Meine ganz persönlichen Highlights des 25. Internationalen Literaturfestivals Leukerbad

Es schien, als hätte die Leitung der Jubiläumsausgabe des Internationalen Literaturfestivals in Leukerbad sämtliche unbeeinflussbaren Einwirkungen doch irgendwie besänftigen können: Das Festival stand unter einem guten Stern, in allen Belangen.

Wie würde das Festival sein? Ohne die Abende in den wasserentleerten Becken des Thermalbads? Mit Zelten? Was wäre, wenn sintflutartige Regengüsse auf die Zelte trommeln würden? Wenn sich die Wiesen in Festivalmatsch verwandeln? Nichts davon geschah. Es fügte sich alles harmonisch ineinander. Alles passierte so, wie man es sich erhofft hatte und es breitete sich erleichterte Zufriedenheit aus. Nicht zuletzt darum, weil es ein Experiment sein sollte, die beste Gelegenheit, mit Traditionen zu brechen, deren Alternativen sich viel genussfördernder erwiesen.
Als ich am Sonntag mit dem Bus die Kurven aus dem Tal hinunterfuhr, war ich mehr als zufrieden. Beglückt! Verführt und beseelt! Das Festival in Leukerbad hat mich einmal mehr gewonnen. Auch weil man dort besondere Namen trifft, weil man sie wirklich trifft, weil man die Gelegenheit geboten bekommt, ihnen wirklich zu begegnen, nicht nur aus der Ferne. Aber weil dieses Festival Überraschungen birgt, mit denen man nicht rechnet, selbst dann, wenn man wie ich, ihre Lesungen versäumt.

Es gab sie grossen Themen am diesjährigen Festival, grosse Namen und spektakuläre Diskussionen mit langanhaltendem Applaus. Aber es gab auch die leisen Töne, das Spektakel der Sprache, die Bezauberung. «Kapital und Ressentiment», «Nationalismus», «Brücken über den Röstigraben», «Populismus» oder «Gewalt gegen Frauen» hiessen die Themen der Diskussionen – auch wenn ich nicht verstand, dass bei den einen Themen nur Frauen, bei anderen Themen nur Männer auf der Bühne sassen, waren viele Themen doch auch ein Statement dafür, dass die offenen Gräben zwischen den Geschlechtern noch immer klaffen.
Aber es war auch ein Fest der Sprache, sei es in Lyrik oder Prosa.

Schmerzlich für mich war die Feststellung, dass ich einen der literarischen Höhepunkte versäumt hatte. Nachdem ich andere Festivalbesucher:innen immer wieder nach ihrem absoluten Highlight fragte, wurde immer wieder der eine Name genannt: Jakub Małecki! Der 1982 in Polen geborene Schriftsteller ist in seinem Heimatland ein gefeierter Autor, veröffentlichte fast ein Dutzend Romane. «Rost», sein erster auf Deutsch erschienener Roman ist die Geschichte des siebenjährigen Szymek, dessen Eltern bei einem Autounfall sterben, den man zu seiner Grossmutter Tosia bringt, raus in die Provinz, in ein Leben, dass so ganz anders tickt als das alte. Jakub Małecki erzählt aber auch die Geschichte der Grossmutter, die Auswirkungen jener Brüche, die der Krieg hinterliess, was mit den Menschen im kleinen Ort Cholny passierte. Dass «Rost» nun im Buchhandel liegt, sei einem reinen Zufall zu verdanken. Der Verleger sah den auf Polnisch ebenfalls „Rost“ betitelten Roman aufliegen, nahm ihn zur Hand und liess danach nicht mehr los. Jakub Małecki hat mit «Rost» ein im Licht der dörflichen Besonderheit erstrahlendes Lebenspanorama erschaffen, das aus Cholny heraus tief in unsere Welt zu leuchten vermag.
Als ich mir in der Festivalbuchhandlung den Roman von Jakub Małecki kaufen wollte, war dieser schon am zweiten Festivaltag ausverkauft.

