Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.
der gittermastkran überspannt den alpenkranz milane kreisen
Dem Deckenventilator im Neubau fehlt ein Flügel
markus kirchhofer / Rebekka Salm Salmhofer 4/6
Auf dem Wäscheberg bei laufendem Staubsauger schläft tief der Kater
du ganz ohr auf meinem bauch die verdauungsgeräusche
Rebekka Salm / markus kirchhofer Salmhofer 3
zartblauer himmel wolken wie wattebäusche der geruch von heu
Dort, wo der Holunder blüht liegt das totgemähte Kitz
markus kirchhofer / Rebekka Salm Salmhofer 2
Im dunklen Geäst streiten sich Rabenvögel Um das Stück Goldmond
geturtel am caquelon gabelgefecht im käse
Rebekka Salm / markus kirchhofer Salmhofer 1
Was ist ein Tan-Renga? Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt. Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben. Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.
In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.
Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag.
Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.
Intensive Mutmach-Geschichten! Wenn Frauen aus dem Hochtal Engadin im schweizerischen Graubünden ihre Geschichten preisgeben. Angelika Overath porträtiert 18 Frauen und daraus ist ein lesenswertes Buch entstanden.
Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni
Urs Heinz Aerni: Frau Overath, Sie erzählen Geschichten von 18 Frauen aus dem Engadin, die wunderbar unterschiedlich sind. Wie haben Sie sie gefunden und sagten alle sofort zu?
Angelika Overath: Begonnen habe ich mit meiner Freundin Franziska Barta. Sie führt eine Landarztpraxis in Zuoz im Oberengadin. Als Mädchen war sie mit ihrer Mutter von Ostberlin nach Westberlin geflohen. Die zweite «Engadinerin» war eine Nachbarin, die Kindergärtnerin Tina Puorger aus Sent im Unterengadin. Es war mir wichtig, eine Mischung von Frauen zu haben, die im Tal aufgewachsen sind, und solchen, die hier erst später eine Heimat fanden. Ich wollte auch verschiedene Berufe abbilden. Manche der Frauen kannte ich, andere wurden mir empfohlen. Bis auf zwei haben alle zugesagt.
Aerni: Mit welchen Infos haben Sie die Frauen für das Buch angefragt?
Overath: Die Spielregeln waren klar: Für ein Interview kam ich zu den Frauen nach Hause oder an den Arbeitsplatz. Dann schickte ich meinen Text-Vorschlag. Die Frauen sagten, was ich falsch verstanden hatte, was fehlte und vor allem, was raus sollte.
Aerni: Aha, das kam anscheinend oft vor?
Overath: Oft erzählt man etwas am Küchentisch, das man dann nicht unbedingt öffentlich lesen möchte.
Aerni: Faires Vorgehen…
Overath: Es war mir wichtig, dass die Frauen mit ihrem Portrait einverstanden waren. So habe ich zwar einige «Spitzen» verloren. Aber das Material, das ich hatte, war immer noch kostbar genug. Während der Interviews ließ ich kein Aufnahmegerät laufen. Ich wollte, dass die Konzentration der Frau, die erzählt, der Konzentration der Frau, die mitschreibt, entspricht. Jedes Interview war eine einmalige intime Situation. Es sind, glaube ich, intensive Mutmach-Geschichten entstanden; alle Frauen waren auf eine besondere Weise tapfer.
Aerni: Sie porträtieren Frauen zwischen dem Alter von 25 bis 83 Jahren. Machten Sie doch für alle einen weiteren gemeinsamen Nenner aus?
Overath: Es ging um Leidenschaft. Ich suchte Frauen, die das, was sie taten, mit Begeisterung leisteten, die Ideen hatten, die etwas wollten. Dabei ergab sich eine gelebte Alltagsgeschichte des Engadins. Verschiedene Generationen, verschiedene Berufe, verschiedene Hoffnungen.
Aerni: Ob Hüttenwartin, Sterbebegleiterin oder Reinigungskraft, das Engadiner Frauenleben zeigt eine große Vielfältigkeit. Sie selber wohnen ja auch schon seit fast 20 Jahren in Sent. Wie würden Sie das typische Leben im Engadin für sich zusammenfassen?
Angelika Overath «Engadinerinnen – Frauenleben in einem hohen Tal», Limmat, 200 Seiten, 36 Farbfotos, CHF 34.00, ISBN 978-3-03926-067-6
Overath: Wir leben in einer grandiosen Landschaft, in einem besonderen, schon südlichen Licht. Das Engadin ist eines der höchsten bewohnten Täler Europas. Seit die Engländer gegen Ende des 19. Jahrhunderts in St. Moritz den Wintersport erfunden haben, ist das Tal geprägt vom Tourismus. Und schon vorher gab es, allerdings in kleinerem Rahmen, die Bäderkultur um die Mineralquellen. Durch die Geschichte der Zuckerbäcker, die aus dem Tal in die Fremde zogen – zunächst nach Venedig, bald nach ganz Europa – und die in den Sommern, wie die Schwalben («Randulins») in ihrer Heimatdörfer zurückkamen, mischten sich im Tal bäuerliche Lebensweisen mit Stadtkulturen. Im Engadin gehört das Fremde zum Eigenen. Im Tal wohnen viele italienische und portugiesische Familien, die übrigens das bedrohte Rätoromanisch neu beleben. Es ist für sie leichter zu lernen als Bündnerdeutsch.
Aerni: Eine der porträtierten Frauen, Birgit Kohl, sagt: «Da, wo ich bin, ist es gut.» Sie selber stammen aus Karlsruhe. Sind Sie auch definitiv angekommen oder flammen ab und zu doch noch Wünsche nach Neuem auf?
Overath: Ich mag meine badische Geburtsstadt Karlsruhe sehr, auch wegen der Nähe zu Frankreich. Auch hier mischen sich Kulturen. Dann lebten wir lange im schwäbischen Tübingen und drei Jahre in Griechenland, Thessaloniki. Ich reise gerne. Ich liebe das Meer. Aber Sent ist mein Dorf, in dem ich zu Hause sein darf. Sent ist ein sehr offenens Dorf. Seine rund 900 Einwohner kommen aus sieben Nationen. Ich spüre hier eine Toleranz und eine Empathie, die mir gefällt. Man schaut zu einander, hilft sich. Vielleicht ist das naiv, aber ich glaube, uns verbindet auch die Dankbarkeit, hier leben zu dürfen. Dankbarkeit macht freundlich.
Aerni: Sie publizieren nicht nur schöne Bücher und preisgekrönte Literatur, sondern vermitteln auch anderen das Schreiben. Was kann das eigene Schreiben für das Leben bedeuten?
Overath: Schreiben ist immer eine Intensivierung von Erfahrung. Für manche Menschen, zum Beispiel für mich, ist es eine Notwendigkeit.
Aerni: Warum?
