Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.
Auf dem Wäscheberg bei laufendem Staubsauger schläft tief der Kater
du ganz ohr auf meinem bauch die verdauungsgeräusche
Rebekka Salm / markus kirchhofer Salmhofer 3/6
zartblauer himmel wolken wie wattebäusche der geruch von heu
Dort, wo der Holunder blüht liegt das totgemähte Kitz
markus kirchhofer / Rebekka Salm Salmhofer 2
Im dunklen Geäst streiten sich Rabenvögel Um das Stück Goldmond
geturtel am caquelon gabelgefecht im käse
Rebekka Salm / markus kirchhofer Salmhofer 1
Was ist ein Tan-Renga? Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt. Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben. Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.
In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.
Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag.
Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.
«Zwei Leben» heisst der neue Roman von Ewald Arenz und er betont, wie wichtig die Empathie für sein Schreiben ist. Ewald Arenz ist mit diesem Roman Gast am Wortlaut Literaturfestival in St. Gallen.
Gastgeitrag von Urs Heinz Aerni
Urs Heinz Aerni: Herr Arenz, Ihr neues Buch liegt in den Buchhandlungen, und schön ist es geworden, dann das Auge liest ja mit. Können Sie als Autor bei der Aufmachung vom Cover über Schriftbild bis zum Lesebändchen mitreden?
Ewald Arenz: Ganz anders, als man gemeinhin denkt: Nein. Kein bisschen. Ich bekomme die Coverentwürfe zwar geschickt und kann sagen, was mir am besten gefällt, aber letztlich entscheidet doch der Verlag. Und das ist gut so.
Aerni: Warum?
Arenz: Wenn ich Grafiker hätte werden wollen, dann könnte ich jetzt keine Romane schreiben. Die Herstellerinnen bei DuMont wissen wirklich, was sie tun und ich verlasse mich völlig auf sie.
Aerni: «Zwei Leben» ist ein stiller, berührender Roman natürlich mit der Liebe als zentrales Thema. Was auffällt ist, dass sie aus der Perspektive von Roberta erzählen. Wie können wir das Hineinversetzen in weibliche Protagonistin als Mann vorstellen?
Arenz: Ich werde das seit «Alte Sorten» häufig gefragt.
Aerni: … Ihr Roman, der 2019 erschienen ist…
Arenz: Die Antwort ist: Es hilft, wenn man als Mann und Autor Frauen einfach mal zuhört. Ich glaube, das tun wir viel zu wenig. Und dann sind wir gar nicht so unterschiedlich. Ich meine, wer fragt Donna Leon, wie sie sich in Commissario Brunetti hineinversetzt?
Aerni: Gute Frage.
Arenz: Als guter Schriftsteller – ich wähle hier bewusst die männliche Form – muss man sich in alle hineinversetzen können. Empathie ist eine Grundvoraussetzung für gelungenes Schreiben.
Aerni: Der Roman beginnt in den 1970er Jahren, in Süddeutschland. Wie trifft man den Ton und die Farben von Jahren, die schon lange her sind? Oder wie gingen Sie da vor?
Ewald Arenz «Zwei Leben», Dumont, 2024, 368 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-8321-8205-2
Arenz: 1971 war ich sechs Jahre alt und lebte in einem kleinen Dorf im fränkischen Jura. Jedes Bild, alles Gehörte und Erlebte ging direkt in mich hinein. Ich musste nur aus der Erinnerung schöpfen. Und dann blätterte ich in den alten Fotoalben meiner Eltern und jedes Bild weckte eine Vielzahl an neuen Szenen.
Aerni: «Als sie aus dem Zug stieg, wehte es ihr frisch um die Haare und ins Gesicht; ein ganz zarter Duft darin wie von frisch gepflügter Erde. Ein Frühlingsversprechen». Diese Passage zeugt von Ihrer Affinität zu Landschaft und Natur. Hilft die Sprache für die Tiefe des eigenen Geniessens?
Arenz: Die Sprache ist das A und O. Wenn ich erzähle, möchte ich, dass meine Sprache ist wie ein eleganter Rolls Royce. Man hört ihn kaum, aber er bringt einen mit grosser Sicherheit an den Ort des Erzählten. Meine Sprache muss Bilder transportieren, die im Kopf der Leserin erblühen. Sie ist essenziell.
Aerni: Der Roman thematisiert auch die Ambivalenz zwischen den Sehnsüchten, einerseits nach Urbanität und Karriere in der Modewelt, andererseits nach dem Dorfleben mit der Landwirtschaft und Natur drum herum. Wohin zieht es Sie momentan eher?
Arenz: Ich habe das grosse Privileg, in beiden Welten leben zu können. Lebte ich nur in einer, dann würde es mich unweigerlich immer auch in die andere ziehen.
Aerni: Sie studierten unter anderem englische und amerikanische Literatur und es dünkt, dass die amerikanische Erzählkultur mit ihren Weiten und Familienchroniken Ihr eigenes Schreiben prägt. Oder?
Arenz: Sowohl die amerikanische wie auch die englische Literatur haben mein Schreiben geprägt. Dos Passos genauso wie Steinbeck oder Phlip K. Dick, die Brontës nicht weniger als Jane Austen. Aber alles in allem sind es doch auch und immer wieder die deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller – darunter nicht zuletzt Max Frisch und Dürrenmatt. Ist es nicht grossartig, dass Literatur so nationenübergreifend wirkt?
