Anna Weidenholzer «Hier treibt mein Kartoffelherz», Matthes & Seitz

Anna Weidenholzer repräsentiert genau das, was an der österreichischen Literaturszene bestechend ist; Vielfalt, Experimentierfreude und sprachliches Feingefühl. So poetisch die Titel ihrer Bücher sind, so tiefsinnig und tiefgründig sind ihre Geschichten in ihrem neuen Erzählband „Hier treibt mein Kartoffelherz“. Ein literarischer Leckerbissen.

2010 debütierte Anna Weidenholzer mit ihrem Erzählband „Der Platz des Hundes“, der von der Kritik einhellig gelobt wurde. Damals ein Versprechen für die Zukunft. Heute ist Anna Weidenholzer ein Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur. Nach ihrem Erzählband erschienen drei Romane: „Der Winter tut den Fischen gut“, „Weshalb die Herren Seesterne trugen“ und „Finde einem Schwan ein Boot“. Schon allein die Titel ihrer Bücher öffnen Türen, beschreiben programmatisch, was der Autorin wichtig ist. Anna Weidenholzer erzählt nicht einfach ein Stück Erlebtes, keine blossen Anektoten, schon gar nicht plottorientiert. Alles, was Anna Weidenholzer schreibt, sind menschliche Verschiebungen, Verwerfungen, die sich im Unscheinbaren manifestieren. Menschliche Verunsicherungen, die sich während des Lesens unweigerlich auf mich als Leser übertragen, eine Verunsicherung, die die Autorin mit ihrem sprachlichen Feingefühl auslöst, eine Mischung aus Verwunderung und Heiterkeit. Genau das, was literarische Feinkost bewirken soll.

25 Erzählungen, die einen eine halbe Seite lang, die anderen seitenlang, verteilt über die vier Jahreszeiten. Erzählungen, die alle für sich selbst stehen und doch miteinander verbunden sind, seien es Motive, Orte, aber auch in den letzten und jeweils ersten Sätzen, bei denen Anna Weidenholzer erzählerisch den Stab von einem Text zum andern weitergibt.

Anna Weidenholzer «Hier treibt mein Kartoffelherz», Matthes & Seitz, 2025, 155 Seiten, CHF ca. 25.90, ISBN 978-3-7518-1023-4

Anna Weidenholzers Erzählen ist unspektakulär. Aber es scheint, als hätte die Autorin ein Sensorium mehr als die meisten Menschen, als würde sie in Bereichen sehen, hören und fühlen, die den meisten anderen Menschen verschlossen bleiben. Wie eine Fledermaus, die in Frenquenzen hört, die uns verborgen bleiben. Anna Weidenholzer verrät, sie habe sich gar einen eigenen „Fledermausdetektor“ zuglegt, um in der Dämmerung den uns verborgenen Stimmen zu lauschen. Genau so schreibt die Autorin. Sie schreibt von dem, was knapp unter der offensichtlichen Wahrnehmung geschieht.

Zweimal habe ich der Autorin am Internationalen Literaturfestival zugehört, zweimal mit gebannter Verzückung, grossartig unterhalten und bas erstaunt über den feinen Witz und hintergründigen Humor, mit dem die Autorin nicht in erster Linie bestechen will, sondern meine für fest und stabil gehaltenen Untergründe in sanfte Schieflage bringt. Ein Blick auf Menschen und Dinge, der weit über Oberflächlichkeiten hinausgeht. Als ich mit einem Freund am Festival in einem Gasthaus zu Abend ass und auf die Perlen der Literatur anstiess, sass da Anna Weidenholzer nicht weit von uns an einem grossen Tisch, umgeben von anderen Akteur*innen des Festivals. Da ist nichts Divenhaftes, nichts Überzogenes. Es ist, als wäre Anna Weidenholzer genau das, was sie schreibt. Da schaut und hört jemand, der in Sphären wahrnimmt, die den meisten anderen verschlossen bleiben.

