Im Takt der Zeit
Katerina Poladjans hochaktueller Roman «Zukunftsmusik» erzählt vom 11. März 1985, einem kalten Tag im fernen Osten Russlands – doch ein neuer Frühling steht kurz bevor.
Gastbeitrag von Sarah-Sophie Engel
Sarah-Sophie Engel studiert Deutsche Philologie und Kulturanthropologie an der Universität Basel. Ihr Interesse an Menschen und gesellschaftlichen Themen führt sie oft zur Literatur.
Die Zukunft ertönt im Viervierteltakt. Chopins Trauermarsch schallt durch das Radio der Kommunalka an jenem Morgen, an dem Matwej schon früh in der Küche sitzt. Diese Küche befindet sich irgendwo tausende Kilometer östlich von Moskau, in Sibirien – mit etwa drei Stunden Zeitunterschied. Die Töne verbreiten eine finale Stimmung, mit der niemand wirklich etwas anzufangen vermag, denn noch weiss keiner, wer ging und was kommt.
Mit dem Tod des Generalsekretärs wird Gorbatschow das Amt ergreifen und den Zerfall der Sowjetunion einläuten – aber noch gilt weiter, jedes Tun der Bürger und Bürgerinnen ist dem grossen Plan gewidmet. In dem steht auch: jeder Bürger der Sowjetunion hat Anspruch auf neun Quadratmeter. Maria teilt sich mit Mutter, Tochter und Enkelin ein Zimmer. Ihr heimlicher Verehrer, Matwej, wohnt gegenüber und gleich nebenan der alte Professor, der später durch die Zimmerdecke flieht. Die Bewohner:innen der Zimmer am Ende des Ganges spielen auf der häuslichen Bühne kaum eine Rolle, abgesehen von ihrem guten Essen auf dem Herd, von dem sich immer mal wieder jemand heimlich ein Schälchen füllt.
Auf dem engen Raum der Wohnung bekommt man voneinander einiges mit – vieles auch nicht. Die eigenen Träume werden bewacht und Erinnerungen in kleine Kästchen verstaut, wo sie niemand findet, ausser man selbst. Poladjan erzählt von der Angst bestimmte Dinge laut auszusprechen, von vergangenen und neu beginnenden Leidenschaften und der Sehnsucht nach Schokolade, einer neuen Gitarre oder einfach nur Freiheit. Sie erinnert an Zeiten, in denen die Politik den Menschen nicht gehört – so wie sonst eigentlich auch nichts – und skizziert angesichts der systemischen Enge den Spielraum des Alltäglichen und den Platz in den eigenen Gedanken.
Maria gesteht Matwej, ein ganzes Lexikon der Angst könnte ich schreiben. Und doch bewahrt sie, trotz ihrer Sorgen, einen sanften Humor und eine Leichtigkeit, die sie träumen lässt von Tango unter Palmen und Ferien in Abchasien. Ihre Mutter ist erstaunt über die Naivität ihrer Tochter und stellt fest: Es gab keine Freiheit, dass das immer noch niemand begriffen hatte. Maria aber kann sie schmecken, die Freiheit. Nach langem Anstehen am Lebensmittelgeschäft, ohne erst zu wissen wofür, ergattert sie Krakauer Würste und auf dem Museumsboden entdeckt sie eine Paillette, ein Überbleibsel einer anderen Welt: Maria legte sich die Paillette auf die Zunge und hatte Gold im Mund. Ob die neue gelbe Bluse, Importware, ihr stehe, will sie wissen – jedenfalls hatte sie so eine noch nie.
Poladjan zeigt, wie unterschiedlich Menschen in ihrem alltäglichen Leben auf ein starres politisches System reagieren, das ihnen nichts schenkt und alles von ihnen verlangt. So ist Matwej stets bemüht, ein «guter Kommunist» zu sein. Und während Maria befürchtet, ihr Leben zu vergeuden und das Glück nie zu finden, schenkt Matwej ihr weiter Cognac ein, mit den Worten: Dass die Menschen immer noch nicht verstanden haben, dass persönliches Glück ohne Allgemeinwohl nicht möglich ist.
Was Poladjans Roman zugrunde liegt, ist die einfühlsame Beschreibung eines historischen Tages auf der Bühne der «kleinen Leute». Sie lässt die Leser:innen die Präsenz einer Politik spüren, die so weit weg scheint und doch eine Enge schafft, in der sich die eigenen Wünsche und Pläne nur schwer entfalten. Zwischen fein skizzierten Figuren finden sich starke Worte. Die zwanzigjährige Tochter, Janka, möchte keinen Mann, sie betet zu Gott noch viele Münder küssen zu dürfen und dafür, dass ihre Lieder gehört werden: Ich erinnere mich an ein Leben, das ich nie gelebt habe und von dem ich hoffe, dass es noch vor mir liegt.
Gegen Ende des Romans lässt Poladjan surreale Nuancen entstehen, die sich ganz ungezwungen einschleichen, was erstmal überrascht, da die Erzählung sonst so solide in der Geschichte verankert zu sein scheint. Allerdings inszeniert Poladjan damit genau diese unsichere Aufbruchsstimmung voller Möglichkeiten, die jener Frühlingstag bei den Bewohner:innen der Kommunalka auslöst.
Poladjan lässt die Leser:innen eintauchen in eine Welt, die zwar vergangen ist, sich aber auf 187 Seiten erneut für sie öffnet. Man ist umgeben von russischer Musik, einer Eiseskälte, liebevoll-witzigen und ernsthaften Dialogen, dem Duft von Schaschlik über dem Feuer. Und zwischen den Zeilen leuchtet die grosse russische Literatur hervor. «Zukunftsmusik» erinnert an die Vielschichtigkeit einer Gesellschaft, die, fernab ihrer Regierung, beim Lesen aufrichtiges Interesse weckt.
(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)
Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt «In einer Nacht, woanders» folgte «Vielleicht Marseille» und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht «Hinter Sibirien». Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für «Hier sind Löwen» erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2021 wurde sie mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet. «Zukunftsmusik» stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022.
Beitragsbild © Andreas Labes