Katharina Winkler «Siebenmeilenherz», Matthes & Seitz

Statistisch wurden 2023 in Deutschland über 18000 sexuelle Übergriffe an Kindern polizeilich erfasst. Über eine Million Deutsche erlebten im Laufe ihres Kindseins einen sexuellen Übergriff. Wie kaum eine andere Kunstgattung nimmt sich die Literatur dieser heiklen Thematik an – und Katharina Winkler mit unsäglich tiefgreifender Empathie!

Nicht auszudenken, wie hoch die Dunkelziffer sein wird. In der Schweiz erlebt rund jedes siebte Kind mindestens einmal sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt durch Erwachsene oder ältere Kinder. Ungeheuerliche Zahlen, von denen niemand gerne spricht, am wenigsten die Politik, werden doch die meisten Übergriffe von Familienmitgliedern begangen. Monströse Zahlen und ebensolche Vorstellungen, wie all die Kinder und all die Erwachsenen, die solches als Kinder über sich ergehen lassen mussten, mit dem umgehen sollen. Ein Alp, bei dem weder Justiz, Medizin noch Psychologie heilen können, weil die Betroffenen mit dem Erlebten weitgehend alleine bleiben und sich die offenen Wunden über Jahre und Jahrzehnte tief in die Seelen fressen.

«Hast du Papa lieb?
Ja»

Katharina Winkler «Siebenmeilenherz», Matthes & Seitz, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7518-0961-0

Einen Roman darüber schreiben? Schon alleine das Risiko, nach der Veröffentlichung permanent der Neugier der Leserinnen und Leser ausgesetzt zu sein, ob das Erzählte autobiografisch sei, könnte abschrecken. Nicht weniger der potenzielle Vorwurf, doch gar nicht in der Lage zu sein, ohne eigene Erfahrung solches glaubhaft erzählen zu können. Literarischer Treibsand! Aber Katharina Winklers Roman „Siebenmeilenherz“ entzieht sich diesen Risiken, weil seine sprachlichen Qualitäten alle Risiken überstrahlen. Weil er in seiner Form so geschrieben ist, dass er sich so weit wie möglich von Betroffenheitsliteratur unterscheidet. Wer das Buch aufschlägt, glaubt in einem Gedichtband zu lesen, was in gewisser Weise auch stimmt, denn „Siebenmeilenherz“ erzählt lyrisch, manchmal in ganz kurzen Zeilen, manchmal repetitiv, wie ein Lied, ein Aufzählvers, ein Gebet.

«Ich bin vom Erdboden verschluckt.
Niemand sieht mich.
Niemand weiss.
Ich hoffe, ich bleibe für immer verborgen.»

Ganz zu Beginn des Buches ist die Erzählstimme die eines kleinen Mädchens, das ganz und gar nicht versteht, wie ihr geschieht, das verzweifelt nach Liebe und Geborgenheit sucht, sei es bei ihrem Vater, der sie zu seiner Prinzessin erhebt, einen Geheimbund mit ihr schliesst, nachts am Bett jede erdenkliche Grenze überschreitet – und einer Mutter, die in kalter Distanz und Abweisung wohl einfach nicht wissen und sehen will. Im Laufe des Buches wird die Stimme älter, reifer, wissender, aber auch verzweifelter, weil die junge Frau keine Möglichkeit sieht, ihrem Alp zu entfliehen, obwohl da immer wieder einmal eine Hand wäre, die sich ihr anbietet. Aber wer verrät schon seine Nächsten. Woher die Kraft, vom Opfer zur Anklägerin zu werden, sich zu erheben und den Vater zu konfrontieren. Sie ist alleine, erst recht, als da ein Mann ist, eine Liebe, irgendwann gar ein Kind in ihrem offenen Bauch. Wird man irgendwann sehen, was sie erdulden, über sich ergehen lassen musste.

«Widerhaken, die sich im Kopf verfangen
und sich nicht verflüchtigen.»

