„Hinter mir lag ein schlechtes Ende und vor mir ein Abschied.“ Jörg Magenau, bekannt geworden mit seiner literarischen Reportage „Princeton 66“, über die Gruppe 47, ein „Gipfeltreffen der deutschsprachigen Literatur an der Ostküste der USA“, schrieb mit „Die kanadische Nacht“ einen eindringlichen Roman über das Woher und Wohin, über den stillen Raum zwischen Vergangenheit und anbrechender Zukunft.
Ein Mann fährt alleine durch die kanadische Prärie. Sein Vater, mit dem er über Jahrzehnte nur noch via Mail sporadisch Kontakt hatte, liegt krank im Sterben. Den Mann erreichte in Deutschland ein Anruf: „Kannst du kommen? Du kannst mich doch hier nicht so liegen lassen.“ Also fliegt und fährt er hin. An einen Ort, den er nicht kennt, zu einem Vater, den er verloren glaubte, im Ungewissen darüber, ob er es rechtzeitig schaffen würde. Vor sich die Ungewissheit, hinter sich lauter lose Enden, die sich in keine Ordnung fügen.
„Denn was heisst Schreiben anderes, als die Dinge schöner zu machen, als sie sind?“
Vater- und Mutterbücher sind ein unendlich scheinendes Reservoir an Geschichten und Auseinandersetzung. Kaum eine Kunstgattung scheint sich derart ausgiebig an dieser Thematik abzuarbeiten wie die Literatur. Die ersten Jahre eines Lebens prägen ganze Biographien, lassen episch schleifen, kämpfen, hadern und wegstossen. Und doch bleibt der Vater, die Mutter. Sie brennen sich ein, lagern sich in den Sedimenten der eigenen Geschichte ab. Und wer selbst solcher oder solche wird, weiss sehr schnell, wie unsäglich gross das Minenfeld an möglichen Fehlern, Fehltritten, Fehlentscheidungen und misslichen Reaktionen ist.
„Wir schreiben es hin, doch nichts von dem, was wir erlebten, geht im Geschrieben auf.“
Jörg Magenau erzählt von einem in die Jahre gekommenen Sohn, der sich ans Sterbebett seines Vaters auf der anderen Seite des Ozeans aufmacht. Es ist eine lange Reise. Mit Sicherheit in Sachen geografischer Distanz. Aber nachdem der Vater vor Jahrzehnten Deutschland verliess und in Kanada eine neue Existenz begann, nachdem er sich neu verheiratete und alle Bande zu seiner alten Heimat kappte, wäre er wohl auch gestorben, ohne dass sein Sohn vom Sterben erfahren hätte. Aber da war dieser Anruf: „Kannst du kommen? Du kannst mich doch hier nicht so liegen lassen.“
Ein Anruf, der die Entscheidung leicht machte, in ein Flugzeug zu steigen und den Weg ins Ungewisse auf sich zu nehmen. Ein Anruf, der eigentlich im richtigen Augenblick kam, denn als Schriftsteller musste er sich aus den Schlingen eines missratenen Buchprojektes lösen, aus der Nähe zu einer Geschichte, die er Jahre mit sich herumgetragen hatte. Und seine zweite Frau, die einen Sohn mit in die Ehe brachte, zwang ihn immer mehr, sich mit seiner unfreiwilligen Rolle als „Vater“ auseinanderzusetzen. So wurde der Ruf zu dieser Reise ins Ungewisse zu einem Schlüssel, einem Schlüssel in die Vergangenheit und einem Schlüssel in die Zukunft.
„Eine Idee ist wie ein Papierdrache an einer dünnen Schnur hoch über den Wolken.“
Während der Mann durch die Weiten Kanadas fährt, tauchen Bilder aus der Vergangenheit auf, Bilder seines Vaters, der damals gemeinsamen Geschichte. Sie verweben sich mit den Auseinandersetzungen rund um sein letztes Buchprojekt, in dem eine Malerin ihn bat, eine Biographie über ihren verstorbenen Gatten, einen Dichter zu schreiben. Es hätte ein Buch über ein Künstlerpaar werden sollen, ein Buch, das von der Leidenschaft einer Künstlerliebe hätte erzählen sollen, ein Buchprojekt, in dem die greise Malerin zur eigentlichen Ghostwritern wurde, weil sie sich immer intensiver und bestimmender in das Schreiben einmischte. Bis zu dem Moment, als sie sich nach Jahren der beiderseitig intensiven Auseinandersetzung endgültig aus dem Projekt zurückziehen wollte, dem Schriftsteller die Veröffentlichung untersagte.
„Der Tod ist das Gebirge des Seins, der Schrein des Nichts, der Sprung in den Abgrund, der Punkt jenseits, auf den das Leben zuläuft, ohne ihn je zu erreichen, weil es dann, wenn es dort ankommt, schon nicht mehr ist.“
Jörg Magenau will aber nicht einfach die Geschichte eines Sohnes, die Geschichte eines „Abgeschnittenen“ erzählen. Jörg Magenaus Schreiben, die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn und jene mit der Malerin sind durchsetzt mit Gedichten von Friedrich Hölderlin. Hölderlin feierte letztes Jahr seinen 250. Geburtstag. Hölderlin gibt den Auseinandersetzungen in der sich der Erzählende befindet eine ganz besondere Stimme. Der Erzähler in „Die kanadische Nacht“ stellt Fragen. Genauso wie es Hölderlin in seinen formvollendeten Gedichten auch tat, wenn auch nicht mit Fragezeichen. „Die kanadische Nacht“, ein Buch über das Schreiben, den Nachhall von Geschichten.
„Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ Hölderlin
Jörg Magenau, geboren 1961 in Ludwigsburg, studierte Philosophie und Germanistik in Berlin. Er ist einer der bekanntesten deutschen Feuilleton-Journalisten und schrieb u. a. Biographien über Christa Wolf, Martin Walser und die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger. Zuletzt erschien von ihm «Bestseller: Bücher, die wir liebten …» und bei Klett-Cotta die literarische Reportage «Princeton 66». «Die kanadische Nacht» ist sein erster Roman.
Beitragsbild © Olaf Kühl