Jakub Małecki im Gespräch mit Thorsten Dönges

Ein grosses Versprechen ist auch der neue Roman von Eva Menasse, von dem sie exklusiv zum ersten Mal einige Abschnitte vor Publikum las. Der Roman «Dunkelblum», der im kommenden August erscheinen wird, leuchtet in einen fiktiven Ort, eine Kleinstadt an der österreichisch-ungarischen Grenze. Während man 1989 Zeuge wird einer Massenflucht aus der sich auflösenden DDR, taucht ein rätselhafter Besucher im Städtchen auf, findet man ein Skelett in einer Wiese am Stadtrand und verschwindet eine junge Frau. Alles an dem Ort beginnt sich zu verschieben. Mit einem Mal tritt hervor, was man über Jahrzehnte totzuschweigen versuchte; all die Massaker, die in den Wirren des letzten Krieges geschahen. «Dunkelblum» ist ein schaurig-komisches Epos über die Wunden in der Landschaft und den Seelen der Menschen, die, anders als die Erinnerung, nicht vergehen. Eva Menasses Sprache ist gestochen scharf, ihr Erzählen gekonnt konstruiert und alles durchsetzt mit einer bissigen Prise Humor.

Jan Filipenko mit seinem Roman «Der ehemalige Sohn»

Aber nebst all den tiefschürfenden und aufwühlenden Gesprächen und Diskussionen gab es auch Momente, in denen ich herzhaft lachen konnte. Christoph Simon, der gleich mit mehreren Publikationen nach Leukerbad fuhr und die Zeiten des Ein- und Ausgesperrtseins äusserst produktiv und kreativ zu nutzen wusste, hätte am Freitag um Mitternacht oben auf der Gemmi gelesen. Man musste sich durch die Nacht mit einer Seilbahn hinauf auf den Felssporn tragen lassen und wäre nicht nur mit dem Blick auf die Lichter Leukerbads (die einzigen Stunden des Tages, an denen der Ort selbst strahlt!), sondern mit dem hintergründigen, skurrilen Witz des Schriftstellers und Kabarettisten belohnt worden. Aber nach einem langen Festivaltag wollte ich mich vor der Bergfahrt nur ganz kurz auf meinem Bett im Hotel niederlegen, nur einen Augenblick. Als ich irgendwann in meinen Kleidern aufwachte, pfiffen bereits die Vögel. Glücklicherweise las Christoph Simon aber auch noch am Samstag. Neben literarischen Kostbarkeiten aus verschiedenen Büchern auch aus seinem neuen mit dem sinnigen Titel «und das nach vier milliarden jahren evolution», dem bislang einzigen Buch aus der edition merkwürdig. Wer bewiesen haben will, dass Lyrik alles andere als kopflastig, verschroben oder verunsichernd sein muss, lese in den Gedichten Christoph Simons. Da geht des Herz gleich mehrfach auf! Simons Gedichte sind als lyrische Stories angelegt. Sie haben alle einen Inhalt, der sich sogar nacherzählen lässt. Aber das lyrisch Unsagbare lauert zwischen den Zeilen und in jenen Zeilenabbrüchen, die immer dann auftauchen, wenn man glaubt, etwas linear kapiert zu haben

Das sind nur drei Namen. Nur ein ganz kleines Stück von dem Spektakel, das einem mitten in der felsigen Arena geboten wurde. Mit alle den Veränderung, die die Zeit dem Festival aufzwang, freue ich mich auf das kommende Jahr noch etwas mehr!

Weitere Bücher mit ihren Autorinnen, die in Leukerbad lasen:
Lukas Maisel «Das Buch der geträumten Inseln»
Anna Prizkau «Fast ein neues Leben»
Michelle Steinbeck «Eingesperrte Vögel singen mehr»
Rolf Hermann «Eine Kuh namens Manhattan»
Patrícia Melo «Gestapelte Frauen»

Beitragsbilder © Literaturfestival Leukerbad

Ein literarischer Gang zwischen der Provence und Spanien, direkt neben der wilden Rhone

Wie immer beim Literaturfestival Leukerbad beginnt das vielseitige Programm mit einer «Literarischen Wanderung», einer Veranstaltung, die ihre Anfänge länge vor der erfolgreichen Lancierung von «Literarischen Spaziergängen» hatte. Dieses Jahr ging es durch den Pfynwald, einem einzigartigen Naturschutzgebiet, zusammen mit den Schriftstellern Rolf Hermann und Peter Weber.

Dass Literatur in entsprechender Kulisse eine ganz besondere Wirkung erzielt, ist leicht nachvollziehbar. Aber wenn Literatur dort tönt, wo Geräusche, Geschmäcker, das Pfeifen der Vögel, das Rauschen des Rotten, der Rhone mitschwingt, dann wird Literatur, dann wird Sprache zu einem orchestralen Erlebnis, einer eigentlichen Symphonie.