Overath: Ich schaffe mir einen Raum, der mir gehört, in dem ich etwas ausprobieren kann. Und wenn ich literarische Reportagen oder Portraits schreibe, dann nehme ich Teil an der Welt. Und bin wie eine Kamera, die Momente der Wirklichkeit zeigt. Schon als 5-jähriges Mädchen wollte ich Tagebuch führen. Aber ich konnte noch nicht schreiben. Ich bat meine Großmutter, die bei uns lebte, ob sie für mich aufschreiben würde, was ich ihr sagte. Sie meinte, sie könne nicht so gut schreiben, aber sie wolle es versuchen. Das Projekt scheiterte daran, dass meine Mutter kein Papier herausrückte. Da fällt mir ein: Meine Mutter und meine Großmutter waren Flüchtlinge aus dem Sudetenland. Das hat meine Vorstellung von «Heimat» sicher geprägt. Ich habe darüber in meinem Debüt-Roman «Nahe Tage» geschrieben.
Aerni: Nebst dem Mut, drauflos zu schreiben, gäbe es noch andere Voraussetzungen, die Sie empfehlen würden?
Overath: Ich empfehle nicht, drauflos zu schreiben. Wir arbeiten in der Schreibschule Sent mit Aufgaben und Spielen, die weiterführen. Formale oder auch inhaltliche Vorgaben sind Geländer, an denen Schreibende sicher weiterkommen. Nichts ist so wenig inspirierend wie ein leeres Blatt. Natürlich geht es um Freiheit, aber kreativ ist Freiheit nur innerhalb einer Form. Sonst wird es beliebig und uferlos. Wir üben uns in den Strategien der Aufmerksamkeit. Wichtig ist die Genauigkeit der Sprache wie dem Empfinden gegenüber. Und wie Diebe lesen wir klassische Texte und beobachten, wie es die Meisterinnen und Meister der Literatur gemacht haben.
Aerni: Sie leben im Dorf Sent auf 1450 m.ü.M. Doch das bunte Literaturgeschehen spielt sich in Literaturhäusern, großen Buchhandlungen und an Buchmessen in den Städten ab. Tut dieser geografische Abstand gut?
Overath: Sicher, wenn ich in Berlin leben würde, wäre ich mehr im Geschehen. Auf dem literarischen Markt funktioniert sehr vieles über Netzwerke. Aber wie viel Erfolg brauche ich denn?
Aerni: Gute Frage.
Overath: Wie viel meiner Energie bin ich bereit, in meine Vermarktung zu investieren? Ich glaube, man muss aufpassen, dass man beim Wirbeln um Aufmerksamkeit nicht seine Substanz verliert. Wenn ich nicht mehr spüre, warum ich schreibe, bin ich verloren. Ich bin auch kaum in den sozialen Medien unterwegs. Ich schreibe meine Bücher, sorgfältig. Gehe auf Lesungen, wenn ich eingeladen werde. Und führe zusammen mit meinem Mann jetzt im fünften Jahr die Schreibschule Sent. Sie hat sich zu einer Art literarischem Salon entwickelt. Es kommen interessante Menschen zu uns. Unsere öffentlichen Jahresabschlusslesungen, jeweils am 1. Sonntag im März, sind wunderbare Treffen, bei dem sich Autorinnen und Autoren, Einheimische, Feriengäste treffen und nach der Lesung bei einem Apéro noch lange diskutieren. Vielleicht kann ich, in Anlehnung an Birgit Kohl, sagen: Da, wo wir sind, ist Sprache. Und Gemeinschaft.
Aerni: Welche Veränderungen in Ihrer Region beobachten Sie vielleicht auch mit Sorge?
Overath: Die Zahl der Zweitwohnungen nimmt zu. Wenn junge einheimische Familien sich die Miete im Engadin nicht mehr leisten können und das Tal verlassen, ändert sich der Charakter der Dörfer rasant. Viele Menschen aus Zürich, Basel oder Mailand arbeiten im Home-Office im Engadin. Sie können teure Wohnungen bezahlen. Sie sind nur sporadisch da. Sie sprechen kein Rätoromanisch und nehmen nicht am Dorfleben teil. Das Engadin ist ja nicht nur eine Landschaft, sondern auch eine besondere Lebenskultur der Bräuche, der Feste, der Chöre. Landschaft und Gemeinschaft sind bedroht. Auch davon erzählen «meine» Engadinerinnen.
(Interview erschien bereits in der «Bündner Woche»)
Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren und heute als Schriftstellerin, Journalistin, Lyrikerin und Dozentin in Sent im Unterengadin. Zuletzt erschienen «Krautwelten» (Suhrkamp Insel, 2021), eine Hommage an die Kohlpflanzen, der zweisprachige Gedichtband in Vallader und Deutsch «Schwarzhandel mit dem Himmel / Marchà nair cul azur» (Telegramme, 2022) und der Roman «Unschärfen der Liebe» (Luchterhand, 2023). Angelika Overath wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis für literarische Reportage und dem Bündner Literaturpreis. Zusammen mit ihrem Mann, dem Literaturwissenschaftler und Essayisten Manfred Koch, führt sie eine Schreibschule in Sent.
Ich hab mich verirrt Wimperntusche vergessen Auf der Treppe Das Fenster ließ sich nicht Schließen der Vorhang Klemmte als Segel Tuch im Rahmen ich musste Auf einen Stuhl steigen Um die Flatter zu machen Kann viel erzählen Von munteren Monden Verschütt gegangenen Verben verloren Geglaubten Schlüsseln Kann auch behaupten Ich spiele bloß mit Der Zeit wenn der Abend Lang genug wird
Innen
Ohne Sonne werfen Wir weniger Schatten Aufeinander dann Wird es wärmer Ich kann dich erkennen Du bist leichter Als Wind du drehst Mir am Glücksrand
Auftritt
Unter der Brücke Weht es mich durch In unvermutete Richtungen Ich soll mich erinnern An große Sprünge Gedächtnis Lücken übertreten dabei Komme ich eigentlich aus Dem Eishaus habe dort Zucker Statt Wasser getrunken und Aufgepasst dass der Überschuss Zeit nicht aufs Kleid tropft Du siehst aus als wolltest du Mir als erster begegnen Nur einmal in diesem Leben Auf meinen Ostmund Setze ich einen Rotstift an Den du für voll nehmen sollst Du hörst ihn glitzern Während ich rede
Glasfasern
In deinen Armen Schleppst du eine Reißprobe Durch die Idylle Sehnen sind am Zerspringen Wir sollten eigentlich Nicht davon sprechen Was du am Sonntag machst Dass Wandern Kein Sport ist Dass wir uns beide Zu schwer sind du solltest Eigentlich gar nicht Mit mir über Sehnen sprechen
Unberührbar
Kopierer geben den Geist auf Was wir schreiben lässt sich kaum Drucken nichts Schwarzes will halten Auf einem Weiß das unter ihm bricht Die Geduld des gesamten Papiers Hängt nur noch an einem Faden Keine Silbe hat deine Augen
Knapp über Null
Zu kühl für die Jahreszeit Sagen sie warten mit Gurkensetzlingen Der Eisheiligen wegen Du gießt Wasser ins Glas es könnte sich Glatt eine Schicht drauf bilden Ich werde eine Clematis pflanzen sag ich Streif deinen Kosmos du siehst Mich an von der Seite als würde sich was Lichtes bestätigen das du Schon lange über mich weißt und nie Ganz glauben konntest
(bisher unveröffentlichte Gedichte)
Franziska Beyer-Lallauret, geboren 1977 in Mittweida, wuchs im sächsischen Muldental auf und studierte in Leipzig Germanistik und Französisch. Nach längerem Aufenthalt in der Bretagne lebt sie heute mit ihrer Familie als Deutschlehrerin und Autorin in Avrillé bei Angers an der Loire Sie schreibt sowohl auf deutsch als auch auf französisch, bzw. überträgt ihre deutschen Texte wie bei ihren beiden letzten Gedichtbänden («Falterfragmente / Poussière de papillon» und «Lauschgoldfisch / Brise Âme», beide dr. ziethen verlag Oschersleben 2022 und 2025) eigenständig ins Französische. Auszeichnungen: Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2021 (1. Preis), Shortlist des Bonner Literaturpreises 2021, Finalistin beim Lyrikpreis Meran 2022. Mitglied der internationalen Lyrikgesellschaft Leipzig e.V., des Friedrich-Bödecker-Kreises und des PEN Deutschland.