Aerni: Sehr. Davon könnte die politische Welt wohl noch lernen. Von schreibenden Zunft wird oft erwartet, dass sie sich gesellschaftlich ja sogar politisch mehr engagieren müssten, da sie ja mit der Sprache und Inhalten arbeitet im Gegensatz zur Musik oder Malerei. Sie tun dies unter anderem auch durch Stellungnahme zu Vernunft und Ängsten vor dem Fremden. Aber was meinen Sie zu dieser Erwartungshaltung?
Arenz: Ich bin politisch in der kleinsten Zelle der Gesellschaft, in ihrem Kern, der Familie und dem engsten Umfeld. Dort beginnt alles: Toleranz und Vergebung und das Gespräch miteinander. Von dort aus wirken wir weiter. Wenn wir uns in der Familie nicht zuhören und uns verzeihen können, wie dann im Grossen? Ich bin auch parteipolitisch engagiert, aber ich glaube, dass ich mit Literatur mehr bewirken kann.
Aerni: Wenn ein Roman veröffentlicht ist, kommen die Interviews und die Lesungen. Wie bereiten Sie sich auf die lebendige Phase des Schriftstellerlebens vor, da doch das Schreiben eine ruhige und zurückgezogene Angelegenheit ist?
Arenz: Ach, das sind doch die schönen und lebendigen Stunden. Schreiben ist manchmal eine verteufelt einsame Angelegenheit mit tausend Selbstzweifeln und manchmal sehr dunklen Stunden. Da bin ich froh über Lesungen und den echten Kontakt zum Publikum.
Aerni: Dürften wir erfahren, wie Ihr Lieblingsschreibort aussieht?
Arenz: Immer wieder: Mein Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer. Es gibt einen Blick auf den verwilderten Garten und den Blick auf eines meiner Lieblingsbilder – ein Gemälde meiner künstlerisch so begabten Grossmutter.
Aerni: Erlauben Sie mir noch zum Schluss folgende Frage: an welchem Ort als Kulisse würden Sie mal gerne einen Roman platzieren?
Arenz: Jedenfalls nicht in Berlin. Aber ganz ehrlich: Der Mars würde mich mal reizen…
(Zuerst erschienen im Magazin «Lesen» von Orell Füssli Schweiz.)
Ewald Arenz wurde 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mit «Alte Sorten» (DuMont 2019) stand er auf der Liste »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2019 und «Der große Sommer» (2021) erhielt 2021 ebenjene Auszeichnung. Zuletzt erschien «Die Liebe an miesen Tagen» (2023).
Sandrine. Notate. Nicht-lineare Erinnerungen eines weiblichen Ichs
„Man kann nicht ohne Liebe lesen. Wenn man schon zuvor ein Bild von einem Text hat, dann weist man ihn ab.“ Hélène Cixous
Ihr Atem ist so leise wie ein Hauch Gänsedaunen. Jetzt, da die Zeit in stehenden Gewässern friert, kann sie die kommenden Verwerfungen spüren. Sie schrauben sich um eine gedachte Achse. Das Gefühl dazu findet sich an keinem Strang. Wie ein Fresko legt es sich auf die Haut. Schicht um Schicht, feucht vermalte Erstarrung.
Erste Texturen falten sich auf. Bislang stets scharfe Umrisse geben die Konturen frei. Eine Art Vorgebirgszone legt sich vor ihr aus, deren Mitte sich ins Freie wölbt, ein Eigenleben führt. Sandrine könnte eine jede sein. Ihr Tagwerk rutscht ins Monochrome ab. Endlos verschleifen sich die Tage, verkürzen sich. Drehen sich nach ihr um.
Paris. Die weiße Wohnung an der Île de la Cité. Je ne suis pas là, ma chère. Die Zeit streckt ihre Fühler aus. Eine Nummer wählen. Dem Rauschen zwischen den Freizeichen lauschen. Laufmaschig zum Quai de Montebello. Taxi!
Rückwärts. Der Steg über den Main. Wasser, das über das Geländer greift. Wände, die auf Tuchfühlung gehen. Flashbacks. She’s like a rainbow. Keine Schonung überdeckt das Danach: Stoßkanten, Risse und ein Verlust, der keiner ist.
Vorwärts. London. Chalk Farm Studios. You are so funny! Stay like this. Peking Duck bei Mr. Chow. Teppiche sind Tagebücher. Sie dämpfen die Gegenwart, mischen sie mit Staub und dem Schlaf der anderen. Abflug.
Französische Provinz. Sandrine inmitten einer Herde Maneches. Waagerecht langgezogene Pupillen, schwarze Köpfe. Sie mischt sich ins wollige Feld: offenporig, körperlos. Voilà.
Zurückspulen. Germersheim. I take you to the backside of the moon. Brachlandig liegen. Furche an Furche. Gleichschaltung zweier Wesen. Augen auf! Es gibt immer ein Dazwischen.
Vorspulen. Zeit ist ein Hüpfspiel. Himmel und Erde, dazwischen Störstellen und haufenweise Glück. Sandrine ist nicht der Diminutiv von Alexandrine.
