In memoriam friederike mayröcker, von Beatrix Langner

grabstill aber und überfüllt mit zuhörern der saal dass man den druck des bleistifts auf dem papier hört leicht wie eine vorbeistreichende feder bist du geworden mein herz wie eine feder die ein vogel im flug verloren hat wo ist deine stimme geblieben rau von verzweiflung und versengt von der glut deiner fürchterlichen liebe du musst unter menschen gehen du mußt ihnen deinen atem lassen dich ihnen überlassen dich einlassen auf ihren atem aber du hast ja die sprache verloren sie sehen dich nicht wenn du da bist du bist da nicht wo du bist sondern der wannsee ist unruhig heute die leinen klirren im wind das wasser schlägt gegeneinander im streit obwohl der himmel leicht gefaltet liegt überm anderen ufer aber das wasser schlägt so unruhig gegen die boote es klatscht an die steinernen brüstungen unter dem saal wo du menschen einsaugst ich sauge mich voll mit menschen wie ein schwamm ich sauge die stimme ein der frau mit der bleichen haut trauerhaut unterm schwarzen haar diese leise fast schleppende stimme frau mit den großen füssen in männerschuhen und grabstill der saal und dieser nackte scheitel im schwarzen haarnest der wie eine naht liegt auf dem wirbel im zentrum der schwerkraft die ihr den kopf herabzieht über die großen schuhe witwenschuhe unter dem tisch und auf dem tisch das weiße viereck das mit schriftzeichen bedeckt ist und darüber dieser weiße scheitel der die berührung mit dem kissen mitgenommen hat in den saal über dem see die berührung eines fremden kopfkissens oder der sessellehne im ICE oder was sonst seine müdigkeit zurückgelassen haben mag die nistet im nackten scheitel im schwarzen haar diese weiße unbeschriftete zeile dieses mysterium der wörter dieser wundriss im schwarzen rahmen über der trauerhaut ich atme ihn ein

Beatrix Langner, 1950 geboren, ist promovierte Germanistin, Autorin und Literaturkritikerin und lebt in Berlin. Seit 1990 zahlreiche Rundfunk-Features und Kulturreportagen für DeutschlandRadio Berlin sowie Feuilletons und Kritiken für Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Deutschlandfunk Köln u.a. Sie veröffentlichte eine Biografie über Jean Paul (C. H. Beck), für die sie 2013 den Gleim-Literaturpreis erhielt, und ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

© Agnes Indermaur