Eine junge Frau flieht vor einer grossen Entscheidung. Kann man so einfach aus einem Leben aussteigen? Welchen Preis zahlt man beim Versuch, neu anzufangen. „Norden“ erzählt von einer Sehnsucht, die viele mit sich herumtragen. Nicht zuletzt davon, in ein Auto zu steigen und einfach loszufahren, bis die Strasse endet.
Sarah ist Silberschmiedin, versteht sich als Künstlerin, unabhängig, nicht um Investitionen und Bankkonten an die Kundinnen zu hängen, sondern um die Persönlichkeit ihrer Kundinnen zu unterstreichen. Und weil sich plötzlich eine grosse Schmuckfirma für ihre Unikate interessiert und ihr den grossen Durchbruch verspricht, zieht es Sarah weg von ihrer Stadt, weg von ihrer Werkstatt, um eine Entscheidung zu treffen. Sarah will Zeit, will wissen, wohin sie sich tragen lassen soll. Sie packt ihre Sachen, den Brief von der Schmuckfirma und fährt mit ihrem olivgrünen 1969er Dodge Challenger weg von allen glatt asphaltierten Strassen an den Rand der Zivilisation. Nach Forty Mile, ganz im Norden, an der Grenze zu Alaska.
Forty Mile ist ein altes Goldgräberstädtchen, das seine besten Zeiten schon längst hinter sich brachte. Ein klein gewordenes Nest, ein paar Häuser, ein Gasthaus, eine Tankstelle und ein Laden, in dem sich die Einheimischen mit dem Nötigsten eindecken können. Ein Ort am Zusammenfluss von Forteile River und dem Yukon, der im Frühling für Monate unpassierbar wird, weil riesige Eisschollen auf dem Strom den Ort zur Sackgasse machen. Sarah findet ein Zimmer bei Mary, die dort mit viel Esprit den Ladern führt und für die Menschen weit mehr ist als bloss die Frau, die den Laden führt.
Sarah ist auch in einer Sackgasse, sucht nach einer Spur, die sie aus ihrem Stillstand herausführt, denn es ist nicht nur der Brief von der Schmuckfirma, der nach einer Entscheidung ruft.
Sarah lernt die Menschen in Forty Mile kennen. Und die Menschen in Forty Mile sind neugierig auf die junge Frau, die auch noch nach Wochen bleibt und mehr und mehr die Herzen jener gewinnt, die an dem Ort am Rand hängengeblieben sind. Zum einen ist da Mary, in deren Zimmer im Obergeschoss des Ladens ein verhülltes Bild verrät, dass in der Vergangenheit der Ladenbesitzerin ein altes Leben endete. Oder Adam, ein junger Musiker, ein Geiger, der Sarah mehr als nur die Gegend zeigt, den Sarah mehr und mehr in ihre Nähe lässt, um festzustellen, dass neben ihr und der Musik aber noch eine dritte Kraft Adam an sich bindet; der Alkohol. Oder Walker, ein Mann, der in den Wäldern lebt, Fallen stellt und für die Menschen dort so etwas wie die Verkörperung eines Ideals ist; ein Trapper, ein Stück real gebliebener Romantik.
Sie alle haben etwas zurückgelassen. Mary, die Ladenbesitzerin, hiess einst Marion Goodwin und war vor ihrer Flucht nach Forty Mile eine gefeierte Malerin, bis sie im Kreuzfeuer von Kommerz und Kunst den Rückzug suchte und ein Leben hinter sich liess. Sarah macht sich auf die Suche nach Spuren ihrer Vermieterin, eigentlich auch auf die Suche nach sich selbst, denn sie spürt unweigerlich, dass das Schicksal dieser Marion Goodwin auch ihr eigenes werden könnte. Und als Adam einmal mehr seinen Halt verliert und im Alkohol zu ertrinken droht, als er sich auf die andere Seite des Flusses rettet, überstürzen sich die Ereignisse.
„Norden“ ist ein Roman über Selbstfindung. Wo liegt die Bestimmung eines Lebens? Gibt es den unwiederbringlichen Moment, der eine Entscheidung fordert, die nicht zu korrigieren ist? Kann man einem Menschen, selbst wenn man ihn liebt, helfen das zu tun, was nach Bestimmung aussieht?
