Es hätte nur ganz wenig gebraucht und ich hätte den neuen Erzählband Peter Stamms nicht zur Hand genommen. Aber dann schnappte ich ihn mir doch, begann im Zug zu lesen und wäre schon beim ersten Eintauchen in Peter Stamms literarischen Tauchgang durch die Dunkelheit fast an meinem Ziel vorbeigefahren.
In seiner letzten Erzählung „Schiffbruch“ sitzt ein in den Bankrott geratener Spekulant in seiner Dolder-Suite hoch über Zürich in seinen Bademantel gehüllt. Die Tür zu seiner Suite ist verrammelt, das Abenteuer konnte beginnen. Robinson hatte es zwanzig Jahre durchgehalten.
In allen Erzählungen erkennt man das stamm’sche Erzählmuster all jener Männer und Frauen, die an die Ränder ihrer Existenz geraten. Die einen springen, andere verharren. Eine Polizistin, die sich nach der Trennung von ihrem Lebenspartner in die Berge versetzen lässt, um sich auf der Suche nach ihrer „Verdoppelung“ einer Art Spiegelung in den Bergen beinahe zu verlieren. Oder Adrian, arbeitslos geworden, verliert sich in einer Parallelexistenz. Oder der Ehemann, den seine Frau mit seinen Kindern, ungeduldig und wütend geworden auf dem Weg in den Winterurlaub an einer Raststätte im Nirgendwo stehen lässt.
Peter Stamm erzählt von Kippmomenten, in denen sattes, in fixen Bahnen geschientes Leben aus den Fugen gerät oder zumindest zu entgleisen droht. Und Peter Stamm überrascht, wie plottorientiert er zu schreiben versteht, mich als Leser in Katastrophenfantasien hineinmanövriert, die mir selbst offenbaren, wie empfänglich ich für die schlechten Varianten des Lebens bin. Peter Stamm führt mich ganz nah an jene Momente, an denen sich das Leben öffnet, wenn auch nur in Spiegelungen. Es brechen die Grenzen des eigenen Seins auf, Grenzen werden transparent, Abgründe offenbar.
In der ersten seiner Erzählungen mit dem Titel „Nahtigal“ duckt sich ein junger Mann krank gemeldet während Tagen mit einer Maske in seiner Tasche vor einer Bankfiliale herum. Tun oder nicht. Jetzt oder nie. „Es ging darum, sein Leben in die Hand zu nehmen, um die Freiheit, selbst zu bestimmen, was geschah“. Peter Stamms Erzählungen kreisen immer wieder um diesen einen Moment, von dem wir wissen, dass er überall lauert, dass wir ihn meist nicht wahrhaben wollen, um uns selbst vor möglichen Konsequenzen zu schützen.
Vielleicht spiegeln sich in Peter Stamms neuem Erzählband „Wenn es dunkel wird“ aber auch Veränderungen seines Schreibens selbst. Denn wenn man ihm in diesen Erzählungen eines nicht nachsagen kann, dann ist es Unterkühlung. In seinem Buch werde ich als Leser ganz nah an den heissen Kern des Lebens geführt, dort hin, wo sich die Banalität des Alltags mit der drohenden Katastrophe zu reiben beginnt. Peter Stamms Erzählungen sind nicht einfach Kurzfutter fürs Nachttischchen, sondern tiefe Einblicke mit dem Brennglas eines feinen Beobachters.
Peter Stamm, (geboren 1963) aufgewachsen in Weinfelden im Kanton Thurgau. Nach einer kaufmännischen Lehre einige Semester Studium der Anglistik, Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich. Seit 1990 freier Autor und Journalist. Peter Stamm schrieb Reportagen und Satiren unter anderen für die Neue Zürcher Zeitung, den Nebelspalter und das Magazin des Tages-Anzeigers. Längere Auslandaufenthalte, u.a. in Paris, New York und Berlin. Lebt mit seiner Familie in Winterthur.
Peter Stamm schrieb zahlreiche Hörspiele und Theaterstücke. 1998 erschien sein erster Roman «Agnes». Seither sind vier Erzählsammlungen und fünf weitere Romane erschienen, zuletzt 2016 «Weit über das Land». Werke von Peter Stamm wurden in 37 Sprachen übersetzt. Lesereisen in viele Länder, unter anderem nach China, Mexiko, Russland, in die arabischen Emirate, nach Kolumbien und in den Iran.
Rezension «Marcia aus Vermont» auf literaturblatt.ch
Rezension «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Anita Affentranger