Unter fachkundiger Führung von Armin Christen, einem Guide und Mitarbeiter des Naturparks Pfyn-Finges, wurden 40  Literatur- und Naturbegeisterte durch ein Naturparadies geführt, dass seinesgleichen sucht. Peter Weber und Rolf Hermann, zwei Schriftsteller, die in ihrem Schaffen mit ganz eigenem Instrumentarium arbeiten, lasen in Pausen aus ihren Werken.

Beide Schriftsteller erlaubten literaturblatt.ch Auszüge aus den vorgetragenen Texten wiederzugeben.

Rolf Hermann

aus «Flüchtige Zuhause» (Rotpunkt):

Klingendes Geröll 

In meiner Studienzeit wohnte ich in Bern, in einem Quartier unweit der Aare, die, aus südöstlicher Richtung vom Thunersee kommend, ein auf einem Geländesporn errichteten Teil der Altstadt in einer engen Schliefe umfliesst. Wenn sich sommers die Gelegenheit bot, und der Fluss mindestens eine Temperatur von 18 Grad hatte, ging ich in ihm schwimmen. Oft allein.

In Badehosen und T-Shirt, das Badetuch unter den Arm geklemmt, zog ich los. Die Holztür meiner Dachwohnung fiel ins Schloss, und ich stieg die vier Stockwerke hinab, spazierte durch den seltsam echolosen Lärm der Berner Strassen, ging einen mit wildem Gestrüpp bewachsenen Abhang hinunter, querte die Talsohle – an einem ehemaligen Gaswerkareal entlang, den Weg über den löchrigen Asphalt suchend, der von ockergelben Pfützen durchzogen war – und erreichte den Fluss.

Ich erinnere mich, wie ich manchmal minutenlang am Rand eines Fahrradwegs auf die blaugrüne, in Ufernähe vermeintlich träge, in der Flussmitte aber rasant dahingleitende Wasseroberfläche blickend mich plötzlich an das Ufer eines anderen Flusses versetzt sah – an den Fluss meiner Kindheit und Jugend: die Rhone. Sie, die nur ein paar Kilometer Luftlinie von der Quelle der Aare entfernt entspringt und zunächst als Rotten durch den deutschsprachigen Teil des Wallis fliesst. In dem Ort, wo der Rotten zum ersten Mal gestaut und ihm ein Teil seines Wassers entnommen und über einen Kanal einem Aluminiumkonzern zur Stromgewinnung zugeführt wird, wuchs ich auf.

Ich muss zehn Jahre alt gewesen sein, als ich auf dem Nachhauseweg mit meinem Vater die Brücke über dem Staubecken passierte und auf einmal, wie aus den Nichts, ein Helikopter vor der Sommersonne stand und mit dumpfen Schlägen die Luft zerteilte. Aus dem Seitenfenster unseres Subaru sah ich, wie der im tiefen Licht glitzernde Flugkörper einen riesigen, an Metallseilen befestigen Kessel ins Wasser senkte, kurz darauf wieder abhob und einen unseren Blicken verborgenen Zielort anflog.

Zuhause angekommen, erkannten Vater und ich den Grund für die Löscharbeiten: Ein paar Kilometer flussaufwärts stand links eine ganze Bergflanke in Flammen. Wir stiegen rasch aus dem Auto und eilten ins Haus, wo Mutter und meine zwei Brüder bereits auf dem Balkon standen und erstaunt und erschrocken zugleich das unheimliche Spektakel beobachteten. Vater, der durch einen Feldstecher auf die fast bis zum Himmel emporragende, gewaltige Woge aus Feuer spähte, begann das Treiben zu kommentieren, liess uns wissen, wie viele Helikopter am Himmel kreisten, wo genau sich die Feuerwehrkräfte der umliegenden Gemeinden aufhielten und in welchem Gebiet sich die Flammen am unerbittlichsten ausbreiteten. Einmal meinte er sogar, er könne die in alle Richtungen davonstiebenden Tiere erkennen: Füchse, Gämsen, Steinböcke,  Hirsche und Rehe. Ein Rehe renne etwa gerade Hals über Kopf hangabwärts, überschlage sich öfters, richte sich aber immer wieder auf und hetze weiter, der Talebene, dem Rotten zu, der ihm, wegen des vom vielen Schmelzwasser bedingten Hochstands, wohl kaum Rettung bieten könne.