Jane Wels «Schwankende Lupinen», edition offenses feld, 2024, 80 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-7597-2115-0
Jane Wels, 1955 geboren in Mannheim, Magister-Studium der Erziehungswissenschaften, Entwicklungspsychologieund Medienwissenschaften, 1989 erste Lesung im Heine-Haus Düsseldorf, 2024 Debüt mit „Schwankende Lupinen“, Hrsg. Jürgen Brôcan, edition offenes feld, diverse Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften,Anthologien und Online-Magazinen.
singid siba schneeawiissi Schwään übar mis Huus ufam Fluug in Süüda singid Säaga
bringid Freada ear schneeawiissa Schwään vum Noardan in Süüda vum Weschtan in Oschta bringid Freada
singid vu Kraankat Soargan und schtäarba schneawiissi Schwään
singid Läaba singid Säaga bringid Freada
Dämmarschtunda
Si ischt fascht 97gi gsii wo s gschtoarban ischt im Juli 2001 üsari Tanta Fiina leedig roati Hoor s Läaba lang ir Fabrik gschaffat um nünt si hett gäan an Maa khaa und Kiand abar doazmool mit roata Hoor ku Schooss blibscht hoka bim Kilbitaanz
abar im Aaltarshaim haiaiai bis in Moargan iachi taanzat ammana Fäascht jawool di roata Hoor siand iaz jo wiiss schneewiiss wi andari oo
si häat s Läaba ggnossa earscht räacht gäan gsunga regilmäässig a Glääsli Wii
ebs äacht no hundarti wöar
ammana Taag häats gseet as langat iaz bini müad ischt im Bett pleaba häat nümma ggäassa nümma trunka t Ooga zuan und ufa Toad ggwaartat däar ischt nüd gad glai koo
singa häat Pfiina gseet singa
iannari aalta Liadar hommar mittar gsunga Liabi Load Frööd und Toad alls hommar mittar gsunga mänga Schtrooffa
mit vollar Schtimm klaar und tütlig us vollam Häarz häat Pfiina gsunga Köarpar und Gaischt siand langsam varlöscht wi a Kearzaflämmli s Ggmüat häat no häall uusaklunga bisas dar Toad khöart und Pfiina it Aarma ggnoo häat
Gränzschtuua
ir Meatti vum aalta Rii schtoot an Gränzschtuua ufamana Schtuuabett
Als Kiand siammar uufikläattarat aachigjukt uufi aachi uufi aachi is Inland gjukt is Ussland gjukt uuni Pass
Gschichtabömm
Iaadi häat iannari Gschicht
doar Schichta
vu iannarar Moattar sinnar Gschicht
und iannaram Vattar sinnar Gschicht
und doar iannaran Eltara sina Gschichta
woarzlid
I ho
Bim Papa Kuschtar ir Kuchi khokat voar iam uss a Holzkischta ufar Holzkischtan an umkeearti Holzhäardiisapfanna am langa iisaga Schtiil vur Pfanna häat ar dar goldig Töargga ggraschplat ratsch ratsch ratsch Köannli siand it Kischta gschpikt dar läär Rapp häatar it Zuana gwoarffa dian häatar im Wiantar zum aafüüra ggnoo
ii als klänns Möatalidarnäabat khöklat ir Kafìmüüli uf da Knüüna hani Töarggaköanli ggmaalat schtundalang rundummioo iooioo vu Zitt zu Zitt häat dar Papa Kuschtar gseet i ho all han i gfröögat waa hoasst i ho i ho häat dar Papa Kuschtar gseet und häat hööfali gglächlat ammana Taag han i gseet iaz woassis: i ho hoasst joo dar Papa Kuschtar häat hööfali gglächlat ùnd häat gseet
i ho
Napoli
Am Meer Mööfagschrööa kun uanziga Voogil wo singt
bi nüd wägs da Vöögil koo bi wägs dar Muusig doo Rusalka s Määrli vur Nixa und vum Prinz wo nüd hond künna zämmakoo dr Graaba zwüschat Läaban und Toad ischt z tüüf truurig schüüa s Liad an Moo wo t Rusalka singt
la Luna höart s blibt schtumm am Himmil schtoo
Rii rundumm
rundumm Rii ruuschat aanis varbii laadat zum Baada zum Loosan und Luagan ii kunnt eewig goot eewig und ischt all doo
Rii rundumm rundumm Rii kunnt vu mächtiga Bäarg macht is klii wi Zwäarg loot is machtloas am Uufar schtoo übar viar Brugga üübarigoo
Rii rundumm rundumm Rii ischt wi umarmat sii vunnara Kraft wo flüüsst und Läaba bringt
mächtig doarsichtig singt
Uufrumma
kumm häascht di räacht iiggrummat im Läaba iss schu widar Zitt zum uusrumma
Aapassa
Aapassa sì müsstat sì gad aapassa tütsch läanna schaffa wi meear schmeka wi meear täänka wi meear
jò meear täätìd üüs aapassa
As klokat
As klokat a fröndì Frou A üsarì Tööar Uuftùùa Iiacha lòò Ìt Ooga luaga
Sì häat an Namma Ùnd o a Moattar Ìm Hìmmìl
Ùanì wo vòar 2000 Jòòr Säalbar Flüchtlìng Gsii ìscht
Am Taich
Frosch grüüa ufam Searoasablatt o grüüa schüüa Frosch grüüa
Frosch grau ufam gschpriggalatta Schtuua o grau schlau Frosch grau
Frosch schwarz im schwadriga Schwappilschlamm o schwarz
nüd aso schüüa wi Frosch grüüa abar o schlau wi Frosch grau
Berta Thurnherr «Rundumm Rii», Der gesunde Menschenversand, 2023, 184 Seiten, CHF ca. 25.00, ISBN 978-3-03853-134-0
Berta Thurnherr, geboren 1946, lebt als Autorin und Erzählerin in Diepoldsau. 2018 wurde sie mit dem Rheintaler Kulturpreis Goldiga Törgga, 2021 mit dem Anerkennungspreis der Kulturstiftung des Kantons St. Gallen ausgezeichnet. Zahlreiche Veröffentlichungen, unter anderem «As wöart schù wööara, ma tuat wamma kaa» (Buch mit 2 CDs).
Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.
zartblauer himmel wolken wie wattebäusche der geruch von heu
Dort, wo der Holunder blüht liegt das totgemähte Kitz
markus kirchhofer / Rebekka Salm Salmhofer 2/6
Im dunklen Geäst streiten sich Rabenvögel Um das Stück Goldmond
geturtel am caquelon gabelgefecht im käse
Rebekka Salm / markus kirchhofer Salmhofer 1
Was ist ein Tan-Renga? Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt. Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben. Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.
In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.
Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag.
Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.
Dass er dem Herrn, dem er gerade die Toilettentür aufgehalten und den Lichtschalter gewiesen, einen schönen Tag gewünscht hatte, ließ Horst Bredolsky deutlich spürbar den Schweiß auf die Stirn treten. Bredolsky begann also heftig und weithin sichtbar, wie er meinte, zu schwitzen. Noch konnte er das Zittern der Hände, das für gewöhnlich einen solchen Schweißausbruch in verräterischer Weise zu begleiten drohte, im Zaum halten, doch er wusste, auch das war nur eine Frage der Zeit, eine Frage der Kontrolle, die ihm dieser Tage nur allzu leicht entglitt. Noch aber, so hoffte er, wäre nicht alles gänzlich verloren, wenn er nur so unauffällig, so unbekümmert wie möglich, ohne Stolpern oder Schlurfen, seinen Weg zurück auf seinen Platz finden, sich hinsetzen, ein Bein über das andere schlagen, die Arme locker verschränken, den Blick ungerührt auf das Bild gegenüber heften würde. Noch ist nicht alles verloren, dachte Bredolsky, als er ohne weitere Zwischenfälle den Weg zurückgelegt, am Platz angekommen, sich auf seinen zum Glück noch nicht neu besetzten Stuhl sinken lassen wollte. Noch ist nicht alles verloren, dachte er und setzte sich auf den Stuhl, dessen Polster sogleich ein lautes, wie er meinte, durchaus missverständliches Knarzen im fast voll besetzten Wartezimmer verlautbar machte.
Bredolsky erstarrte. Fixierte das Bild gegenüber, widerstand mit größtmöglicher Selbstbeherrschung dem Impuls, die Augen im Schreck über das vermeintlich unflätige Geräusch zusammen zu kneifen. Viel zu verräterisch wäre das, ein Schuldeingeständnis, wo doch gar keine Schuld bestand, zumindest nicht seinerseits – man müsse dem Hausmeister! Nein, dem Hersteller! Aber doch nicht ihm, nicht Horst Bredolsky! Nein! Bredolsky, das Bild fixieren! Den Blicken ausweichen, sagte sich Bredolsky im fast voll besetzten Wartezimmer. Den Blicken, die ihn zweifelsohne mit Scham und Schande überziehen wollten! So ist der Mensch, dachte Bredolsky, dass er den anderen beschämen möchte, wo es nur geht, der kleinste Anlass ist ihm gerade recht, dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer.
Bredolsky schwitzte heftig. So eine furchtbare Situation! So eine unglückliche Verkettung! Schönen Tag noch, hatte er gesagt, als er dem Herrn die Toilettentür aufgehalten und den Lichtschalter gewiesen hatte. Die Toilettentür hatte er ihm aufgehalten und den Lichtschalter hatte er ihm gewiesen, nicht etwa die Eingangstür zur Praxis! Oder die Tür zum Sprechzimmer der Frau Doktor! Oder das Portal in eine fremde Dimension! Irgendetwas, das eine solche Verabschiedung gerechtfertigt hätte, nein! Durchaus hörbar hatte er dem Herrn einen schönen Tag gewünscht, als er selbst gerade das Badezimmer verlassen hatte, sich dem suchenden Herren gegenüber fand und ihm die hinter ihm zugefallene Tür rasch wieder geöffnet und den gerade erst selbst betätigten Lichtschalter gewiesen hatte. Schönen Tag noch, hatteer dem Herrn gesagt, der das fast voll besetzte Wartezimmer, in dem er, Bredolsky, zu allem Unglück auch noch geräuschvoll selbst wieder Platz genommen hatte, sicher gleich wieder betreten würde. Der Herr würde ebenfalls wieder Platz nehmen und dann würden er, Bredolsky und alle anderen Insassen des fast voll besetzten Wartezimmers im schrillen Bewusstsein dieser peinlichen Situation beieinandersitzen. Eine schreckliche, eine fast unerträgliche Vorstellung!