wir sind manchmal doch weiter voneinander entfernt als ich gerne glauben möchte. Sie w i s s e n, weshalb Sie schreiben, wenn Sie sagen: „Wir sind kleine Gefäße, die an einem Ozean nippen. Mein Bestreben als Autor ist es, diesem wilden Exzess Ehre zu erweisen.“ Was für ein Vorhaben! Ich beneide Sie darum. Dagegen komme ich mir vor, als säße ich nackt – wie Victorine Meurent auf Edouard Manets Bild Frühstück im Freien –zwischen lauter sorgfältig gekleideten Damen und Herren, die einen kulturellen Dialog führen, der nicht (wie bei Manet) unter Gleichrangigen, sondern über meinen Kopf hinweg stattfindet. „Chi-Ball“, „Chakra“, „kosmische Verlängerungsschnur“? Sie zweifeln daran, David, aber Sie haben in bestimmten Lebenssituationen Erfahrungen damit gemacht. Respekt! Da kann ich nicht mitreden. „Wörter sind dünn“, sagen Sie. Aber warum kommt mir so vor, als gehorchten sie Ihnen aufs Wort? Mir steht diese Sicherheit nicht zur Verfügung. Ich träume nachts oft, vor einem Schrankkoffer zu stehen, ohne darin etwas zu finden, was mich kleidet. Dann schau ich an mir herunter und erschrecke vor meiner Nacktheit. Wenn ich aufwache oder durch ein Museum gehe oder durch die diversen Kanäle zappe, die uns umwerben, begegne ich diesem Moment des Erschreckens überall wieder. Meine Lage ist die, nackt zu sein, denke ich manchmal. Nackt begegne ich mir auf vielen Bildern. Und in vielen Sätzen. Dort ist auch häufig von Dingen die Rede, die ich nicht verstehe. Was ist richtig und was falsch? Wer bestimmt den Dresscode? Ich habe keine Antwort darauf und gehöre selten „dazu“. Bei meiner Suche nach einem Gegenüber ist es wohl meine Aufgabe, austariert zu werden von einem mich musternden Blick. Oder es gibt erst gar keinen Blickkontakt. Dafür fehlen mir die Worte. Sie gehorchen mir einfach nicht.
Wie gerne würde ich hin und wieder Mondschein-Romantik vermitteln. Sie sagen, Sie hofften dies nicht zu tun. Warum nicht? Steht Mondschein nicht jedem Dichter, der den Eigengeruch der Nacht aus der Lichtverschmutzung bergen will? Da ist sie wieder: die Sehnsucht. Auch nach Mondschein-Romantik. Ich male mir immer noch das Paradies Schlaraffenland Arkadien aus. Kann einfach nicht die Finger davonlassen. Vielleicht bin ich ernsthaft krank und habe wieder zu viele Äpfel gegessen. Vielleicht lebte ich gesünder, wenn ich das Angebot des freundlichen Clubs akzeptierte, der mich bei sich aufnehmen möchte. Das Problem ist nur, dass ich nichts anzuziehen habe, um mich dort vorzustellen.
Gerade komme ich aus Paris zurück, wo ich erneut zwei Monate verbrachte. Wie schon vor zwei Jahren, als Sie und ich uns zufällig dort über den Weg liefen. Dieses Mal liefen mir ständig Soldaten in kugelsicheren Westen über den Weg, Maschinengewehre im Anschlag. Der Ausnahmezustand war überall sichtbar. Ich grüßte die Soldaten, die vor unserem Haus standen, und sie grüßten zurück. Aus welchem Land kommen Sie, fragten sie nach einer Weile des Grüßens erstaunt, denn sie waren es nicht gewohnt, gegrüßt zu werden.
Aus Deutschland, antwortete ich. Sie lächelten. Deutschland nimmt so viele Flüchtlinge auf. Verwandte von uns. Freunde, sagten sie. Traten höflich auf dem schmalen Gehweg zur Seite, wenn sie mich sahen. Da glaubte ich einen Moment lang, im Paradies angekommen zu sein. Wertgeschätzt zu werden, weil das Land, in dem ich lebe, etwas gelernt hat aus seiner Vergangenheit. Wären da nur nicht die ständig wiederkehrenden Anschläge auf Asylantenheime. Im Feuerlegen kennt mein Heimatland sich gut aus.
In Paris lief ich mir die Füße wund. Die Stadt überwältigte mich ohne Angabe von Gründen. Der Ausnahmezustand ließ sie außerdem ganz anders aussehen als beim letzten Aufenthalt. Kontrollen am Gare du Nord. In den Kaufhäusern. Absperrbänder. Terrorwarnung. Keine endlosen Touristenschlangen vor den zentralen Sehenswürdigkeiten. Abgeriegelte öffentliche Grünflächen, wo ich vor zwei Jahren noch flanierte. Was ich wiedererkannte, war architektonische Grandiosität neben Verfall. Eleganz neben Obdachlosigkeit. Stinkende Abfälle neben üppig blühenden Kamelien in struppigen Hinterhöfen. Schon nach wenigen Ausflügen musste ich mich ins Atelier zurückziehen. Meine Füße streikten. Ich streifte mir Schwimmflossen über und tauchte ab. Las in Jean-Pierre Abrahams Buch „DerLeuchtturm“ über das Leben und die Einsamkeit weit draußen im Atlantik.
„Ohne mir dessen bewusst zu sein, bin ich in die stumpfen Seelen alter Seemänner vorgedrungen…Ich wüsste zu gerne, ob sie auf hoher See jenen Moment erlebt haben, da die Haut dünn, endgültig lichtdurchlässig wird.“
Gedankenträgerin, Tusche auf Papier 2019
Jean-Pierre Abraham öffnet mit einer weit ausholenden Handbewegung das Fenster zur Stille. Sie wird zum Leuchtturm vor der Küste der Bretagne. Nach der Lektüre gab ich jeden Plan auf, etwas Bestimmtes fertigstellen zu wollen. Wochenlang studierte ich das Moos auf dem Haufen rostiger Fahrräder vor meinem Fenster. Hatte Besuch von einer einzelnen Taube, die immer auf exakt derselben Stelle des gegenüberliegenden Daches ihr Revier in Besitz nahm. Hörte aus dem Tanzstudio nebenan Übungen in Schreitherapie. In der Waschküche lernte ich ein junges finnisches Genie kennen. Ein Komponist, der seine Mütze tief über die Augen gezogen hatte, gab mir den Link zu seiner ersten Symphonie. Am Ende des Waschprogramms murmelte er entschuldigend so etwas wie „zeitgenössische Musik findet wenig Zustimmung“ und verschwand nahezu völlig unter seiner Mütze. Direkt neben meinem Atelier lag ein russisches Studio. Dort malte Olga Tänzerinnen in Pastelltönen. Da uns eine gemeinsame Sprache fehlte, verständigten wir uns mittels gefüllter russischer Eier und Baguette. Olga beschrieb mir ihre Bilder, indem sie fliegende Bewegungen mit den Armen machte und die Hand aufs Herz legte. Sich die Augen rieb, als müsse sie weinen, wenn sie von Abreise zu sprechen schien und auf ihr Gepäck zeigte.
