Melinda Nadj Abonji „Schildkrötensoldat“, Suhrkamp

Auf dem Kreuz steht Kertész Zoltán 15.12.1970 – 5.4.1992. Anna besucht ihren Cousin ein letztes Mal. Vier Monate nach seiner Beerdigung. Melinda Nadj Abonji schrieb mit „Schildkrötensoldat“ einen Roman über die Enge einer Welt, die sich auf Krieg einstellt. Über einen Mann mit blauen Augen, aus dem etwas hätte werden können. Ein Buch über den Schmerz nicht helfen zu können.

Ganz am Ende des Romans stellen sich Fragen: Wem gehören wir? Dem Staat? Gott? Den Eltern? Der Luft? Uns selbst? Dem Tod.“ Fragen, die mit dem Romanende stehen bleiben. Fragen, die der Roman bloss stellen, aber nicht beantworten will.

Zoltán ist Annas Cousin. Die beiden wachsen zusammen auf. Es verbindet sie eine Liebe, die nach anderen Berührungen sucht, die körperlich ganz flüchtig bleiben. Anna, die Zoltán immer Hanna genannt hatte, weil das „H“ die feinste Möglichkeit sei, sich hinzusetzen, sich auszuruhen. Zoltán ist anders als alle andern, interessiert sich nicht für Autos, Geld, Muskeln oder Titten. Zoltán kümmert sich viel lieber um seinen Garten und hortet in einem Schuppen neben dem Haus seiner Eltern jene Schätze, die ausser Hanna niemand zu verstehen scheint.

Dabei haben Zoltáns Eltern so grosse Hoffnungen in den Jungen mit seinen blauen Augen, glauben, dass aus ihm etwas ganz besonderes werden könnte, schon allein weil er in der männlich dominierten Gesellschaft des zuammenbrechenden Vielvölkerstaates Jugoslawien ein männlicher Nachkomme ist. Aber Zoli macht seinem Vater keine Ehre. Nicht im Ort, wo er ein Aussenseiter bleibt, nicht in der Schule, wo er die Klappe nicht halten kann, nicht in der Lehre, wo ihn der Bäckermeister blutig schlägt, nicht als Sohn und schon gar nicht als zukünftiger Held, den die Armee aus ihm machen soll.

Zoltán ist „dem Teufel vom Karren gefallen“, dem Vater vom Motorrad und im Dreck liegen geblieben. Dabei war sein Sohn einst sein ganzer Stolz, ein Versprechen für die Zukunft. Ein Versprechen, dass dieser nicht einlöste. Einen Vater bestraft, der seinen Sohn dafür bestraft und ihn im permanenten Konjunktiv leben lässt. Was alles hätte werden können. „Wem gehört diese leere Flasche?“ Beschimpfungen, die beim Lesen schmerzen.

Beide, (H)anna und Zoli (Zoltán)  verstehen einander eine Kindheit und Jugend lang ohne viele Worte, als hätten sie wie Fledermäuse Organe, die Schallwellen ganz anders hören können. Er Zoltán und sie Anna, die Wörter wie farbige Kiesel sammeln.

„Glück ist eine Luke, aus der man an einem warmen Tag den Kopf hinausstreckt, oder nicht?“

Und dann, in dieser Kaserne, die schon während der Zeit des Zweiten Weltkriegs „Adolf Hitler Kaserne“ hiess, soll aus Zoltán ein Soldat werden, ein ganzer Mann. Einer, der schiessen und morden kann, den man auf die Schlacht von Vukovar vorbereitet, wo doch Verwandte und Freunde wohnen. Aber Zoli stirbt langsam, bricht ein unter dem Drill und der Härte seiner Vorgesetzten.

„Ja, es ist wahr, ich habe in den Worten immer einen Unterschlupf gesucht, ein Schlupfloch.“

Melinda Nadj Abonji erzählt mit verschiedenen Stimmen. Wie Anna als Lehrerin von Zürich in die serbische Stadt Zrenjanin reist. Zur Kaserne, in der Zoltán zum Soldaten werden sollte. Aus der man ihn krank, verstört, verwundet und erloschen nach Hause schickte. Sie fährt zurück ins Dorf ihrer Kindheit, begegnet all den Bildern, die mit Zoltán auf dem Friedhof begraben sind. Ein Gefallener, nicht als Held im Krieg, sondern ein aus der Gesellschaft Gefallener, ein Verlorener. Melinda Nadj Abonji erzählt mit derart viel Empathie, mit einer Sprache, die weit übers blosse Erzählen hinausgeht. Gefühle werden sicht- und hörbar. Spürbar viel wird offenbar, was Zoltáns Leben, was die Freundschaft, die Liebe zwischen Anna und Zoltán ausmachte. In einer Sprache, die sich der Interpunktion wie in der Musik bedient. Melinda Nadj Abonjis Sprache ist Musik, gebündelte, akustisch wiedergegebene Wahrnehmung.

© Gaetan Bally

Melinda Nadj Abonji wurde 1968 in Becsej, Serbien, geboren. Anfang der siebziger Jahre übersiedelte sie mit ihrer Familie in der Schweiz. Sie lebt als Schriftstellerin und Musikerin in Zürich. Für ihren Roman „Tauben fliegen auf“ erhielt sie 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis.

Titelfoto: Werner Biegger (Melinda Nadj Abondji mit dem vom Roman völlig verzückten Moderator Thomas Strässle)

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