Bredolsky schwitzte heftig und erwog, schnell aufzustehen, seinen Hut zu nehmen und seine Überjacke, das Wartezimmer zu verlassen, einfach zu gehen, den Termin kurzerhand sausen zu lassen. Bredolsky erwog, den Anschein zu erzeugen, die Verabschiedung wäre schließlich gerechtfertigt gewesen. Er erwog, nach Hause zu fahren, sich eigenmächtig krank zu melden, die Jalousien runter zu lassen, sich ins Bett zu legen, Kraft zu sammeln für einen neuerlichen Anruf nach angemessenem Intervall, der Schwester dann zu versichern, er sei wieder ganz wohlauf, ganz und gar körperlich und seelisch imstande, die Untersuchung nun über sich ergehen zu lassen, in sechs bis acht Wochen also hier wieder aufzuschlagen, gefasst und gesammelt und hoffentlich – hoffentlich! –, ohne die Gegenwart des Herrn, dem er einen schönen Tag an der Toilettentür, am Lichtschalter gewünscht hatte, im Gefühl größter Peinlichkeit ertragen zu müssen. Noch, dachte Bredolsky im fast voll besetzten Wartezimmer, hätte er Gelegenheit zur Flucht.
Doch was würden die anderen Wartenden denken? War ein plötzliches Aufstehen und Gehen denn plausibel, wo er doch gerade erst wieder Platz genommen hatte? Hatte er seine Chance nicht schon verspielt, als er nicht direkt nach dem Gang zur Toilette und der unseligen Begegnung seinen Hut und seine Überjacke genommen hatte? Einige der Wartenden saßen schon so lange, waren vor ihm hier gewesen, sie hatten gewiss bemerkt, dass er selbst noch gar nicht aufgerufen worden war. Sie mussten wissen, dass er noch nicht im Sprechzimmer gewesen ist, noch nicht etwa ein Medikament verabreicht bekommen haben konnte, das eine zeitlich begrenzte Überwachung erfordert hätte, nach deren Verstreichen er sich nun hätte verabschieden können. Mussten wissen, dass seine Flucht eben dies war, ein feiger Akt reiner Nervenschwäche! Was sollten sie denken? Sie, die sie ihn beim Anmelden laut, wahrscheinlich zu laut, seinen vollen Namen hatten nennen hören: Horst Bredolsky! Ja, Binsenstraße 1! Bei der Frau Mama, ja, das war noch aktuell! Die Nummer ebenso, ja, Schwester, ja! Horst Bredolsky, würden sie gewiss denken, ein Feigling vor dem Herrn, dem er die Toilettentür aufgehalten und den Lichtschalter gewiesen hatte.
Bredolsky schwitzte heftig und seine Hände zitterten. Gleich würde der Herr, dem er einen schönen Tag gewünscht hatte, durch die Toilettentür treten. Dann würde er selbstsicher und festen Schrittes zu seinem noch nicht wieder besetzten Platz gehen und sie würden sich nun hier gegenübersitzen. Gewiss würde der Herr ihn erkennen, sich wundern, dass er nach dieser Floskel noch hier saß, sich im Geiste über ihn amüsieren, sich über ihn lustig machen, vielleicht nur in Gedanken, vielleicht aber sogar laut etwas Abschätziges äußern wie Ach! oder Na. Bredolsky würde stumm bleiben, stur auf das Bild sehen. Stark bleiben, dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer. Und er wusste mit verzweifelter Gewissheit, dass trotz aller Bemühungen seine Beschämtheit rot leuchtend auf sein Gesicht treten würde. Dass dieser peinliche Vorfall grell und blinkend wie ein überdimensioniertes Reklameschild im Raum zwischen ihnen stehen und hämisch auf ihn deuten würde.
Bredolsky schwitzte heftig und zitterte. Was er nur immer den Mund aufmachen musste? Dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer. Dass er nicht einfach die Klappe halten konnte?! Dass er überhaupt hergekommen war! Es war alles ein großer Fehler gewesen, ein durch und durch vermeidbares Unglück, das er selbst über sich gebracht hatte. Er löste einen Arm aus der krampfigen Verschränkung und griff in einem Versuch, sich zu beruhigen, in die Innentasche seines Herrenblousons. Ein kleines Heft zog er heraus und begann zu blättern. Nicht so hastig, ermahnte er sich noch selbst, innerlich, im fast voll besetzten Wartezimmer. Es nützte alles nichts, nicht einmal seine Listen, seine fein säuberlichen Eintragungen konnten ihn noch entspannen. Dabei war er vorbereitet gewesen. Hatte den Tag, den Weg hierher akribisch geplant. Seine Notizen studiert. Er wischte sich mit der zittrigen Hand über die schweiß-glänzende Stirn und besah sie dann, als hätte er tatsächlich erwartet, dass ihm Pech vom Haaransatz troff. Aber da war nichts. Nur übermäßig viel Schweiß.
