«Schon der Ort, viel beschrieben, zeigte sich an diesem Septemberdonnerstag von seiner zauberhaften Seite: ein mildes Spätsommerlicht über den Dächern, über dem Wasser, über den Wellen, flockig flatterndes Laub – und die Verzauberung drang durch die offenen Fenster in den Raum unterm Dach, mit dem Duft von Meer und Weite, mit Sonne, die auf die Gesichter sich legte. Wieder Lesung vor Menschen; Gesichter, wenn auch noch unter Masken, die ein Mienenspiel verrieten, ein Nicken, ein unter der Maske scheues Lachen, ein Augenspiel, Blicke, zustimmende Gesten, gehaltene Augenblicke, «gestundete» Zeit – Lesezeit. Ein Wunder nach der Pandemie-isolation. Und da ist ein Gallus, der heranführt an Buch und Autor, an Stoff und Stern. Sternstunde. Dieser passionierte Leser mit dem Blick für das Wesentliche, für Nuancen und Details, für Laute und Klänge, für Silben und Sonden. Einer, der Bücher liebt, mit Fragen Räume öffnet, Gesprächsräume, Stoffräume, Leseräume, Räume zum Hören und Träumen: Lesetraumraum Gottlieben – und der schmale Spätmond über den Dächern nickt versonnen.» Urs Faes
Bücher werden nicht mit Stiften, weder mit Schreibmaschinen noch mit Computern geschrieben. Urs Faes ist «Schreiben» in Person, ganz Schreiben. Sein neuster Roman «Untertags» hat 15 Jahre Entstehungszeit gebraucht, bis er sich zwischen zwei Buchdeckel kleben liess. So war der Abend mit Urs Faes die Einweihung in seine Geheimnisse!
Urs Faes Spur durch die Literatur ist mehr als 45 Jahre lang. Seine ersten Veröffentlichungen erschienen in Zeitungen und Zeitschriften und 1975 sein erstes Buch, sein Gedichtband «Eine Kerbe im Mittag». Nach einem Dutzend Romanen, vielen Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken gehört Urs Faes zu den Säulen der Schweizer Literaturszene. Als Hausautor von Suhrkamp sowieso und geadelt durch zwei Erzählungen, die in der Insel-Bücherei erschienen (2012 «Paris. Eine Liebe» und 2018 «Raunächte»). Dass Urs Faes nach so vielen preisgekrönten Büchern noch immer zu den Geheimtipps gehört und keines seiner Bücher von den Massen gelesen wird, zeigt, dass die Literatur dieses Meisters weder zum Fastfood noch zur leichten Küche gehören. Was Urs Faes in seinem Schreiben auftut, sind sowohl literarische wie thematische Tauchgänge in die Tiefe. «Keine leichte Kost», meinte ein Besucher bei einem Glas Wein im Anschluss an die Lesung im Literaturhaus Thurgau.
Stimmt, sein Roman «Untertags», eine Liebesgeschichte, eine Familiengeschichte, eine Findungsgeschichte, ein Abschiedgeschichte ist keine leichte Kost. «Ich wollte nicht noch ein Buch über Demenz schreiben, noch einen literarischen Erfahrungsbericht. Schon deshalb, weil ich den Begriff nicht mag und er in meinem Buch nicht einmal vorkommt. Demenz kommt von ‹ohne mens’‚ ‹ohne Verstand›. Aber selbst Kleinkinder sprechen wir den Verband nicht ab, auch wenn die Kommunikation ganz anders funktioniert.» Urs Faes begleitete Paare, die mit dieser Krankheit zu kämpfen hatten, bekam schriftliches Material von Betroffenen, erlebte mit, was es heisst, sie zu begleiten. Und so wie seine Recherche eine behutsame, innige und langfristige Annäherung ist, so ist sein Buch «Untertags» eine behutsame, innige Annäherung an eine Liebe, die sich auch durch die Diagnose «Demenz» nicht auslöschen lässt.
Urs Faes schildert mit aller Behutsamkeit genau das, was das Erkennen in der Liebe ausmacht. Es ist nicht die bedingungslose Offenbarung, sondern die bedingungslose Hingabe. Was am Anfang zwischen Herta, der Erzählerin und Jakov Blumenthal, dem Mann mit den Cowboystiefeln durchaus ein zweiter Frühling war, wird zu einem langen, gemeinsamen Winter. Schweigen breitet sich aus. «Untertags» ist eine berührende Liebesgeschichte frei von jeder Sentimentalität, eingetaucht in die Ehrlichkeit eines Autors, der nicht beschönigen will und es in seiner ganz eigenen Art schafft, die Liebe in ihrer ganzen Kraft zu besingen.
Urs Faes breitete an diesem Abend seine Welt, sein Denken, sein Handeln, sein Herangehen an die Vielfältigkeit der Themen seines Romans aus. Urs Faes schreibt nicht mit Stift, auch nicht mit Tasten, sondern mit seinem ganzen Sein!
Rezension von «Untertags» mit Interview auf literaturblatt.ch