Wie lange wir an dem Abend auf dem Balkon standen, weiss ich nicht mehr. Umgehend wurde aber das über mehrere Wochen dahinziehende Beobachten der Löscharbeiten, die im steilen Gelände nur zögerlich zu bewerkstelligen waren, zu einem täglichen Ritual. Während die stets von Neuem auflodernde Glut bis zu zwei Meter tief in den Waldboden hineinkroch, grub sich jene Szene, die Vater durchs Fernglas erblickt hatte, in mich hinein, bis sie des Nachts in meinen Träumen wiederkehrte. Ich stehe am linken Rottenufer und sehe das bellende Reh. Völlig ausser sich galoppiert es am gegenüberliegenden Ufer auf und ab, setzt einen Huf ins Wasser, zieht ihn zurück, fängt erneut zu bellen an. Und hinter ihm brennt es lichterloh. Zwischen uns reisst der Rotten immer ungestümer alles mit, was sich ihm entgegenstellt: Baumstämme, Felsblöcke, Brückenpfeiler. Als die Lage immer aussichtsloser wird, es Feuerfunken zu regnen beginnt und ganze Schilfgürtel in Flammen aufgehen, nimmt das Reh weiten Anlauf, bellt ein letztes, grelles Mal und springt hinaus in die sich türmenden Wogen. Verzweifelt strecke ich beide Arme aus. Doch ein sanddurchsetzter, schlammiger Wall hat das Tier bereits erfasst, zerrt es hinweg und hinab.

Es war das Gekläff eines Hundes, der einem Plastikball nachjagte, das mich jäh aus meinem Tagtraum riss. Einige Sekunden vergingen, bis ich die Aareschwimmer, die in meinem Blickfeld auftauchten und verschwanden, nicht mehr als Schwemmholz oder sonstiges Treibgut wahrnahm. Noch immer leicht entrückt legte ich meine Sachen ab, ging flussaufwärts, wo ich, nur noch in Badehosen, in der Nähe des Tierparks, auf das Geländer einer niedrigen Brücke stieg und mich in die Aare fallen liess.

Ich tauchte ein in das Klirren und Knistern, das Rieseln und Sirren, das Scheppern und Surren und leise Dröhnen, das die von der Fliesskraft des Flusses mittransportierten Steine und Kiesel erzeugten. Mir war, als ob in der Tiefe ein tausendstimmiger, elektrisierender Chor erklänge, der alles, was an Unwägbarem geschah in hellsten Tönen von unmittelbarer Klarheit erlebbar machte.

Seither sind über zwei Jahrzehnte vergangen. Allmählich komme ich mir selber vor wie einer, der klingendes Geröll vor sich herschiebt. Und wenn der Zufall der Beharrlichkeit in die Hand spielt, kommt es auch hier zu Verwerfungen und Aufschichtungen und dazu, dass vielleicht einige Steine aus der Wasseroberfläche ragen und einen imaginären, temporären Fluchtweg bilden, der dem bellenden Reh die Rettung vor dem Inferno ermöglichen könnte.

Peter Weber

aus «Tafelrunde. Schriftsteller kochen für ihre Freunde» (Luchterhand )

1

Im Nachbarort wirkte eine Wunderköchin. Eine schlanke, kleine Frau, altledig, ihre Hände waren immer dampffeucht. Wenn Gäste das Restaurant betraten, grüsste sie aus der Tiefe der Küche, sie konnte ihre heissen Pfannen nicht verlassen. Man hatte länger auf das Essen zu warten, die Gäste nahmen dies in Kauf, sie kochte alles frisch und in der Reihenfolge der Bestellungen. Immer war zu riechen, was sie gerade zubereitete – in Schwellen gingen die Gerüche durchs Lokal und boten über die Tische hinweg Gesprächsstoff. Die Köchin stammte aus dem Kanton Schaffhausen, war just neben jenem Ort aufgewachsen, wo die Schweizer Streuwürze hergestellt wird. Der Geruch von Aromat liegt in jener Gegend in der Luft. Die Köchin aber hatte streuwürzlos kochen gelernt, in einem weltbekannten Fischrestaurant am Rhein, wo die hohe Butterkunst zelebriert worden war – bei Fisch, Kartoffeln und Süssspeisen. Basis für diese Kunst war frische Süssbutter gewesen, fürs Braten zu Bratbutter eingekocht, für bestimmte Gerichte aber wieder mit frischer Butter verfeinert, so hatten sich unzählige Buttermischungen ergeben, jede mit eigenem Namen. Endlich wurde der Salat in einer grossen Schüssel aufgetischt. Die Gäste liebten diesen Salat seiner Sauce wegen – deren Geheimnis war der Essig aus Ostschweizer Landweinen, hiess es, Landweine, die nie besonders süss sein konnten. Essig aus Ostschweizer Landweinen erhielt eine besondere herbe Note, Säureschlucht, adstringierend, den Magen öffnend, hinunterzeigend. Im Keller, hiess es, unterhielt die Köchin in einem grossen Glas eine Essigmutter. –
Den Kopf auf der Höhe der offenen Durchreiche sah ich eines Mittags, was Erwachsene nicht sehen konnten: dass die Wunderköchin nebst Salz auch Aromat auf die Salatblätter streute, nur sehr wenig und fast reflexartig, eine Prise Heimat, gelbe Streue, Kristalle und Flocken, sie lösten sich auf, verschmolzen auf den Blättern zu unsichtbaren Geschmackströpfchen. Über die Säureschluchten ihres Essigs spannte die Köchin aromatbrave Brücken der Normalität. Das Geheimnis ihrer Kochkunst war, dass sie Tiefe und Mitte kombinierte. Bei der Verabschiedung gab sie mir die Hand. Ich hielt es geheim.