Die suchende Sprache des Kindes im ersten Teil des Buches, die Unfähigkeit des Benennens, des Nicht-Einordnen-Könnens schmerzt förmlich bei der Lektüre, ebenso die Ausweglosigkeit, die alles einnehmende Einsamkeit der jungen Frau, die scheinbar unrettbar verloren ist im Gefängnis ihrer Erinnerungen, ihres Schmerzes, ihrer Versehrtheit. «Siebenmeilenherz» ist ein buchlanges Selbstgespräch, der verzweifelte Versuch eines Auf- und Ausbruchs.

Ich las „Siebenmeilenherz“ mit angehaltenen Atem, voller Scham, voller Angst, auch in meiner Umgebung Zeichen nicht zu sehen, unangemessen zu reagieren.

Phantastisch ist Katharina Winklers Sprache, die Form, mit der sie auf ganz eigenwillige Weise dem Schrecken nicht bloss begegnet, sondern sich ihm mit einer ungeheuren Direktheit aussetzt. Da hat sich eine Autorin ein Herz genommen, um mit Siebenmeilenstiefeln ins Herz dieses Sturmes, ins windstille Auge der Tornados zu rennen.

Interview

Was dem Mädchen in seiner Familie widerfährt, sei es die Übergiffigkeit ihres Vaters oder die Kälte ihrer Mutter, was sie als Jugendliche, als Liebende, als werdende Mutter, als Verwundete und Gezeichnete ausstehen muss, ist höllisch. Und dieser Schwarm an Fragen, Selbstbezichtigungen, Schuldgefühlen, ein Trommelfeuer, dem sie nicht entfliehen kann. Ich selbst bin auch Vater. Was der Protagonistin geschieht, ist hunderttausendfach erlittenes Schicksal. Warum tut sich die Gesellschaft derart schwer hinzuschauen? Warum spüre ich selbst bei mir diesen Schauer, wenn ich darüber lese, schreibe oder spreche?
Diese Wirksamkeit ist das Wesen des Tabus. 
Sexueller Missbrauch in der Familie ist eines der letzten grossen Tabus. 
Der Tabubruch stösst naturgemäss auf Widerstand und ist schmerzhaft.
Ein Tabu entsteht, um Schmerz und Überforderung von der Gesellschaft abzuspalten. 
Es ist eine gesellschaftliche Übereinkunft, ein stillschweigend praktiziertes Regelwerk, unhinterfragt, strikt, bedingungslos, universell und ubiquitär. Wir sind darauf konditioniert. Ein Tabubruch fällt uns entsprechend schwer. Wir handeln gegen die Regeln des Kollektivs, gegen unsere eigene Konditionierung. Und wenn wir das Tabu brechen, bricht auch der darin gebundene Schmerz auf und die akute Überforderung.
Aber wenn wir das Tabu unangetastet lassen, manifestieren wir es – und damit auch den entsprechenden gesellschaftlichen Status quo. In unserer Gesellschaft bleibt sexueller Missbrauch in der Familie dann unangetastet und unverändert. 

Sie hätten einfach eine Geschichte erzählen können. Aber ganz offensichtlich reichte das nicht. Sie wählten eine ganz spezielle Form. Eine Art innerer Monolog, gespickt mit Textstellen, die an Lieder, Gebete, Märchen… erinnern. Wie kamen Sie zu dieser Form? War die Form schon von Beginn weg klar? Musste sie es sein, um darüber schreiben zu können?
Ich musste diese Geschichte aus der Innenperspektive erzählen. Ich wollte keinen Blick von aussen, jeden voyeuristischen Blick verhindern. Das Buch soll dem Leser ausschliesslich das Erleben aus dem Inneren der Figur ermöglichen. Denn ich wollte eine intensive Empathie des Lesers mit der betroffenen Figur, dafür musste ich den Leser so nah wie möglich an die Figur heranführen.  
Die gedicht-, lied- und märchenhaften Elemente in der Sprache sind der kindlichen Figur im ersten Teil geschuldet, in dem man erlebt, wie ein Kind in das von den Eltern dargebotene Weltbild wächst – ohne Möglichkeit zu hinterfragen oder zu relativieren. 
Dass diese Kindersprachenelemente auch im zweiten Teil präsent sind, in dem die junge Erwachsene geschildert wird, verdeutlicht, wie die kindliche Erfahrung das weitere Leben prägt. 