Noch ist nicht alles verloren, dachte Bredolsky, überrascht von sich selbst im fast voll besetzten Wartezimmer. Vielleicht, dachte Bredolsky, hatte er ja einmal Glück. Vielleicht würde ihn die Schwester gleich aufrufen und ihn aus dieser Misere befreien. Doch dann meinte er, leise die Toilettenspülung zu vernehmen. Gleich würde der Herr seine Hände waschen, gleich würde er die Toilettentür öffnen und wieder ins Wartezimmer treten. Bredolsky schwitzte so heftig, dass er spürte, wie ihm kleine Sturzbäche über Nacken und Rücken rannen. Gewiss würde es bald am Stuhl hinablaufen, eine Lache bilden, an die Straßenschuhe der anderen Wartenden branden, die sich dann redlich bemühen würden, ihn nicht mehr anzusehen, die angestrengt in ihren Illustrierten blättern und auf ihre Mobiltelefone starren würden, weil sie so befremdet wären, gewiss, und angeekelt von ihm, Bredolsky, diesem unglückselig wallenden Quell der Geniertheit.
Bredolsky hielt sein Heftchen wie ein Gebetsbuch zwischen den krampfigen Fingern, in seinen Ohren rauschte die Toilettenspülung, das Wasser im Waschbecken lief über vor seinem inneren Auge, es musste ihnen allen längst bis zu den Knien stehen, vermengt mit seinem Schweiß. Die Augen zusammengekniffen hielt er sein Notizheft noch fester umklammert und flehte in Gedanken die Schwester an, ihn zu erlösen. Wünschte sich nichts sehnlicher, als seinen Namen aus ihrem Mund durch die Luft schweben zu sehen, wie einen Rettungsring, nach dem er nur den Arm ausstrecken müsste. Jetzt, Schwester, ich bitte Sie, ich bitte Sie! Eindeutiger konnte doch niemand ertrinken?! Das musste doch für alle und erst recht für sie, die fachkundige Schwester, erkennbar sein, dass hier jemand um sein Leben kämpft! Mit sich selbst ums blanke Überleben ringt!
Das Dröhnen des Händetrockners riss Bredolsky aus seinem Strudel. Und stürzte ihn sogleich in noch gefährlichere Gewässer. Es war also soweit! Die Tür würde sich öffnen, Bredolsky würde in Scham und Schande untergehen! Mit fest geschlossenen Augen hielt Bredolsky tatsächlich die Luft an, als er hörte, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde…
“Herr Müller, bitte in Sprechzimmer 1, Herr Müller bitte!”
“Oh, das wär dann wohl… Ja.” Der Herr, der gerade durch die Toilettentür getreten war, durchschritt rasch das Wartezimmer und verschwand in dem Raum, aus dem heraus ihn die Schwester gerufen hatte. Ohne dass sich eine Flutwelle hinter ihm Bahn gebrochen, ohne dass er Bredolsky eines Blickes gewürdigt hätte.
Bredolskys Gesicht hing schlaff und farblos an ihm herab. Von einer abstehenden Haarsträhne fiel ein Tropfen Schweiß. Niemand sah ihn an.
Er würde nie mehr hierher kommen können, dachte er im fast voll besetzten Wartezimmer. Nie mehr herkommen wollen. Die Wände waren für immer gezeichnet vom Pegelstand seiner panischen Hilflosigkeit.
Romina Nikolić «Unterholz. Auszüge aus einem Langgedicht», Edition Muschelkalk, 2023, 72 Seiten, CHF ca. 15.90, ISBN 978-3-86160-588-1
Romina Nikolić, geb. 1985 in Suhl, wuchs in Schönbrunn/Thür. auf, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie. Seit 2009 neben der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit Organisatorin von Lesereihen und diversen literarischen Projekten, u. a. als freie Mitarbeiterin bei der Literarischen Gesellschaft Thüringen oder Mitbegründerin von Love Crime Books, einem Independent-Label für Fanfiction-Anthologien. Zweifache Preisträgerin beim Jungen Literaturforum Hessen-Thüringen, Walter-Dexel-Stipendiatin der Stadt Jena. Lebt als Projektmanagerin, Lyrikerin und Herausgeberin in Jena.
Das Buch lag in Evas Schoss. – Ingeborg Bachmann schaut auf Fotos nicht selten auf den Boden, ging es Eva beim Betrachten des Umschlags durch den Kopf. Und: Ist es Scheu, die sie so blicken lässt?
Ein weisser Fleck vor der Scheibe des langsam fahrenden Zugs liess Evas Kopf nach rechts schnellen. Ein weisser Esel stand da, kurz vor Arth Goldau. Genau da, wo am 2. September 1806 der Rossberg zu Tal gefahren war und drei Dörfer mit 457 Menschen, 323 Stück Vieh, ihren Häusern und Kirchen unter sich begraben hatte.
Der weisse Esel blickte nach Osten. Keine drei Meter von ihm entfernt, Steiss gegen Steiss, stand auf einem kuppelförmigen Stück Grünfläche ein schwarzer Esel und blickte nach Westen. Zwischen Häuserfassaden, Geleisen und Brocken von Urgestein ein Bild wie aus der Zeit geschnitten.