Ich tauchte noch tiefer in meine Skizzenbücher und hatte das Gefühl, die Seine in meinen Ohren rauschen zu hören. Wahrscheinlich war ich längst auf den Grund des Flusses gesunken, über mir nichts als bleigraues Wasser, durch das sich Ausflugsboote schraubten. An Deck spiegelte sich der Himmel in chinesischen Selfies. Jemand hatte mit weißer Farbe einzelne Worte auf die Trottoirs der Brücken zur Île Saint- Louis und Île de la Cité gestempelt: Ich bin, stand dort oder: Vernunft.Traum.
Vier Worte reichen, um Philosophie auf die Straße zu bringen! Das begeisterte mich. Vier Worte, die wirksamer sind als jede Vorschrift im deutschen Straßenverkehr. Die Franzosen bauen auf ihren Descartes wie auf solide Brückenpfeiler, die bis in die Moderne reichen.Hier trägt kaum jemand einen Fahrradhelm, fährt niemand auf dem Gehweg, auch wenn es keine Fahrradwege gibt. Rote Ampeln und Fahrspuren dienen lediglich als grobe Orientierung. Trotzdem funktioniert der Verkehr.Selbst Kinder überqueren die Straße bei Rot und niemand regt sich darüber auf. Ich nahm den Bus zum Jardin des Plantes, um mich von der Frage abzulenken, weshalb so ein Verhalten bei uns undenkbar wäre. Erschöpft vom Stadtlärm ließ ich mich auf eine Parkbank fallen.
Asseyez-vous, je vous en prie et parlez moi d`amour (Setzen Sie sich und erzählen Sie mir von der Liebe)
las ich auf einem kleinen Metalltäfelchen, das an unauffälliger Stelle auf der Sitzfläche der Bank angebracht worden war. Was für eine Begrüßung! Leichtfüßig sprang ich auf und verliebte mich sofort in weitere Parkbänke, wo spendable Pariser für ihren finanziellen Beitrag zum Erhalt des Gartens eigene Gedanken oder bemerkenswerte Zitate hinterlassen dürfen. Mancher Besucher nickte mir amüsiert zu, weil ich vor den Bänken kniete, um die herzstärkenden Mittel auf den kleinen Täfelchen abzuschreiben. Es sind zu viele, um sie hier alle wiederzugeben. Am besten kommen Sie selbst noch einmal nach Paris und testen die Wirkung, wenn Sie im Botanischen Garten von Bank zu Bank schlendern wie durch ein durch Fantasie geschütztes Areal. Hier ist vieles möglich, was außerhalb der Mauern, die den Park umschließen, schon wegen des Ausnahmezustands schwer vorstellbar ist.
Nous arrivons toujours à l`endroit où nous sommes attendus. (Wir kommen immer da an, wo wir erwartet werden)
Fast hätte ich den riesigen versteinerten Wirbelknochen übersehen, der wie ein Meteorit aus dem All in ein Blumenbeet gestürzt zu sein schien und als eine Art Mahnmal daran erinnert, dass Mensch und Natur irgendwann eine Einheit bildeten.Gehörte der Wirbelknochen einst einem Pottwal? Ich weiß es nicht, aber zusammen mit Pfingstrosenduft, Buchsbaumornamenten und Orangerien ergab sich ein Szenario, das mir den Kopf verdrehte. Das Paradies schien kurzfristig um die Ecke zu liegen. Fast greifbar nah. Mag sein, dass dieses Drehen des Kopfes die nötige Haltung ist, um den Glückszustand wahrzunehmen, den ich so oft vermisse. Wer stets absprungbereit lebt und das Aroma von frisch gepflückten Zitronen fast vergessen hat, wird schnell mutlos. Ich nahm mir vor, auf dem Rückweg eine Tarte Pommes et Compote zu kaufen. Diese unvergleichliche Köstlichkeit müssen Sie unbedingt probieren. Auf einen knusprigen Mürbeteigboden wird zentimeterdick Apfelmus gelöffelt und mit hauchdünn geschnittenen leicht karamellisierten Apfelscheiben belegt. Ich schicke Ihnen das Rezept gern zu. Ein Biss davon genügt, und Sie sind…..Sie wissen schon wo.
à bientôt
Johanna
«Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand», von Johanna Hansen illustriert
(Aus einem deutsch-amerikanischen Schriftwechsel, den Johanna Hansen mit dem Schriftsteller David Oates aus Portland/Oregon über zwei Jahre lang führte. Das Buch erschien im Wortschau Verlag mit dem Titel «Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand».)
Johanna Hansen, Schriftstellerin, Malerin, Herausgeberin, Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn. Lebt in Düsseldorf. Zunächst Sprachlehrerin und Journalistin. 1991 Beginn der künstlerischen Tätigkeit. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen. Seit 2008 literarische Veröffentlichungen als Einzelpublikation, in Literaturzeitschriften, Anthologien und auf Literaturplattformen. Seit 2013 zusammen mit Wolfgang Allinger Herausgeberin der Literaturzeitschrift wortschau. Mehrfache Auszeichnungen. Zuletzt Lyrikpreis Feldkirch 2024.
Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.
Auf dem Wäscheberg bei laufendem Staubsauger schläft tief der Kater
du ganz ohr auf meinem bauch die verdauungsgeräusche
Rebekka Salm / markus kirchhofer Salmhofer 3/6
zartblauer himmel wolken wie wattebäusche der geruch von heu
Dort, wo der Holunder blüht liegt das totgemähte Kitz
markus kirchhofer / Rebekka Salm Salmhofer 2
Im dunklen Geäst streiten sich Rabenvögel Um das Stück Goldmond
geturtel am caquelon gabelgefecht im käse
Rebekka Salm / markus kirchhofer Salmhofer 1
Was ist ein Tan-Renga? Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt. Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben. Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.
In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.
Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag.
Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.
«Zwei Leben» heisst der neue Roman von Ewald Arenz und er betont, wie wichtig die Empathie für sein Schreiben ist. Ewald Arenz ist mit diesem Roman Gast am Wortlaut Literaturfestival in St. Gallen.
Gastgeitrag von Urs Heinz Aerni
Urs Heinz Aerni: Herr Arenz, Ihr neues Buch liegt in den Buchhandlungen, und schön ist es geworden, dann das Auge liest ja mit. Können Sie als Autor bei der Aufmachung vom Cover über Schriftbild bis zum Lesebändchen mitreden?
