krimi wird es, weil das Viergespann João aus der Klemme helfen muss.

„Was die Menschen hier wegwerfen würden, sind die Schuttmoränen ihrer Kaufräusche.“

Jens Steiner spart nicht mit mehr oder weniger sachten Seitenhieben an die Pfeiler einer funktionierenden Gesellschaft, die längst nicht mehr weiss, was sie mit all den Insignien von Wohlstand und Konsumkraft anfangen soll. Jens Steiner schreibt aber weder mit Moralkeule noch Drohfinger. Er tut dies mit seiner unaufgeregten, verschmitzten Art. Während Jens Steiner seine Protagonisten das Geschehen im Recyclinghof beschreiben lässt, türmen sich tiefe Eindrücke des Paradoxen auf der Seite des Lesers. Ein grossartiges Buch über die Schieflage der menschlichen Existenz!

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman „Hasenleben“ (2011) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Jens Steiner wurde 2012 mit dem Preis »Das zweite Buch« der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. 2013 gewann er mit „Carambole“ den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Letzter Roman „Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“ erschien noch bei Dörlemann.