Wann ist Kunst Kunst? Kann ich es oder renne ich nur einem Traum, einer Vorstellung hinterher? Was geschieht mit einem Leben, das weder Tritt noch Richtung findet? André David Winter setzt sich in seinem neuen Roman „Die Kunst, eine schwarze Katze“ mit einem Leben auseinander, das nach Klärung sucht, mitten in Zwängen des Gegenwärtigen.
Anina ist jung und ihr zuhause so gar nicht das, was man sich unter einem warmen Nest vorstellt. Vater und Mutter zerfleischen sich gegenseitig, eine Zerrissenheit, die sich tief in das Mädchen und die junge Frau hineinfrisst. Anina spürt, dass sie etwas finden will und muss, das sie zu sich selbst zurückführt. Aber auch ihre Karriere als Schülerin verläuft alles andere als problemlos, sodass ihr Papa immer und immer wieder der wird, der ihr aus der Verzweiflung darüber hilft, dass das Begonnene nicht dem Gewünschten entspricht.
Anina spürt schon als junges Mädchen, dass ihr das Zeichnen etwas schenkt, was sich mit keinem anderen Tun vergleichen lässt. Durch das Zeichnen erfährt sie eine Welt, die sich ihr auftut und sich nicht wie ihr Elternhaus mehr und mehr verschliesst. Sie bittet ihren Vater um die Finanzierung eines Kunststudiums in Paris, an der École Nationale Supérieure des Beaus-Art, schafft es durch die Prüfungen und landet in der Klasse eines ebenso angesehenen wie angefeindeten Professors, der es versteht, ihr eine Art des Sehens zu vermitteln, die Anina immer mehr hoffen lässt, dereinst aus ihrem Talent einen Beruf zu machen. Aber ausgerechnet jener Professor entpuppt sich als Fälscher, fällt in Ungnade und reisst die junge Studentin in eine tiefe Krise. Die Rückkehr von Paris nach Zürich ist verschüttet, genauso das, was in der Fremde ganz zaghaft zu erblühen begann.
„Schwer zu fangen diese Katze, und doch versuchen wir es, manchmal ein Leben lang. Ich mit Büchern und Sie mit Malen.“
Anina nimmt ihr Leben im permanten Zweifel wieder auf, erst recht als sie ihren Jugendfreund heiratet, schwanger wird und sich in einem Leben der Kompromisse einfügt. André David Winter zeichnet eine Frau, die erst mit der Loslösung von ihrem Mann, mit der unfreiwilligen Distanz zu ihrer pubertierenden Tochter und einem erneuten Aufbruch in die Fremde, das wieder zurückerobert, was ihr Mutlosigkeit, Frustration und Ernüchterung genommen hatten. Er zeichnet den Kampf all jener, die genau spüren, dass ihnen etwas geschenkt wäre, was sich nur durch grössten Zweifel und innere Zerrissenheit an die Oberfläche wagt. Eine junge Frau, die nicht weiss, ob das, was sie tut, „nur“ Leidenschaft oder wirklich Kunst ist.
Anina trifft jene Freundin wieder, mit der sie vor Jahren in Paris an eine Zukunft als Künsterin zu träumen wagte. Eine junge Frau wie sie, die aber mit Mann und Familie schafft, was ihr verwehrt blieb, nicht nur eine eigene Handschrift, ein Leben als Künstlerin, sondern das Selbstbewusstsein, eine Künstlerin zu sein, erst recht mit einer Familie. Anina spürt, dass sie einen Kampf aufnehmen muss, nicht nur gegen die eigene Mutlosigkeit, auch gegen Dämonen aus ihrer Vergangenheit, ihre Verletzungen, ihre tiefe Angst vor Verlust. Was zaghaft aufzubrechen beginnt, wird mehr und mehr zu einer Gewissheit.
„Während sie redete, gingen ihr Bilder der letzten Stunden durch den Kopf, und plötzlich wusste sie, dass sie und was sie malen wollte. Malen musste. Das, was niemand sieht.“
André David Winter setzt sich in seinem kunstvoll konstruierten Roman auch mit der Frage auseinander, was Kunst sein muss und soll. Welchen Formen des Sehens und Spürens man folgen muss, dass aus reiner Produktion Kunst wird. Er schickt eine junge Frau auf eine Entdeckungsreise, zurück in die Vergangenheit, hinein in ihr eigenes Leben, zurück auf die für die Kunst existenziellen Fragen, wo Geschaffenes ein Eigenleben bekommt, nicht bloss Abgebildetes ist.
André David Winter leuchtet in die Tiefen einer zerrissenen Seele und offenbart, was in seiner eigenen immer und immer wieder auflodert.
André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz, verbrachte die ersten acht Lebensjahre in Berlin. Nach Stationen auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien folgten die Ausbildung in der Psychiatrie und die Arbeit als Lehrer für Gesundheits- und Krankenpflege sowie als Gerontologe. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit – der erste Roman erschien 2007 – arbeitet Winter heute als Kursleiter und Erwachsenenbildner im Gesundheitswesen.
Er lebt mit seiner Familie im Kanton Luzern.
Rezension André David Winter «Die Leben des Gaston Chevalier»
Beitragsbild © Ayșe Yavaș