Die Lokomotive zog an. Der Wagen, in dem Eva sass, tauchte ein in eine dunkle Tunnelöffnung, um kurz darauf am Bahnhof zu stoppen. Evas Körper ruckte in die Gegenwart zurück. Sie hörte den Rentner mit dem spärlichen Blondhaar im Abteil rechts schräg vis-à-vis vor sich zu seiner Frau sagen, indem er Satzteile aus dem Magazin mit eigenen Gedanken mengte: «Das gloubsch jo ned, de Ueli Murer zeigt sis wohre Gsecht. Das Staatsoberhoupt het vo de Krise be de CS Bank gwösst ond nüt onderno.» Seine Frau genervt: «Die spenne jo! So eine aus Bondesrot z’ wähle.» Ihr Mann, mit Ironie in der Stimme: «Met em Xi Jingping hett er öberus fröndschaftlechi Gspröch gfüehrt. Ond d’ Finanzmineschter vo Saudi Arabien ond Katar het er 2022 ou bsuecht, för bilaterali Gspröch zo pikante Theme.» Seine Lippen kräuselten sich erneut, bevor er tiefernst anhängte: «Ond denn esch er chorz druf, öberraschend z’roggträte. Das get’s jo ned!»
Er vertiefte sich wieder in das Magazin. «Hey, so cool», drang plötzlich seine Frau in seine Lektüre ein, «do vore esch grad de Papscht igstege! E Voralpe-Expräss! Dass ich das darf erläbe. – Do esch aues dra», warf sie nach ein paar Minuten wieder ein. «Wahnsenn! De muess i fotografiere.»
Sie ging nach vorn zum Wagenausgang. Der Papst sass in seinem weissen Papamobil. Es war Schmutziger Donnerstag. «So cool, Herr Papscht!» – «Wie mer’ s aluegt,» grinste der Kirchenfürst. Der gutaussehende Mittfünfziger läutete mit einem Glöcklein und liess sich fotografieren. Eva bemerkte mehrere gedrehte Hälse von Passagieren, die sich wie sie nach dem gelungenen «Fasnachtsgrend» umsahen.
Evas Gedanken kehrten zurück zu Ingeborg Bachmann und deren Erzählung «Der Kommandant». Die Schriftstellerin erzählt in diesem Text von einem Mann, der aus schwerem Schlaf erwacht und sich nicht mehr zurechtfindet. Verängstigt will er Licht machen, aber die Müdigkeit ist zu gross.
S., nennt die Autorin diesen Mann, der im Traum ohne Ausweispapiere auf einer tiefroten, breiten Strasse singend Richtung Grenze ausschreitet und ohne Legitimation zum neuen Kommandanten avanciert. Einem Kommandanten, der vergeblich seine Identität sucht und dabei zu einem herrschsüchtigen Anführer mit demütigen Befehlsempfängern wird, die ihm, dasselbe Liedchen auf den Lippen, munter in der Kolonne folgen.
Vom Wagenausgang her ertönte erneut das Glöcklein. Der Papst war aus dem Papamobil gestiegen und schüttelte seine Glieder. Goldene Plaketten um seinem Hals stiessen aneinander und erzeugten Klänge, die an die Segnung des Opfers vor der Kommunion erinnerten. Von diesem Augenblick an galt Evas ganze Aufmerksamkeit dem faszinierenden Papst. In Luzern, an der Endstation, fotografierte sie den Fasnächtler mit seinem Papamobil beim Aussteigen aus dem Voralpen Express. Mühevoll war sein Gesichtsausdruck dabei.
An der Bushaltestelle fragte sie den Fahrer, ob das der richtige Bus nach «Möischter» sei. Der Ausländer schaute Eva aus dunklen, erloschenen Augen an. Er verstand nicht, was sie wollte. «Beromünster», wiederholte sie auf Hochdeutsch. Er nickte ausdruckslos. Unwillig stellte Eva fest, dass die Namen der Bushaltestellen ihm nichts sagten. Ja, der ganze Rummel dieses Landes vermochte ihn auch am Tag des Urknalls, wie die Luzerner ihren Fasnachtsbeginn nennen, nicht zu berühren.
Sie nahm gleich rechts vom Fahrer hinter der Frontscheibe Platz. Ausgangs Luzerns schweifte ihr Blick aus dem Fenster und blieb an einer alten ovalen Tafel aus gut erhaltenem, lackiertem Nussbaumholz haften, die ein geschichtsträchtiges Haus zierte. Darauf stand die Inschrift «Deo et Pauperibus». Sie vergewisserte sich auf ihrem Handy, ob sie die Inschrift mit «Gott und Armut» richtig übersetzte, las den Eintrag «Pauperismus (von lateinisch pauper «arm») bezeichnet die zunehmende Verarmung der Arbeiterschicht und die Verelendung großer Bevölkerungsteile unmittelbar vor der Industrialisierung». – Sie blickte mitfühlend zum Chauffeur und dachte, der Mann hat andere Sorgen im Kopf als die Fasnacht und Ortsnamen, die ihm nichts bedeuten.
Der Bus fuhr an einer grünen Ampel vorbei und tauchte in den Tunnel ein. Der Lenker fuhr in dem engen Stollen auf der rechten Spur. Eva schaute aus dem Fenster. Angst durchzog sie, weil die Räder des Fahrzeugs haarscharf an der Trottoirkante im dunklen Strassenrand klebten. Zum Glück war das unterirdische Autobahnstück nur kurz: Eva atmete auf.