Die junge Holländerin Sien Volders hat einen unverkrampften Roman geschrieben. Man riecht das Harz der Wälder, man hört den Rhythmus der Musik, die in der Kneipe im Ort bis in die Nacht den Takt angibt und spürt den kalten Wind, der über den Yukon zieht. Sien Volders romantisiert nicht, obwohl ich meiner eigenen Versuchung, jenes Stück Wildnis zwischen Nordkanada und Alaska nicht automatisch zu verklären, immer wieder entsagen muss. „Norden“ riecht nach Sehnsucht und dem Wissen, dass jeder mit seinen Entscheidungen letztlich allein bleibt.
Auch wenn der Roman wahrscheinlich in zu vielen Geschichten ein Ende sucht, hat die Lektüre Freude gemacht!
Interview
Eine junge Frau verlässt für eine Entscheidung ihre Welt in der Stadt Vancouver und fährt in die ehemalige Goldgräberstadt Forty Mile an der Grenze zu Alaska. Von der totalen Zivilisation an den Rand der Zivilisation. Die Stadt verlässt sie nicht wirklich, so wie sie nie wirklich in Forty Mile ankommt. Sind Sehnsuchtsorte nicht verdammt, Enttäuschungsorte zu werden?
Für mich ist der Norden in diesem Buch das, was einst der Wilde Westen war: ein Ort, an dem der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen ist. Zunächst geht es ums Überleben, Mensch gegen Natur, um dann zu einer Symbiose überzugehen, in der Mensch und Natur leben können und aus der langsam eine neue Gesellschaft erwachsen kann. Es ist kein Zufall, dass Forty Mile am Rande der wirklichen Wildnis liegt: der am weitesten entfernte Ort, an dem man noch zusammenleben kann, und wo manche sehnsüchtig in den höheren Norden blicken, wo das wirkliche wilde Leben ist.
Ob ein Sehnsuchtsort zur Enttäuschung wird, hängt sehr stark von der Erwartung ab, ob sie realistisch ist oder nicht: Sarah geht unerwartet dorthin, weil sie Luft und Raum will, um nachdenken zu können, und sie findet es dort. Mary ist vor langer Zeit dorthin geflohen, um eine zerstörerische Spirale zu durchbrechen und hat schliesslich ein neues Leben gefunden. Für beide Frauen ist der Ort eher ein Ort der Kontemplation als ein Ort des Heils. Für Adam ist es tatsächlich ein Ort der Enttäuschung, denn er jagt einer Illusion hinterher: dem Norden als Erlösung, als Sinn. Irgendwann wird es so sein, aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hat.
Sarah bleibt zwischen zwei Männern hängen, in einer Art Schwebezustand, noch einem Ort, der Schmerz verursacht. Auch deshalb, weil sie beiden Männern nicht helfen kann. Sarah drängt Hilfe nicht auf und trotzdem finden beide Männer aus Krisen hinaus. Auch Mary, die einst eine gefeierte Malerin war, hat sich in der Abgeschiedenheit von Forty Mile zurückgezogen. Ist Schreiben ein Versuch auch eine Form des „Rückzugs“, Ordnung zu finden?
Wie gesagt, der Norden ist ein Ort, an dem man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Es ist eine Übertreibung der Art und Weise, wie Menschen miteinander in Beziehung treten. Das Heil liegt nicht im anderen, sollte nie im anderen liegen müssen.
Überspitzt gesagt, kann man nur dann wirklich für den anderen da sein, wenn man frei und selbstbewusst, nach Selbstbeobachtung und eventuellem Rückzug, für sich festgestellt hat, was das eigene feste Fundament ist.
Schreiben ist für mich eine sehr analytische Tätigkeit, bei der ich neben dem Erschaffen einer Geschichte immer wieder hinterfragen muss, wie sich Menschen zu sich selbst und zueinander verhalten.
Sarah kommt an einen Ort, an den sich eine ehemalige Künstlerin zurückgezogen hat. Nachdem sie im Kreuzfeuer von Kritik, Anfeindungen und Unverständnis, nach einem kometenhaften Aufstieg und dem Versuch sie zu instrumentalisieren, wegtauchte, ist sie in Forty Miles so etwas wie die Mutter aller. Auch Sarah droht im Konflikt zwischen Kommerz und Kunst zu zerbrechen. Gibt es eine Grenze zwischen Kunst und Kommerz?