Ewald Arenz: Ganz anders, als man gemeinhin denkt: Nein. Kein bisschen. Ich bekomme die Coverentwürfe zwar geschickt und kann sagen, was mir am besten gefällt, aber letztlich entscheidet doch der Verlag. Und das ist gut so.
Aerni: Warum?
Arenz: Wenn ich Grafiker hätte werden wollen, dann könnte ich jetzt keine Romane schreiben. Die Herstellerinnen bei DuMont wissen wirklich, was sie tun und ich verlasse mich völlig auf sie.
Aerni: «Zwei Leben» ist ein stiller, berührender Roman natürlich mit der Liebe als zentrales Thema. Was auffällt ist, dass sie aus der Perspektive von Roberta erzählen. Wie können wir das Hineinversetzen in weibliche Protagonistin als Mann vorstellen?
Arenz: Ich werde das seit «Alte Sorten» häufig gefragt.
Aerni: … Ihr Roman, der 2019 erschienen ist…
Arenz: Die Antwort ist: Es hilft, wenn man als Mann und Autor Frauen einfach mal zuhört. Ich glaube, das tun wir viel zu wenig. Und dann sind wir gar nicht so unterschiedlich. Ich meine, wer fragt Donna Leon, wie sie sich in Commissario Brunetti hineinversetzt?
Aerni: Gute Frage.
Arenz: Als guter Schriftsteller – ich wähle hier bewusst die männliche Form – muss man sich in alle hineinversetzen können. Empathie ist eine Grundvoraussetzung für gelungenes Schreiben.
Aerni: Der Roman beginnt in den 1970er Jahren, in Süddeutschland. Wie trifft man den Ton und die Farben von Jahren, die schon lange her sind? Oder wie gingen Sie da vor?
Ewald Arenz «Zwei Leben», Dumont, 2024, 368 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-8321-8205-2
Arenz: 1971 war ich sechs Jahre alt und lebte in einem kleinen Dorf im fränkischen Jura. Jedes Bild, alles Gehörte und Erlebte ging direkt in mich hinein. Ich musste nur aus der Erinnerung schöpfen. Und dann blätterte ich in den alten Fotoalben meiner Eltern und jedes Bild weckte eine Vielzahl an neuen Szenen.
Aerni: «Als sie aus dem Zug stieg, wehte es ihr frisch um die Haare und ins Gesicht; ein ganz zarter Duft darin wie von frisch gepflügter Erde. Ein Frühlingsversprechen». Diese Passage zeugt von Ihrer Affinität zu Landschaft und Natur. Hilft die Sprache für die Tiefe des eigenen Geniessens?
Arenz: Die Sprache ist das A und O. Wenn ich erzähle, möchte ich, dass meine Sprache ist wie ein eleganter Rolls Royce. Man hört ihn kaum, aber er bringt einen mit grosser Sicherheit an den Ort des Erzählten. Meine Sprache muss Bilder transportieren, die im Kopf der Leserin erblühen. Sie ist essenziell.
Aerni: Der Roman thematisiert auch die Ambivalenz zwischen den Sehnsüchten, einerseits nach Urbanität und Karriere in der Modewelt, andererseits nach dem Dorfleben mit der Landwirtschaft und Natur drum herum. Wohin zieht es Sie momentan eher?
Arenz: Ich habe das grosse Privileg, in beiden Welten leben zu können. Lebte ich nur in einer, dann würde es mich unweigerlich immer auch in die andere ziehen.
Aerni: Sie studierten unter anderem englische und amerikanische Literatur und es dünkt, dass die amerikanische Erzählkultur mit ihren Weiten und Familienchroniken Ihr eigenes Schreiben prägt. Oder?
Arenz: Sowohl die amerikanische wie auch die englische Literatur haben mein Schreiben geprägt. Dos Passos genauso wie Steinbeck oder Phlip K. Dick, die Brontës nicht weniger als Jane Austen. Aber alles in allem sind es doch auch und immer wieder die deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller – darunter nicht zuletzt Max Frisch und Dürrenmatt. Ist es nicht grossartig, dass Literatur so nationenübergreifend wirkt?
Aerni: Sehr. Davon könnte die politische Welt wohl noch lernen. Von schreibenden Zunft wird oft erwartet, dass sie sich gesellschaftlich ja sogar politisch mehr engagieren müssten, da sie ja mit der Sprache und Inhalten arbeitet im Gegensatz zur Musik oder Malerei. Sie tun dies unter anderem auch durch Stellungnahme zu Vernunft und Ängsten vor dem Fremden. Aber was meinen Sie zu dieser Erwartungshaltung?
Arenz: Ich bin politisch in der kleinsten Zelle der Gesellschaft, in ihrem Kern, der Familie und dem engsten Umfeld. Dort beginnt alles: Toleranz und Vergebung und das Gespräch miteinander. Von dort aus wirken wir weiter. Wenn wir uns in der Familie nicht zuhören und uns verzeihen können, wie dann im Grossen? Ich bin auch parteipolitisch engagiert, aber ich glaube, dass ich mit Literatur mehr bewirken kann.
Aerni: Wenn ein Roman veröffentlicht ist, kommen die Interviews und die Lesungen. Wie bereiten Sie sich auf die lebendige Phase des Schriftstellerlebens vor, da doch das Schreiben eine ruhige und zurückgezogene Angelegenheit ist?
Arenz: Ach, das sind doch die schönen und lebendigen Stunden. Schreiben ist manchmal eine verteufelt einsame Angelegenheit mit tausend Selbstzweifeln und manchmal sehr dunklen Stunden. Da bin ich froh über Lesungen und den echten Kontakt zum Publikum.
Aerni: Dürften wir erfahren, wie Ihr Lieblingsschreibort aussieht?
Arenz: Immer wieder: Mein Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer. Es gibt einen Blick auf den verwilderten Garten und den Blick auf eines meiner Lieblingsbilder – ein Gemälde meiner künstlerisch so begabten Grossmutter.
Aerni: Erlauben Sie mir noch zum Schluss folgende Frage: an welchem Ort als Kulisse würden Sie mal gerne einen Roman platzieren?
Arenz: Jedenfalls nicht in Berlin. Aber ganz ehrlich: Der Mars würde mich mal reizen…
(Zuerst erschienen im Magazin «Lesen» von Orell Füssli Schweiz.)
Ewald Arenz wurde 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mit «Alte Sorten» (DuMont 2019) stand er auf der Liste »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2019 und «Der große Sommer» (2021) erhielt 2021 ebenjene Auszeichnung. Zuletzt erschien «Die Liebe an miesen Tagen» (2023).
Sandrine. Notate. Nicht-lineare Erinnerungen eines weiblichen Ichs
„Man kann nicht ohne Liebe lesen. Wenn man schon zuvor ein Bild von einem Text hat, dann weist man ihn ab.“ Hélène Cixous
Ihr Atem ist so leise wie ein Hauch Gänsedaunen. Jetzt, da die Zeit in stehenden Gewässern friert, kann sie die kommenden Verwerfungen spüren. Sie schrauben sich um eine gedachte Achse. Das Gefühl dazu findet sich an keinem Strang. Wie ein Fresko legt es sich auf die Haut. Schicht um Schicht, feucht vermalte Erstarrung.