Und die Sprache. Das scheinbar Banale offenbart unsägliche Tiefe. Das spiegelt sich auch in der Sprache, in der Intensität ihres Erzählens, in dem, was die Texte bei sorgfältigem Lesen auslösen. Zugegeben, „Hier treibt mein Kartoffelherz“  ist weder Schnellfutter noch leicht verdaulich. Aber wer sich einlässt, wird mitten ins Herz getroffen.

© Literaturfestival Leukerbad

Anna Weidenholzer, 1984 in Linz geboren, lebt in Wien. Mit ihrem ersten Buch, «Der Platz des Hundes» (2010), war sie 2011 für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. Ihr zweiter Roman «Der Winter tut den Fischen gut» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2013 wurde sie mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis ausgezeichnet. Ihr Roman «Weshalb die Herren Seesterne tragen wurde» 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 erhielt sie den Outstanding Artist Award für Literatur der Republik Österreich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Erika Mayer

29. Internationales Literaturfestival Leukerbad – ein ganz persönlicher Rückblick

Zurück im Alltag, in der Erinnerung mehr als zwei Dutzend besuchte Lesungen, sind es Glücksmomente, wunderbare Begegnungen, Verzückungen – mit einem schalen, leicht morbiden Nachgeschmack, die mich auf die 29. Ausgabe des Festivals zurückblicken lassen.

An den eingeladenen Autorinnen und Autoren kann es nicht liegen. Auch nicht am Wetter oder fehlender Kulisse, schon gar nicht am Interesse derer, die sich für die Literatur auf nach Leukerbad machen. Vielleicht ist es der Ort. Vielleicht die örtlichen Offiziellen, vielleicht der sterbende Sommertourismus. Da täuscht auch der eine oder andere neue Strassenbelag oder der neu eröffnete Supermarkt im Busbahnhof nicht darüber hinaus. Während man in den einen Hotels ohne grossen Aufwand einen Film drehen könnte, der in den Siebzigerjahren spielt, spricht man an der Rezeption anderer nur noch Englisch oder Russisch. In der Mittagspause wird auf dem Dorfplatz nirgendwo im Schatten etwas Kühles serviert und das Festivalcafé (wenn es denn eines ist) bei der Festivalbuchhandlung im Alten Bahnhof muss mit einer Plastikplane gegen den trüben Blick in eine ewige Baugrube geschützt werden. Ich sitze an einer Mauer mit zwei Schriftstellerinnen, die wie ich nicht so genau wissen, wohin mit sich selbst, wenn der Festivalbetrieb mal eben Pause macht.

Mariann Bühler

Warum dann jedes Jahr doch? Selbst wenn ich die lang ersehnte Literarische Wanderung am Donnerstag wegen eines „Personenunfalls“ versäumte, der Spannteppich in meinem Hotelzimmer Generationen von Gästen zwischen Bett und Badezimmer trug und mir einmal mehr der Mut fehlte, die Flasche Wein zum Abendessen mit einem Freund nicht leerzutrinken, weil die Aussicht auf nächtliches Schädelbrummen ziemlich gross war?
Wegen der Literatur! Wegen jener AutorInnen, die man nur in Leukerbad trifft, die einem immer wieder über den Weg laufen und sich in Gespräche verwickeln lassen. Weil der Zustand des Dorfes ziemlich genau den Zustand der Welt, der Gesellschaft repräsentiert: bröckelnde Fassade, hier und dort Zeugnisse grosser Geschichten. Wegen der Geschichten in Büchern, jener gebannten Musik, den Partituren des Lebens. Wegen der Poesie, den letzten offenen Türen zum Paradies. Wegen der Menschen, die beim Zuhören den Atem anhalten, wegen den Tränen in den Augen, weil mich Texte aus den Socken hauen.

Birgitt Birnbacher

Wegen Birgitt Birnbacher, die mich mit ihrer Freundlichkeit, ihrer Menschenliebe überwältigt. Wegen Anna Weidenholzer, die mit ihrer feinsinnigen Beobachtungsgabe Grund zur Hoffnung gibt. Wegen Rolf Hermann, der mit seinem Witz die Bauchmuskeln strapaziert. Wegen Christian Kracht, der mit weicher, klarer Sprache überrascht, Jürg Halter, der mit Lyrik rockt, Patrick Holzapfel mit Poesie wie Meditationen zum Müssigsitzen, Victoria Kielland mit einem Seelenbrand, Katja Lange-Müller mit geschriebener Berliner Schnauze… Die Liste liesse sich noch lange weiterführen.

