Es ist eisig kalt. Drei Wehrmachtssoldaten machen sich noch vor der Tagwache auf, um in der Umgebung nach versteckten Juden zu suchen. Der einzige Weg, um weg von den täglichen Erschiessungen zu kommen, weg vom alltäglichen Gräuel, der sie fest im Griff hat. Der im Januar 2020 verstorbene Hubert Mingarelli schrieb mit „Un repas en hiver“ ein Kammerstück über drei Männer, die der Geschichte nicht entrinnen können.
Obwohl Hubert Mingarelli in Frankreich zu den bekannten Autoren gehört, ist „Ein Wintermahl“ der erste in Deutsch erschienene Roman Mingarellis. Eine Entdeckung, denn der Roman fokussiert in die geschundenen Seelen deutscher Soldaten, denen während des Krieges, während des tödlichen Gehorsams in der Wärme eines Feuers, einer Mahlzeit Menschlichkeit aufbricht, die angesichts eines einzelnen Schicksals zum Rettungsanker werden soll. Hubert Mingarelli stösst mich als Leser in den Zwiespalt, Mitgefühl mit den Vollstreckern zu bekommen. Er zeigt mir, wie nah die Norm dem Bösen ist, wie elitär der Glaube ist, vor den Abgründen der Unmenschlichkeit gefeit zu sein.
Wären sie im Lager zurückgeblieben, hätte sie Leutnant Graaf früh morgens aus der Turnhalle in der Kälte antreten lassen, um sie zu den täglichen Erschiessungen polnischer Juden einzuteilen. Eine Maschinerie, der man nur ausweichen konnte, wenn man sich bereiterklärte, in der Umgebung, in den Wäldern nach flüchtigen Juden zu suchen. Sie machen sich auf, irgendwann immer hungriger werdend, bis sie durch Zufall in einer Erdhöhle versteckt einen jungen Juden aufspüren, den sie durch klirrende Kälte vor sich her treiben. Bis zu einer verlassenen Hütte am Strassenrand, in der sie den Ofen einheizen, in einem schmutzigen Topf Schnee ins Haus tragen mit der Absicht, aus einer Zwiebel, einer Wurst und Maisgriess eine Suppe zu kochen. Bis ein Pole mit seinem Hund auftaucht und sich nicht aus der Hütte vertreiben lässt. Bis dieser eine Flasche Kartoffelschnaps auspackt und sich zum Wintermahl einkauft.
Eine fast traute Situation am warmen Ofen, wenn da der Jude in der Kammer nebenan nicht wäre. Irgendwann fällt auch die Tür zwischen ihnen und dem Juden dem Ofen zum Opfer. Der Pole teilt seine Suppe mit dem Juden und zwischen den drei Soldaten entbrennt ein stiller Streit darüber, was mit dem Gefangenen anzufangen ist.
Hubert Mingarelli koppelt den Suppendampf mit dem Rest von Menschlichkeit, der in den drei Soldaten in der aufkommenden Wärme der Hütte aus dem zugeschütteten Gewissen der Soldaten dampft. Ein Dampf, der nur so lange dauert, bis der Hunger gestillt ist, bis sie die Kälte des polnischen Winters wieder in den Klauen hat und sie wissen, dass sie zurückkehren müssen zu Leutnant Graaf. Hubert Mingarelli schildert aus der Sicht einer der drei Wehrmachtssoldaten, die Gespräche zwischen ihnen und zwischendurch gar den Blick in den kommenden Frühling, zu diesem einen Moment unter einer Brücke im Regen, als eine Kugel das Leben aus einem seiner Kumpanen reisst.
Mingarelli konfrontiert mich mit dem verkümmerten Versuch, sich einen letzten Rest Menschlichkeit, Würde zu greifen, weil jeder der drei ganz genau weiss, dass ihr Tun sie nie mehr loslassen wird, dass es keine Gnade geben wird. Mingarelli kocht die Suppe in 142 Seiten ein, diesen Spagat zwischen eisiger Kälte und dem kurzen Moment der Sättigung, wenn die warme Suppe im Magen ist.
Ein Meisterstück.
Hubert Mingarelli () war Schriftsteller und Drehbuchautor, Gewinner des Prix Médicis 2003. Mit 17 Jahren verliess Hubert Mingarelli die Schule, um sich der Marine anzuschließen, die er drei Jahre später verliess. Er zog nach Grenoble, wo er in vielen Berufen arbeitete und in den späten 1980er Jahren zu veröffentlichen begann. Er gewann er den Prix Médicis für seinen Roman «Quatre Soldats». Er liess sich in einem Weiler in den französischen Alpen nieder, wo er bis zu seinem Tod etwa vierzig Jahre lang lebte.
Der Übersetzer Elmar Tannert, geboren 1964 in München, lebt in Nürnberg. Kaufmännische Ausbildung, Studium der Musikwissenschaft und Romanistik. 1991 bis 2003 tätig in verschiedenen Berufen, u. a. Datentypist, Zeitungsverkäufer, Lagerist, Tankwart, Paketzusteller. Erste Veröffentlichungen in Zeitungen ab 1994. Freier Schriftsteller seit 2003.