Erste Texturen falten sich auf. Bislang stets scharfe Umrisse geben die Konturen frei. Eine Art Vorgebirgszone legt sich vor ihr aus, deren Mitte sich ins Freie wölbt, ein Eigenleben führt. Sandrine könnte eine jede sein. Ihr Tagwerk rutscht ins Monochrome ab. Endlos verschleifen sich die Tage, verkürzen sich. Drehen sich nach ihr um.
Paris. Die weiße Wohnung an der Île de la Cité. Je ne suis pas là, ma chère. Die Zeit streckt ihre Fühler aus. Eine Nummer wählen. Dem Rauschen zwischen den Freizeichen lauschen. Laufmaschig zum Quai de Montebello. Taxi!
Rückwärts. Der Steg über den Main. Wasser, das über das Geländer greift. Wände, die auf Tuchfühlung gehen. Flashbacks. She’s like a rainbow. Keine Schonung überdeckt das Danach: Stoßkanten, Risse und ein Verlust, der keiner ist.
Vorwärts. London. Chalk Farm Studios. You are so funny! Stay like this. Peking Duck bei Mr. Chow. Teppiche sind Tagebücher. Sie dämpfen die Gegenwart, mischen sie mit Staub und dem Schlaf der anderen. Abflug.
Französische Provinz. Sandrine inmitten einer Herde Maneches. Waagerecht langgezogene Pupillen, schwarze Köpfe. Sie mischt sich ins wollige Feld: offenporig, körperlos. Voilà.
Zurückspulen. Germersheim. I take you to the backside of the moon. Brachlandig liegen. Furche an Furche. Gleichschaltung zweier Wesen. Augen auf! Es gibt immer ein Dazwischen.
Vorspulen. Zeit ist ein Hüpfspiel. Himmel und Erde, dazwischen Störstellen und haufenweise Glück. Sandrine ist nicht der Diminutiv von Alexandrine.
Jane Wels «Schwankende Lupinen», edition offenses feld, 2024, 80 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-7597-2115-0
Jane Wels, 1955 geboren in Mannheim, Magister-Studium der Erziehungswissenschaften, Entwicklungspsychologieund Medienwissenschaften, 1989 erste Lesung im Heine-Haus Düsseldorf, 2024 Debüt mit „Schwankende Lupinen“, Hrsg. Jürgen Brôcan, edition offenes feld, diverse Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften,Anthologien und Online-Magazinen.
singid siba schneeawiissi Schwään übar mis Huus ufam Fluug in Süüda singid Säaga
bringid Freada ear schneeawiissa Schwään vum Noardan in Süüda vum Weschtan in Oschta bringid Freada
singid vu Kraankat Soargan und schtäarba schneawiissi Schwään
singid Läaba singid Säaga bringid Freada
Dämmarschtunda
Si ischt fascht 97gi gsii wo s gschtoarban ischt im Juli 2001 üsari Tanta Fiina leedig roati Hoor s Läaba lang ir Fabrik gschaffat um nünt si hett gäan an Maa khaa und Kiand abar doazmool mit roata Hoor ku Schooss blibscht hoka bim Kilbitaanz
abar im Aaltarshaim haiaiai bis in Moargan iachi taanzat ammana Fäascht jawool di roata Hoor siand iaz jo wiiss schneewiiss wi andari oo
si häat s Läaba ggnossa earscht räacht gäan gsunga regilmäässig a Glääsli Wii
ebs äacht no hundarti wöar
ammana Taag häats gseet as langat iaz bini müad ischt im Bett pleaba häat nümma ggäassa nümma trunka t Ooga zuan und ufa Toad ggwaartat däar ischt nüd gad glai koo
singa häat Pfiina gseet singa
iannari aalta Liadar hommar mittar gsunga Liabi Load Frööd und Toad alls hommar mittar gsunga mänga Schtrooffa
mit vollar Schtimm klaar und tütlig us vollam Häarz häat Pfiina gsunga Köarpar und Gaischt siand langsam varlöscht wi a Kearzaflämmli s Ggmüat häat no häall uusaklunga bisas dar Toad khöart und Pfiina it Aarma ggnoo häat
Gränzschtuua
ir Meatti vum aalta Rii schtoot an Gränzschtuua ufamana Schtuuabett
Als Kiand siammar uufikläattarat aachigjukt uufi aachi uufi aachi is Inland gjukt is Ussland gjukt uuni Pass
Gschichtabömm
Iaadi häat iannari Gschicht
doar Schichta
vu iannarar Moattar sinnar Gschicht
und iannaram Vattar sinnar Gschicht
und doar iannaran Eltara sina Gschichta
woarzlid
I ho
Bim Papa Kuschtar ir Kuchi khokat voar iam uss a Holzkischta ufar Holzkischtan an umkeearti Holzhäardiisapfanna am langa iisaga Schtiil vur Pfanna häat ar dar goldig Töargga ggraschplat ratsch ratsch ratsch Köannli siand it Kischta gschpikt dar läär Rapp häatar it Zuana gwoarffa dian häatar im Wiantar zum aafüüra ggnoo
ii als klänns Möatalidarnäabat khöklat ir Kafìmüüli uf da Knüüna hani Töarggaköanli ggmaalat schtundalang rundummioo iooioo vu Zitt zu Zitt häat dar Papa Kuschtar gseet i ho all han i gfröögat waa hoasst i ho i ho häat dar Papa Kuschtar gseet und häat hööfali gglächlat ammana Taag han i gseet iaz woassis: i ho hoasst joo dar Papa Kuschtar häat hööfali gglächlat ùnd häat gseet
i ho
Napoli
Am Meer Mööfagschrööa kun uanziga Voogil wo singt
bi nüd wägs da Vöögil koo bi wägs dar Muusig doo Rusalka s Määrli vur Nixa und vum Prinz wo nüd hond künna zämmakoo dr Graaba zwüschat Läaban und Toad ischt z tüüf truurig schüüa s Liad an Moo wo t Rusalka singt
la Luna höart s blibt schtumm am Himmil schtoo
Rii rundumm
rundumm Rii ruuschat aanis varbii laadat zum Baada zum Loosan und Luagan ii kunnt eewig goot eewig und ischt all doo
Rii rundumm rundumm Rii kunnt vu mächtiga Bäarg macht is klii wi Zwäarg loot is machtloas am Uufar schtoo übar viar Brugga üübarigoo
Rii rundumm rundumm Rii ischt wi umarmat sii vunnara Kraft wo flüüsst und Läaba bringt
mächtig doarsichtig singt
Uufrumma
kumm häascht di räacht iiggrummat im Läaba iss schu widar Zitt zum uusrumma
Aapassa
Aapassa sì müsstat sì gad aapassa tütsch läanna schaffa wi meear schmeka wi meear täänka wi meear
jò meear täätìd üüs aapassa
As klokat
As klokat a fröndì Frou A üsarì Tööar Uuftùùa Iiacha lòò Ìt Ooga luaga
Sì häat an Namma Ùnd o a Moattar Ìm Hìmmìl
Ùanì wo vòar 2000 Jòòr Säalbar Flüchtlìng Gsii ìscht
Am Taich
Frosch grüüa ufam Searoasablatt o grüüa schüüa Frosch grüüa
Frosch grau ufam gschpriggalatta Schtuua o grau schlau Frosch grau
Frosch schwarz im schwadriga Schwappilschlamm o schwarz
nüd aso schüüa wi Frosch grüüa abar o schlau wi Frosch grau
Berta Thurnherr «Rundumm Rii», Der gesunde Menschenversand, 2023, 184 Seiten, CHF ca. 25.00, ISBN 978-3-03853-134-0
Berta Thurnherr, geboren 1946, lebt als Autorin und Erzählerin in Diepoldsau. 2018 wurde sie mit dem Rheintaler Kulturpreis Goldiga Törgga, 2021 mit dem Anerkennungspreis der Kulturstiftung des Kantons St. Gallen ausgezeichnet. Zahlreiche Veröffentlichungen, unter anderem «As wöart schù wööara, ma tuat wamma kaa» (Buch mit 2 CDs).
Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.
zartblauer himmel wolken wie wattebäusche der geruch von heu
Dort, wo der Holunder blüht liegt das totgemähte Kitz
markus kirchhofer / Rebekka Salm Salmhofer 2/6
Im dunklen Geäst streiten sich Rabenvögel Um das Stück Goldmond
geturtel am caquelon gabelgefecht im käse
Rebekka Salm / markus kirchhofer Salmhofer 1
Was ist ein Tan-Renga? Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt. Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben. Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.
In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.
Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag.
Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.
Dass er dem Herrn, dem er gerade die Toilettentür aufgehalten und den Lichtschalter gewiesen, einen schönen Tag gewünscht hatte, ließ Horst Bredolsky deutlich spürbar den Schweiß auf die Stirn treten. Bredolsky begann also heftig und weithin sichtbar, wie er meinte, zu schwitzen. Noch konnte er das Zittern der Hände, das für gewöhnlich einen solchen Schweißausbruch in verräterischer Weise zu begleiten drohte, im Zaum halten, doch er wusste, auch das war nur eine Frage der Zeit, eine Frage der Kontrolle, die ihm dieser Tage nur allzu leicht entglitt. Noch aber, so hoffte er, wäre nicht alles gänzlich verloren, wenn er nur so unauffällig, so unbekümmert wie möglich, ohne Stolpern oder Schlurfen, seinen Weg zurück auf seinen Platz finden, sich hinsetzen, ein Bein über das andere schlagen, die Arme locker verschränken, den Blick ungerührt auf das Bild gegenüber heften würde. Noch ist nicht alles verloren, dachte Bredolsky, als er ohne weitere Zwischenfälle den Weg zurückgelegt, am Platz angekommen, sich auf seinen zum Glück noch nicht neu besetzten Stuhl sinken lassen wollte. Noch ist nicht alles verloren, dachte er und setzte sich auf den Stuhl, dessen Polster sogleich ein lautes, wie er meinte, durchaus missverständliches Knarzen im fast voll besetzten Wartezimmer verlautbar machte.
Bredolsky erstarrte. Fixierte das Bild gegenüber, widerstand mit größtmöglicher Selbstbeherrschung dem Impuls, die Augen im Schreck über das vermeintlich unflätige Geräusch zusammen zu kneifen. Viel zu verräterisch wäre das, ein Schuldeingeständnis, wo doch gar keine Schuld bestand, zumindest nicht seinerseits – man müsse dem Hausmeister! Nein, dem Hersteller! Aber doch nicht ihm, nicht Horst Bredolsky! Nein! Bredolsky, das Bild fixieren! Den Blicken ausweichen, sagte sich Bredolsky im fast voll besetzten Wartezimmer. Den Blicken, die ihn zweifelsohne mit Scham und Schande überziehen wollten! So ist der Mensch, dachte Bredolsky, dass er den anderen beschämen möchte, wo es nur geht, der kleinste Anlass ist ihm gerade recht, dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer.
Bredolsky schwitzte heftig. So eine furchtbare Situation! So eine unglückliche Verkettung! Schönen Tag noch, hatte er gesagt, als er dem Herrn die Toilettentür aufgehalten und den Lichtschalter gewiesen hatte. Die Toilettentür hatte er ihm aufgehalten und den Lichtschalter hatte er ihm gewiesen, nicht etwa die Eingangstür zur Praxis! Oder die Tür zum Sprechzimmer der Frau Doktor! Oder das Portal in eine fremde Dimension! Irgendetwas, das eine solche Verabschiedung gerechtfertigt hätte, nein! Durchaus hörbar hatte er dem Herrn einen schönen Tag gewünscht, als er selbst gerade das Badezimmer verlassen hatte, sich dem suchenden Herren gegenüber fand und ihm die hinter ihm zugefallene Tür rasch wieder geöffnet und den gerade erst selbst betätigten Lichtschalter gewiesen hatte. Schönen Tag noch, hatteer dem Herrn gesagt, der das fast voll besetzte Wartezimmer, in dem er, Bredolsky, zu allem Unglück auch noch geräuschvoll selbst wieder Platz genommen hatte, sicher gleich wieder betreten würde. Der Herr würde ebenfalls wieder Platz nehmen und dann würden er, Bredolsky und alle anderen Insassen des fast voll besetzten Wartezimmers im schrillen Bewusstsein dieser peinlichen Situation beieinandersitzen. Eine schreckliche, eine fast unerträgliche Vorstellung!
Bredolsky schwitzte heftig und erwog, schnell aufzustehen, seinen Hut zu nehmen und seine Überjacke, das Wartezimmer zu verlassen, einfach zu gehen, den Termin kurzerhand sausen zu lassen. Bredolsky erwog, den Anschein zu erzeugen, die Verabschiedung wäre schließlich gerechtfertigt gewesen. Er erwog, nach Hause zu fahren, sich eigenmächtig krank zu melden, die Jalousien runter zu lassen, sich ins Bett zu legen, Kraft zu sammeln für einen neuerlichen Anruf nach angemessenem Intervall, der Schwester dann zu versichern, er sei wieder ganz wohlauf, ganz und gar körperlich und seelisch imstande, die Untersuchung nun über sich ergehen zu lassen, in sechs bis acht Wochen also hier wieder aufzuschlagen, gefasst und gesammelt und hoffentlich – hoffentlich! –, ohne die Gegenwart des Herrn, dem er einen schönen Tag an der Toilettentür, am Lichtschalter gewünscht hatte, im Gefühl größter Peinlichkeit ertragen zu müssen. Noch, dachte Bredolsky im fast voll besetzten Wartezimmer, hätte er Gelegenheit zur Flucht.