Rolf Hermann mit Moderatorin Monika Schärer

Wie jedes Jahr waren die Gesprächsreihen «Perspektiven» äusserst spannend und aufschlussreich; «Verständigt und verstanden», ein Gespräch mit den Schriftstellern Volker Braun und Christoph Geiser und dem Verleger Christian Ruzicska, «Gegenwarts­literatur: Kitsch mit Kultur­anstrich?» mit Literaturwissenschaftler Moritz Baßler im Gespräch mit Lukas Bärfuss und Stefan Zweifel oder «Auf der Suche nach einem besseren «Woke»» mit Kulturjournalist Jens Balzer und dem neuen Co-Leiter des Festivals Stephan Bader. Wünschenswert wäre es, wenn man in der Auseinandersetzung mit solchen Themen auch die Besucher*innen mit einbeziehen würde, wenn man nicht zum stummen Zuhören verdammt wäre. Durchaus ein Feld mit Entwicklungspotenzial!

Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine geboren, seit dem russischen Angriffskrieg lebt in Wien. Sie war Überraschungsgast am Samstag Abend.

Es sind die Schreibenden, die locken. Ganz sicher nicht die Gastfreundschaft einer Tourismusdestination, die den Zenit vor Jahrzehnten überschritten hat. Da ist auch die Verleihung des Kultur- und Wirtschaftspreises des Kantons Wallis durch Staatsrat Christophe Darbellay wohl erfreulich und für das Festival mehr als verdient, aber trotzdem eher Versöhnungsversuch, weil die Absicht, der grossen Literatur ebenso grosse Bühne bieten zu können, etwas fadenscheinig wirkt.

Ab 2026 wird sich Hans Ruprecht, der das Festival fast zwei Jahrzehnte prägend gestaltete, aus der Leitung zurückziehen und der langjährigen Co-Leiterin Anna Kulp, verstärkt durch Stephan Bader, ehemaliger Redaktions­leiter beim «Literarischen Monat», das Szepter übergeben. Möge es der neu formierten Leitung gelingen, dem Festival ein neues Herz, ein echtes Festivalzentrum, einen Ort der Begegnung zu schenken, bevor sich der gute Geist des Festivals verabschiedet.

Ich reiste erfüllt und beseelt zurück, dankbar und reich beschenkt von einem Felsenkessel, in dem es brodelte.

Ich freue mich auf das 30. Internationale Literaturfestival Leukerbad 2026!

Beitragsbilder © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghantschi

Victoria Kielland «Meine Männer», Klett-Cotta

Brynhild Størset kam 1859 in Norwegen zur Welt und starb 1908 in den Staaten als Belle Gunness. Die Geschichte einer enttäuschten Frau, die sich nach Übersee rettete und doch nie ihre Ruhe fand, nicht einmal im Tod.

„Meine Männer“ ist in vielerlei Hinsicht ein aussergewöhnliches Buch. Was sich auf den ersten Seiten wie eine leidenschaftliche Sprachhymne an jene erste grosse Liebe, den Akt der Liebe liest, entpuppt sich mehr und mehr als rauschhaft geschriebenes Innenleben einer Frau, die bis heute als eine der übelsten Serienmörderinnen gilt, der man erst nach ihrem Verschwinden, ihrem angeblichen Tod auf die Spur kam. Als 1908 ihr Haus in Flammen aufging, fand man in den verkohlten Ruinen die Überreste zahlreicher Leichen.

Victoria Kielland, fasziniert von einer unfassbaren Person, nicht nachvollziehbaren Motiven einer Frau, der es zeitlebens nie mehr gelang, aus einer tödlichen Zwangshandlung auszubrechen, erzählt nicht einfach die fiktive Geschichte einer Mörderin. „Meine Männer“ ist eine emotional aufgeladene Schilderung einer Innenwelt, die in einer Weise fesselt und mitreisst, die selbst „geübte“ Leser*innen gleichermassen verunsichert wie begeistert.