Sarah merkt, wie die berufliche Seite ihres Lebens (ihr Talent und ihre Kunst) sie dazu zu bringen scheint, einen Weg einzuschlagen, den sie nicht unbedingt für sich selbst gewählt hat, und das in einem Tempo, das sie selbst nicht mehr kontrollieren kann.
Das hat sie mit Mary, der ehemaligen Künstlerin, gemeinsam. Beide Frauen gehen nach Norden, um darüber nachzudenken. Es gibt eine klare Grenze zwischen Kunst und Kommerz, aber das muss kein Problem sein. In Sarahs Silberschmiedekunst können Kunst und Kommerz problemlos koexistieren, vorausgesetzt, Sarah selbst ist damit im Reinen. Jede Figur im Buch sucht auf ihre eigene Art und Weise nach Freiheit. Ohne das zu sehr vorschreiben zu wollen, scheint es mir, dass es ein guter Weg ist, Frieden in den Entscheidungen, die man im Leben trifft, zu haben.
Noch eine Person, die zu zerbrechen droht, ist Adam, der Musiker, der Geiger, der das Geheimnis einer ganz besonderen Musikrichtung lüften und zu eigen machen will. Bei ihm ist es der Alkohol. Ist Alkohol an den Grenzen der Zivilisation ein ganz besonderes Trostmittel?
Schaut man sich das Leben rund um den Polarkreis an, sei es in Kanada, Skandinavien oder Russland, ist die besondere Beziehung zum Alkohol durchaus spürbar.
So nah am Norden, sind die Sommer kurz, heiss und wild, die Winter lang, dunkel und kalt. Alkohol hilft, das Leben zu feiern, wenn die Dinge gut laufen, und die scharfen Kanten zu mildern, wenn es nötig ist. Obwohl der Umgang damit sehr unterschiedlich sein kann (in Skandinavien ist er eher streng), scheint das Verlangen nach dem Rausch ein wenig grösser zu sein als anderswo.
Die Art und Weise, wie Adam sich darin zu verlieren droht, während er einer Illusion hinterherjagt, ist in diesen Gefilden sicherlich sehr gut zu erkennen.
Was faszinierte sie an diesem Ort? An Forty Mile?
Forty Mile ist inspiriert von Dawson City, einer Stadt im hohen Norden Kanadas, in der ich einmal zufällig gelandet bin, weil ein lieber kanadischer Freund von mir plötzlich dorthin zog. Ich bin schon mein ganzes Leben lang ein Fan von Jack Londons Büchern, und als ich dort war, wurde mir klar, dass es dieser Ort ist, dass dies der aktuelle Wilde Westen ist. Ich selbst gehöre eher zu der Sorte von Sarah, die es als Ort der Kontemplation sieht. Ich sehne mich danach, und ich bin so begierig, dorthin zu kommen, weil ich weiss, dass ich immer wieder gehen werde.
Welche Lektüre bewegte Sie in den vergangenen Monaten?
Ich bin eine ausdauernde Wiederleserin und das Buch, das ich in diesen Tagen am häufigsten lese, ist «Sula» von Toni Morisson. Eine sehr kluge, schön geschriebene Novelle, in der die beschriebenen Frauen als Kriegerinnen, als Freundinnen, als Mütter und Töchter, aber vor allem als Geschichtenerzählerinnen vorgestellt werden.
Im Moment geniesse ich Marek Sindelkas Debüt «Chyba» (Klimakummer, auf Niederländisch) sehr.
Sien Volders, geboren 1983, lebt und arbeitet in Gent. Nach dem Studium der Kunstgeschichte und Anthropologie arbeitete Sien Volders als Innenarchitektin, Journalistin und Lektorin. 2017 erschien ihr hochgelobter Debütroman „Noord“, der 2020 unter dem Titel „Norden“ aus dem Niederländischen übersetzt im Residenz Verlag erscheint.
Bettina Bach, aufgewachsen in Deutschland und Frankreich, lebt in Jena. Studium der Kulturwissenschaften an der Universität Amsterdam. Bettina Bach übersetzt aus dem Niederländischen und Französischen, u.a. Jan Siebelink und Tommy Wieringa. Für die Übersetzung von Arjan Vissers «Der blaue Vogel kehrt zurück» wurde sie 2014 mit dem Else-Otten-Preis ausgezeichnet.