2

Aromat enthält Geschmacksverstärker, Speisesalz, Sellerie, Pilzextrakte. Parmesan enthält natürliche Glutamate, ist somit den Geschmacksverstärkern zuzurechnen. Die Streuwürze der Römer, die sie allen Legionären mitgaben und die sie auf geschmacksarme Speisen in der Fremde gaben, war eine Art Sardellenersatz und enthielt natürliche Glutamate. Sind Geschmacksverstärker im Spiel, sagt mein Nachbar, er ist Hirnforscher, isst man mehr und schneller. Gieriger. Es wird weniger gekaut und schneller geschluckt. Geschlungen. Die Bissen sind grösser und die Pausen zwischen den Bissen kleiner. Botenstoffe im synaptischen Spalt am Ende der elektrischen Übertragung: Bei Glutamat handelt es sich neurologisch betrachtet um ein Rauschgift, sagt der Nachbar, um eine suchterzeugende Aminosäurenverbindung, die über die Schleimhäute ins Blut und von dort direkt in unser Hirn gelangt. Glutamat erzeugt künstlichen Appetit. Knorrli, der lachend rote Suppenteufel mit den dicken Waden, der die Kelle schwingend über die Aromatdose rennt, ist Transmissionar. Er wohnt unter Pilzen.

3

Totentrompeten: Meine Mutter fand diese Gewürzpilze in hoher Zahl, sie konnte sie erahnen, erriechen. Mitglieder des Pilzverreins suchten im Ungefähren oder auf der falschen Talseite. Man erkennt die Totentrompeten auf dem Waldboden kaum – kleine, schwarzbraune Körperchen mit Trompetenöffnungen, wo die Hüte wären. Sie strecken zwischen dunklem Laub, den Erdtürmchen, wie sie die Waldwürmer aufwerfen, allzu ähnlich. Ich wurde ausgeschickt, sie aufzusammeln, der Hund begleitete mich, ich agierte auf Schnauzenhöhe. Feuchte Hänge eines Bachtobels, Äste und Wurzeln, an denen man sich festhalten konnte. Bald roch es nach Erdreich, Schlaf und Mohn. Wenn man eine einzige Totentrompete entdeckt hat, finden sich daneben unzählige andere. Sie stehen geschart, in Heeren. Auf dem Rückweg sammelte ich die zuschauenden Milchlinge ein, Publikumsreizker. Wir brachten leuchtorange und grauschwarze Pilze im selben Korb nach Hause – die Reizker bereitete meine Mutter sofort zu, die Hüte in Eigelb und Mehl gewendet und kurz gebraten. Die Totentrompeten jedoch sind frisch gekocht zu faserig, ihr Geschmacksprinzip verdichtet sich erst, wenn sie austrocknen, sich zusammenziehen. Wir legten sie auf Dörrsiebe, Pilzgeist breitete sich aus. Die kleinen Stücke kamen in grosse Gläser. Ich öffnete diese immer wieder kurz, um meine Nase in den Wald zu stecken. In einer Wildrahmsuace entfalten die wieder eingeweichten Pilze ihr dunkles Aroma. Totentrompeten und Rahm: Angelicum. Das Lied der guten Welt.