Dieser Roman ist weder blutrünstiger Krimi oder Thriller noch überzogenes Kunstobjekt. Victoria Kielland geht es weder um einen Erklärungsversuch einer unerklärlichen Kette nicht nachvollziehbarer Verbrechen noch um ein möglichst faktennahes literarisches Spekulieren. Victoria Kielland schreibt sich in die Seele einer Frau, die nach Liebe sucht, der das Töten zum letzten Akt des Besitzens wurde, die diesen finalen Akt immer und immer wieder brauchte, um sich selbst am Leben zu halten.

Victoria Kielland» Meine Männer», Klett-Cotta, aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-608-50183-4

Man reibt sich während der Lektüre die Augen, schüttelt den Kopf und wundert sich unsäglich, wie schaurig schön es der Schriftstellerin gelingt, einen Seelenzustand zu schildern. „Meine Männer“ ist vollendete Sprachkunst, Sprachmusik der Extraklasse, ohne dabei in Sphärisches, Hyperintellektuelles zu entrücken. Satzkaskaden, die den Rausch jener Frau, den Rausch der Autorin zu einem Rausch des Lesens machen.

Die Liebe reichte nicht für alle.

Als Brynhild Størset mit etwas mehr als zwanzig nach Amerika auswandert, hat sie als Magd einen Gutsbesitzersohn umgebracht, der sie mit grossen Versprechungen ins Bett an seine heisse Haut lockte und mit kalter Zurückweisung den ersten grossen Feuerbrand der enttäuschten Liebe entfachte. Sie kommt nach Chicago zu einer ihrer älteren Schwestern, die dort eine Familie gründete. Brynhild ändert ihren Namen zu Belle (oder Bella), wohl nicht so sehr um eventueller Strafverfolgung zu entgegen, sondern um sich selbst eine zweite Chance zu geben. Sie wird nach der Heirat mit dem Norweger Mads Sørensen zu Bella Sørensen, wird zweifache Mutter und zusammen mit ihrem Mann zur Geschäftsfrau. Aber es stellt sich kein Glück ein, ganz im Gegenteil; eine lange, fatale Kette tödlichen Unglücks. Das Geschäft brennt, die Kinder sterben, Mats stirbt. Mit dem Geld aus der Versicherung zieht Bella weg, nimmt neuen Anlauf, findet Mann um Mann, die alle irgendwann sterben. Bella rutscht in einen Wahn und ich als Leser werde Zeuge einer wahnhaften Verklärung, eines tödlichen Rauschs, der erst in Flammen ein Ende findet.

Was Victoria Kielland gelingt, ist aussergewöhnlich, ausserordentlich. Ich gerate in eine Leserausch, bin betört von Klang, Rhythmus und Beschreibung, die es so nur ganz selten gibt. Ein Buch, das ich nicht gelesen hätte, wäre die Autorin nicht auf der Gästeliste des Internationalen Literaturfestivals in Leukerbad gestanden. Was für ein Geschenk!

Victoria Kielland, geboren 1985 in Norwegen, studierte Theaterwissenschaft. Für die Prosasammlung «I lyngen» wurde sie für den Debütantenpreis von Tarjei Vesaas nominiert, sie erhielt das wichtigste Schriftstellerstipendium des norwegischen Buchhandels. Für «Meine Männer» wurde sie mit mehreren Preisen ausgezeichnet und erhielt hymnische Kritiken.

Elke Ranzinger, geboren 1980 in Passau, studierte Theaterwissenschaft, Nordistik und Neuere Deutsche Literatur in München und Bergen. Sie ist Übersetzerin, Moderatorin und Dramaturgin und übersetzt aus dem Norwegischen und Schwedischen u. a. Merethe Lindstrøm, Helga Flatland und Tore Renberg.

Beitragsbild © Julia Marie Nagelstad