Das Internationale Lyrikfestival Basel feierte die 20. Jubiläumsausgabe nicht mit Pauken und Trompeten, dafür mit sprachlichen Leckerbissen, die beweisen, das sich Lyrik längst nicht mehr in die Ecke der schöngeistigen Verzückung drängen lässt.
Schonungslos ehrlich und politisch, experimentierfreudig, direkt und eigensinnig, wild musikalisch, analytisch und leidenschaftlich – wie vielfältig, kräftig und authentisch Lyrik sein kann, das bewies das diesjährige Lyrikfestival Basel eindrücklich und äusserst professionell. Sich für eine Kunstform derart ins Zeug zu legen, vor der sich andere VeranstalterInnen aus Angst vor möglichem Desinteresse mit Bedauern aus der Affäre ziehen, gebührt Hochachtung und inniger Dank. Aber weil das Organisationskomitee aus der „Basler Lyrikgruppe“ besteht, einem lebendigen Haufen Dichterinnen und Dichtern, wird das jährlich stattfindende Festival nicht einfach eine Bühne, sondern lebendige Auseinandersetzung mit den verschiedensten Ausdrucksformen von Lyrik. Alisha Stöcklin, Ariane von Graffenried, Simone Lappert, Claudia Gabler, Wolfram Malte Fues und Rudolf Bussmann zusammen mit all jenen, die sich in der Vergangenheit um das Festival bemühten, feierten mit den Stimmen aller PreisträgerInnen des Basler Lyrikpreises die Sprache und zwei Jahrzehnte Abenteuer.

Aus dem diesjährig Dargebotenen Höhepunkte herauszuheben ist schwierig und in meinem Fall höchst subjektiv. Da waren die leidenschaftlichen, zuweilen heiteren Texte von Dinçer Güçyeter, die eindringliche Performance von Rike Scheffler, der Tripp ins Dunkle mit Martin Piekar, die Entdeckung einer neuen Stimme, jener der diesjährigen Preisträgerin Carla Creda, das musikalische Aufstöbern von Störefrieden mit Airane von Graffenried und Robert Aeberhard, die tiefsinnige Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe von Steinunn Sigurðardóttir, Marion Poschmann und Daniel Falb und die witzige Begegnung der Performerinnen Nora Gommringer und Augusta Laar.

Verändert sich auch das Klima in den Künsten, in der Literatur, in den Gedichten? Wie anders, ist doch die Dichtung immer mehr der Seismograph dessen, was Menschen umtreibt. Für die isländische Dichterin und Schriftstellerin Steinunn Sigurðardóttir sind die klimatischen Veränderungen nicht bloss sichtbar, sie werden zur ganz direkten Bedrohung.
Geröllberg
Der gletscher, ewig
aber doch aus vergänglichem stoff, kam ans licht.
Aus wasser und lebenden farben.
***
Der Zerbrechliche zerspringt
in tausend teile
wird zu dem wasser aus dem er gekommen.
Das war nicht unumgänglich. Doch wir
gleichgültigen ehrlosen heizten an,
liessen taten … auf taten folgen …
***
Vatnajökull vom wasser genommen.
(aus «Nachtdämmern» von Steinunn Sigurdardóttir, Dörlemann, 2022, aus dem Isländischen von Kristof Magnusson)

Der Vatnajökull, der grösste Gletscher Islands und ausserhalb des Polargebiets der grösste Gletscher Europas, schmilzt. Damit wandelt sich Island, das zu 10 % von Gletschern bedeckt ist, nicht bloss zu einer Geröllinsel. Die riesigen Gletscher Islands besänftigen noch die «bösen» Vulkane, die unter der malerischen Oberfläche schlummern. Steinunn Sigurðardóttirs Dichtung im Band «Nachtdämmern» richtet sich ganz direkt gegen Ignoranz und Verdrängung. Dichtung reagiert, ganz im Gegenteil zu einem Grossteil der Gesellschaft, die munter weiteragiert, als wäre die Zukunft so einfach die Fortsetzung der Vergangenheit. Wissenschaft und Kultur sind sich in einem breiten Spektrum aktiv und sehr intensiv dessen bewusst, was die menschlichen Eingriffe an globalen Veränderungen mit sich bringen. Kein Wunder, dass jene Kunst, die um Worte, Sätze, Formulierungen ringt, nach Klärung und vielleicht sogar Erklärung Niederschlag findet, was an Ängsten und Befürchtungen aus der Suppe unleugbarer Fakten steigt.

Warum fällt es uns so schwer, in grossen Zusammenhängen und Räumen zu denken, geschweige denn zu leben? Horizonte gehen auf, das Raumschiff Erde ist ein in sich geschlossenes Ökosystem. In der Literatur, in der wie in keiner anderen Kunstform das eigene Ich verlassen werden kann, verschieben sich Perspektiven. Das zeigt auch Marion Poschmann in ihrer Dichtung. Sie fordert eine «Romantisierung». Keine Verklärung, Beschönigung oder Idylle, sondern eine revolutionäre Bewegung als Gegenkraft zur rationalen Vernunft, eine Besinnung auf das «Einzigartige», als letzter Akt gegen all das Zerstörerische.
Schon der Begriff «Klimawandel» beschönigt die rollende Katastrophe. So wie unsere Gesellschaft noch immer nach Worten ringt, um den Dingen Kontur zu geben, tut es die Kunst. Dichtung ist gefundene Sprache.
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Fotos © Samuel Bramley


Alisha Stöcklin (1990) gründete 2012 den Verein Poesietag, rief den Tag der Poesie, der in den Jahren 1979–1988 von Matthyas Jenny durchgeführt wurde, wieder ins Leben und führt die Veranstaltung bislang jährlich jeweils am zweiten Samstag im September durch. 2014 hat sie das Basler Poesietelefon nach rund 30 Jahren reaktiviert und spricht seitdem regelmässig Gedichte auf Band. 2016 pflanzte sie im Kannenfeldpark einen neuen Baum der Poesie. Seit 2016 ist sie Mitglied der Fachgruppe der GGG Förderstelle für junge Kulturprojekte und betreut dort die Sparte Literatur. 2018 wurde sie in die Lyrikgruppe aufgenommen, die das Internationale Lyrikfestival Basel organisiert, welches jeweils im Januar im Literaturhaus stattfindet und in dessen Rahmen auch der Basler Lyrikpreis verliehen wird
Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und lebt in Basel. 2014 erschien ihr Debütroman «Wurfschatten» im Metrolit Verlag Berlin. Simone Lapperts Arbeit wurde mehrfach gefördert und ausgezeichnet. «Wurfschatten» stand auf der Shortlist des ZDF-aspekte-Preises für das beste deutschsprachige Debüt sowie auf der Shortlist des Rauriser Literaturpreises. Derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Buch, der im kommenden Herbst bei Diogenes erscheinen soll.
Katharina Schultens (1980) studierte Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Literatur in Hildesheim, St. Louis und Bologna. 2013 erhielt sie den Leonce-und-Lena-Preis und 2015 den Schweizer Spycher: Literaturpreis Leuk. Neben Veröffentlichungen von Lyrik und poetologischen Texten in Zeitschriften und Anthologien erschienen von ihr vier Lyrikbände: «Aufbrüche» (2004) «gierstabil» (2011), «gorgos portfolio» (2014) und zuletzt «untoter schwan» (2017).