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, studierte Anglistik und Germanistik. Sein Studium verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Rolf Hermann ist Mitglied der Mundart-Combo «Die Gebirgspoeten». Seine Texte wurden ins Arabische, Englische, Französische, Litauische, Polnische, Spanische und Ungarische übersetzt. Heute lebt Rolf Hermann mit seiner Familie in Biel. Er schreibt vor allem Lyrik, Prosa, Hörspiele, Spoken-Word und Theatertexte, oft auch in Mundart.

Der Schriftsteller Peter Weber ist 1968 in Wattwil geboren und dort aufgewachsen, heute lebt er im Toggenburg, in Zürich und zeitweise in Istanbul. Er sucht, wie kaum ein anderer Autor seiner Generation, nach der Musik in der Sprache, nach dem Klang der Wörter und Sätze.
Sein Erstling «Der Wettermacher» wurde 1993 als origineller Wurf gefeiert und trug dem Autor mehrere renommierte Literaturpreise ein. Seither gilt Peter Weber als markant eigenständige Stimme in der Schweizer Literatur. Seine Romane ragen durch ihre musikalische und originelle Sprache aus dem Einerlei der Gegenwartsliteratur heraus, wie die FAZ festhält.

Beitragsbilder © literaturblattt.ch

25. Internationales Literaturfestival Leukerbad, 25. – 27. 6. 2021, Jubiläumsausgabe am Fusse der Gemmi

So viele Mitwirkende wie nie zuvor kommen am letzten Juniwochenende nach Leukerbad zur 25. Ausgabe des Internationalen Literaturfestivals.

Erstmals werden die besonderen Leseorte in Leukerbad um zwei Festivalzelte ergänzt, um flexibel auf Wetter und Hygieneauflagen reagieren zu können.
45 Autorinnen und Autoren, Publizistinnen, Philosophen, Wissenschaftlerinnen, Verleger und Übersetzerinnen reisen für das 25. Internationale Literaturfestival nach Leukerbad. Neben der Gesprächsreihe «Perspektiven» und der Literarischen Wanderung rundet eine Auftaktveranstaltung in Zürich die Jubiläumsausgabe ab.

Gesprächsreihe «Perspektiven»

In insgesamt acht Gesprächen geht die Reihe «Perspektiven» vielfältigen Fragen aus Literatur und Gesellschaft nach. Angefangen in der Schweiz: Wie steht es um den Röstigraben im Literaturbetrieb und welchen Stellenwert hat die Literatur der Romandie in der deutschsprachigen Schweiz? Weitere Gespräche widmen sich dem globalen Phänomen des erstarkenden Populismus und Nationalismus sowie dem Zusammenhang von «Kapital und Ressentiment». In hochkarätiger Besetzung wird ausserdem über die strukturellen Hintergründe von physischer und psychischer Gewalt gegen Frauen debattiert. Und schliesslich werden Ansätze untersucht, Lyrik neu zu denken.

Geschichte des Internationalen Literaturfestivals Leukerbad

1996 lud der Leukerbadner Ricco Bilger zusammen mit René Grüninger zum 1. Internationalen Literaturfestival Leukerbad ein. Innerhalb von zehn Ausgaben avancierte das Festival zum Anziehungspunkt für Literaturinteressierte. Die heutige Festivalleitung, Hans Ruprecht (seit 2006) und Anna Kulp (seit 2007), baute das Festival in 15 Jahren zu einem Knotenpunkt der europäischen Literaturszene aus: Die Eintrittszahlen sind von 1200 gezählten Eintritten im Jahr 2006 auf zuletzt 3800 gestiegen. Statt 20 bis 25 Autorinnen und Autoren sind jetzt jedes Jahr 35 bis 40 in Leukerbad zu Gast. Das Festival hat sein Portfolio erweitert und sein Profil als innovatives und internationales Literaturfestival in der Schweiz geschärft.
Mit dem Übersetzungskolloquium, der Literarischen Wanderung, den Schreibwerkstätten, mit Auftaktveranstaltungen im Wallis oder in Zürich und vor allem mit der Gesprächsreihe „Perspektiven“ hat es seine Bekanntheit auch über die Landesgrenzen hinaus erhöht. Das Literaturfestival Leukerbad möchte einen Beitrag dazu leisten, die Welt, in der wir leben, in ihrer heutigen Komplexität auszuhalten und Inseln des Verstehens zu schaffen. Leukerbad, hoch oben in den Walliser Bergen, ist der perfekte Ort, um die Welt für ein paar Tage aus der Ferne zu betrachten und mit gestärktem Geist und ausgeruhtem Körper in den Alltag zurückzukehren.

Webseite des Festivals