Auch die Zeichensetzung setzen Sie manchmal ausser Kraft. Warum?
Der Umgang mit der Zeichensetzung ist für mich eine ständige Gratwanderung. 
Meine Sprache ist sehr musikalisch gedacht. Leider ist das System zur Verschriftlichung von Sprache aber nicht so präzise wie die Notenschrift. Die Melodie, die ein Satz in meinem Kopf hat, ist manchmal gegenläufig zu der Melodie, die die grammatikalisch korrekten Interpunktionszeichen dem Leser nahelegen. 
Die Melodie der Sprache prägt die gedankliche Dynamik. Ein Punkt provoziert zum Beispiel den Abschluss einer Melodie und damit den Abschluss eines Gedankens, obwohl ich es oft wichtig finde, Melodie und Gedanke offen ausklingen zu lassen, damit sie weiter wirken und sich weiter entwickeln können. An entscheidenden Stellen verzichte ich deshalb manchmal auf den Punkt. 

Nichts ist so diffizil wie der Kosmos Familie. In keinem Gefüge ist so viel Liebe, Zuwendung, Zärtlichkeit und Nähe wichtig und Teil dieses Kosmos. Ausgerechnet in dieser ultimativen Intimität geschehen Übergriffe, die Wunden verursachen, die nie vernarben. Als ich das Abenteuer „Familie“ startete, war ich 23, meine Frau 21. Aus heutiger Sicht erscheint das beinahe fahrlässig, denn fast alles, was wir taten, geschah aus Intuition. In der Schweiz gibt es Ehevorbereitungskurse. Müsste es nicht viel mehr Familienvorbereitungskurse geben?
Eine optimale Vorbereitung auf das Leben ist eine schöne Idee und unbedingt zu verfolgen! Aber das Leben ist zu gross, zu kräftig, zu unberechenbar, um es in seiner Vielfältigkeit zu erfassen, geschweige denn zu antizipieren. Und Erfahrungen sind schwer vermittelbar. So stolpern wir im Grunde alle mehr oder minder unvorbereitet und oft auch stümperhaft durchs Leben. Als Individuum wie als Gesellschaft. Wir sind alle nicht vorbereitet auf ein Leben im 21. Jhdt.

Beklemmend bei der Lektüre ist die Einsamkeit der Protagonistin. Ich nehme an, dass sie in der Recherche mit vielen Betroffenen gesprochen haben. Wie schafften diese es, aus dem Bannkreis des Schweigens herauszutreten?
Durch die Tabuisierung des Themas spalten wir auch die Betroffenen von der Gesellschaft ab. 
Verschwiegene Geschichten trennen. Erzählte Geschichten verbinden. 
Die Erzählung ist der Weg aus der Isolation. 

Die Liebe zwischen Kindern und Eltern, Eltern und Kindern ist eine ganz eigene. Kinder überhöhen ihre Eltern, Eltern kompensieren durch ihre Kinder. Würde man in ihrem Buch alle unguten Szenen schwärzen, käme erst im zweiten Teil ein kritischer Blick zum Vorschein. Kinder lieben bedingungslos. Und ausgerechnet diese kindliche Bedingungslosigkeit wirkt bis ins Erwachsensein. Die Vertreibung aus dem Paradies?
Im Laufe des Individuationsprozesses muss jeder reflektierte Mensch sicher gehen, nicht nur ein Märchen zu sein, das die eigenen Eltern ihm erzählt haben. Und er muss die Welt auf dasselbe überprüfen. 
In Fällen glücklicher Kindheiten mag dies einer Vertreibung aus dem Paradies gleichkommen. 
Eine Desillusionierung ist es jedenfalls. 
Aber in vielen Fällen ist es wohl auch die Eröffnung neuer, besserer Welten. 

Katharina Winkler, 1979 in Wien geboren, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft. Mit «Blauschmuck» (Suhrkamp) erschien 2016 ihr vielfach ausgezeichneter Debütroman. Das Buch wurde in sechs Sprachen übersetzt und erhielt u. a. den baskischen Buchpreis Premio Euskadi de Plata für den besten deutschsprachigen Roman sowie den französischen Prix du premier roman étranger 2017, den Preis für das beste fremdsprachige Debüt. 

Beitragsbild © Bernhard Schir