Doch was würden die anderen Wartenden denken? War ein plötzliches Aufstehen und Gehen denn plausibel, wo er doch gerade erst wieder Platz genommen hatte? Hatte er seine Chance nicht schon verspielt, als er nicht direkt nach dem Gang zur Toilette und der unseligen Begegnung seinen Hut und seine Überjacke genommen hatte? Einige der Wartenden saßen schon so lange, waren vor ihm hier gewesen, sie hatten gewiss bemerkt, dass er selbst noch gar nicht aufgerufen worden war. Sie mussten wissen, dass er noch nicht im Sprechzimmer gewesen ist, noch nicht etwa ein Medikament verabreicht bekommen haben konnte, das eine zeitlich begrenzte Überwachung erfordert hätte, nach deren Verstreichen er sich nun hätte verabschieden können. Mussten wissen, dass seine Flucht eben dies war, ein feiger Akt reiner Nervenschwäche! Was sollten sie denken? Sie, die sie ihn beim Anmelden laut, wahrscheinlich zu laut, seinen vollen Namen hatten nennen hören: Horst Bredolsky! Ja, Binsenstraße 1! Bei der Frau Mama, ja, das war noch aktuell! Die Nummer ebenso, ja, Schwester, ja! Horst Bredolsky, würden sie gewiss denken, ein Feigling vor dem Herrn, dem er die Toilettentür aufgehalten und den Lichtschalter gewiesen hatte.
Bredolsky schwitzte heftig und seine Hände zitterten. Gleich würde der Herr, dem er einen schönen Tag gewünscht hatte, durch die Toilettentür treten. Dann würde er selbstsicher und festen Schrittes zu seinem noch nicht wieder besetzten Platz gehen und sie würden sich nun hier gegenübersitzen. Gewiss würde der Herr ihn erkennen, sich wundern, dass er nach dieser Floskel noch hier saß, sich im Geiste über ihn amüsieren, sich über ihn lustig machen, vielleicht nur in Gedanken, vielleicht aber sogar laut etwas Abschätziges äußern wie Ach! oder Na. Bredolsky würde stumm bleiben, stur auf das Bild sehen. Stark bleiben, dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer. Und er wusste mit verzweifelter Gewissheit, dass trotz aller Bemühungen seine Beschämtheit rot leuchtend auf sein Gesicht treten würde. Dass dieser peinliche Vorfall grell und blinkend wie ein überdimensioniertes Reklameschild im Raum zwischen ihnen stehen und hämisch auf ihn deuten würde.
Bredolsky schwitzte heftig und zitterte. Was er nur immer den Mund aufmachen musste? Dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer. Dass er nicht einfach die Klappe halten konnte?! Dass er überhaupt hergekommen war! Es war alles ein großer Fehler gewesen, ein durch und durch vermeidbares Unglück, das er selbst über sich gebracht hatte. Er löste einen Arm aus der krampfigen Verschränkung und griff in einem Versuch, sich zu beruhigen, in die Innentasche seines Herrenblousons. Ein kleines Heft zog er heraus und begann zu blättern. Nicht so hastig, ermahnte er sich noch selbst, innerlich, im fast voll besetzten Wartezimmer. Es nützte alles nichts, nicht einmal seine Listen, seine fein säuberlichen Eintragungen konnten ihn noch entspannen. Dabei war er vorbereitet gewesen. Hatte den Tag, den Weg hierher akribisch geplant. Seine Notizen studiert. Er wischte sich mit der zittrigen Hand über die schweiß-glänzende Stirn und besah sie dann, als hätte er tatsächlich erwartet, dass ihm Pech vom Haaransatz troff. Aber da war nichts. Nur übermäßig viel Schweiß.
Noch ist nicht alles verloren, dachte Bredolsky, überrascht von sich selbst im fast voll besetzten Wartezimmer. Vielleicht, dachte Bredolsky, hatte er ja einmal Glück. Vielleicht würde ihn die Schwester gleich aufrufen und ihn aus dieser Misere befreien. Doch dann meinte er, leise die Toilettenspülung zu vernehmen. Gleich würde der Herr seine Hände waschen, gleich würde er die Toilettentür öffnen und wieder ins Wartezimmer treten. Bredolsky schwitzte so heftig, dass er spürte, wie ihm kleine Sturzbäche über Nacken und Rücken rannen. Gewiss würde es bald am Stuhl hinablaufen, eine Lache bilden, an die Straßenschuhe der anderen Wartenden branden, die sich dann redlich bemühen würden, ihn nicht mehr anzusehen, die angestrengt in ihren Illustrierten blättern und auf ihre Mobiltelefone starren würden, weil sie so befremdet wären, gewiss, und angeekelt von ihm, Bredolsky, diesem unglückselig wallenden Quell der Geniertheit.
Bredolsky hielt sein Heftchen wie ein Gebetsbuch zwischen den krampfigen Fingern, in seinen Ohren rauschte die Toilettenspülung, das Wasser im Waschbecken lief über vor seinem inneren Auge, es musste ihnen allen längst bis zu den Knien stehen, vermengt mit seinem Schweiß. Die Augen zusammengekniffen hielt er sein Notizheft noch fester umklammert und flehte in Gedanken die Schwester an, ihn zu erlösen. Wünschte sich nichts sehnlicher, als seinen Namen aus ihrem Mund durch die Luft schweben zu sehen, wie einen Rettungsring, nach dem er nur den Arm ausstrecken müsste. Jetzt, Schwester, ich bitte Sie, ich bitte Sie! Eindeutiger konnte doch niemand ertrinken?! Das musste doch für alle und erst recht für sie, die fachkundige Schwester, erkennbar sein, dass hier jemand um sein Leben kämpft! Mit sich selbst ums blanke Überleben ringt!
Das Dröhnen des Händetrockners riss Bredolsky aus seinem Strudel. Und stürzte ihn sogleich in noch gefährlichere Gewässer. Es war also soweit! Die Tür würde sich öffnen, Bredolsky würde in Scham und Schande untergehen! Mit fest geschlossenen Augen hielt Bredolsky tatsächlich die Luft an, als er hörte, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde…
“Herr Müller, bitte in Sprechzimmer 1, Herr Müller bitte!”
“Oh, das wär dann wohl… Ja.” Der Herr, der gerade durch die Toilettentür getreten war, durchschritt rasch das Wartezimmer und verschwand in dem Raum, aus dem heraus ihn die Schwester gerufen hatte. Ohne dass sich eine Flutwelle hinter ihm Bahn gebrochen, ohne dass er Bredolsky eines Blickes gewürdigt hätte.
Bredolskys Gesicht hing schlaff und farblos an ihm herab. Von einer abstehenden Haarsträhne fiel ein Tropfen Schweiß. Niemand sah ihn an.
Er würde nie mehr hierher kommen können, dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer. Nie mehr herkommen wollen. Die Wände waren für immer gezeichnet vom Pegelstand seiner panischen Hilflosigkeit.
Romina Nikolić «Unterholz. Auszüge aus einem Langgedicht», Edition Muschelkalk, 2023, 72 Seiten, CHF ca. 15.90, ISBN 978-3-86160-588-1
Romina Nikolić, geb. 1985 in Suhl, wuchs in Schönbrunn/Thür. auf, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie. Seit 2009 neben der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit Organisatorin von Lesereihen und diversen literarischen Projekten, u. a. als freie Mitarbeiterin bei der Literarischen Gesellschaft Thüringen oder Mitbegründerin von Love Crime Books, einem Independent-Label für Fanfiction-Anthologien. Zweifache Preisträgerin beim Jungen Literaturforum Hessen-Thüringen, Walter-Dexel-Stipendiatin der Stadt Jena. Lebt als Projektmanagerin, Lyrikerin und Herausgeberin in Jena.