Der Bus fuhr durch graue Peripherie, an der da und dort farbige Fasnachtswagen standen und diverse Maskenträger – Indianerhäuptlinge und aufgetakelte Blondinnen schienen nie aus der Mode zu kommen – die Strasse kreuzten. Auf der linken Strassenseite fiel ihr der starke Gegenverkehr stadteinwärts auf. Aus einer Seitenstrasse kamen drei breite Militärfahrzeuge. Der Bus hielt nach rechts und holperte über eine Trottoirkante. Der Fahrer hat Angst vor Gegenverkehr, dachte Eva sofort. Sie betrachtete die schweren Hände am Steuer. Die um das Rad geballte Rechte des Lenkers zog wieder nach rechts. Noch zweimal überfuhr der Bus die Fussgängerkante. Erst als sie die städtische Agglomeration Wiesland erreichten, beruhigte sich der Fahrstil. Evas Gedanken tauchten ein in die Zeit des Jugoslawienkriegs. Sie sah den Fahrer im Morgendämmer an Trümmern und toten Menschen vorbei westwärts flüchten. – Fürchtet der Fahrer Gegenverkehr aus vergangenen Tagen? Das könnte gefährlich werden!
Du hängst mittendrin im Zeitrad der Geschichte, dachte sie. Dieses Rad dreht zu schnell, weil sein Treibstoff das Produkt unverdauter Konflikte ist.
Beatrice Häfliger studierte Soziale Arbeit, Philosophie und Soziologie. Modellieren, zeichnen und schreiben prägen seit 1990, ihrem Umzug ins Toggenburg, ihren Künstleralltag. 2019 erschien anhand von Zeichnungen aus der Erinnerung ihr Debütroman «Das Mädchen mit dem Pagenschnitt». Er wurde mit einem Werkbeitrag gefördert und von Ruth Schweikert lektoriert. Aktuell ist sie auf der Suche nach einem neuen Verlag für ihr zweites Buch «Eva blickt zurück», vom Magnetismus des Schicksals.
Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.
Im dunklen Geäst streiten sich Rabenvögel Um das Stück Goldmond
geturtel am caquelon gabelgefecht im käse
Rebekka Salm / markus kirchhofer Salmhofer 1/6
Immer am ersten des Monats ein Tan-Renga auf literaturblatt.ch!
Was ist ein Tan-Renga? Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt. Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort oder ein Bild aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben. Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.
In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband «silbensee» (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.
Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag.
Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband «silbensee» (Knapp Verlag). Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.
«Er glaubt, dass sein vergangenes und sein gegenwärtiges Leben lediglich aus den wenigen Metern zwischen der Einschlagstelle der Granate und dem Baumstamm bestehen. Ein kurzes Leben, ein vollkommenes, ausreichend, um hier zu enden. Und als er spürt, dass diese verbleibenden Meter das komplette, ihm verbliebene Leben darstellen, fragt er sich, was er hier macht. Und gegen wen er kämpft. Und für wen.»
Gastbeitrag von Urs Abt
Die syrische Autorin, die seit 2011 im Exil lebt, hat eine wunderbare poetische, universelle Geschichte mit grosser Tiefe geschrieben. Das Buch ist dieses Jahr auf Deutsch im Unionsverlag erschienen und hat mich an den diesjährigen Weihnachtstagen vor dem Hintergrund der vielen Kriege auf dieser Welt bereichert.
Samar Yazbek «Wo der Wind wohnt», Unionsverlag, 2024, aus dem Arabischen von Larissa Bender, 192 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-293-00608-9
Ein von einem Bombenangriff verletzter junger Soldat liegt auf einem Berg neben einem Baum. Zwischen seinem Leben und Sterben, zwischen Traum und Realität, zwischen Gegenwart und Vergangenheit erleben wir schwebend in Erinnerungsfetzen von Ali wie nebenbei die Schrecken des Assad Regimes nach der Revolution. Der verwundete Körper ist von Schmutz und Laub bedeckt, schmerzhaft und unbeweglich auf der Erde fixiert und in wechselndem Bewusstseinszustand. Wind, Mond, Bäume und die Morgendämmerung bereichern die Szenen.
«Würde der Baum doch zu ihm kommen! Aber Bäume stehen fest, es sind die Menschen, die gehen müssen, um zu ihnen zu gelangen. Aber er kann nicht gehen.»
«Sie wussten, welche Strafe jene erwartete, die sich ihm und seiner Macht entgegenstellten, hier oder in der Hauptstadt. Die Angst war Teil ihres Lebens, eine komplizierte und komplexe Angst, die er nicht verstand. Aber an diesem Tag sollte er sie kennenlernen.»
Aus dem arabischen von Larissa Bender ausgezeichnet übersetzt beeindruckt die poetische, klare und traumartige Sprache, die trotz des traurigen Geschehens Hoffnung zulässt. Die Kraft der Poesie bezwingt die Sprachlosigkeit des Kriegs. Ein unbedingt lesenswertes Buch dieser engagierten syrischen Autorin.
Samar Yazbek, geb. 1970 in Syrien, studierte arabische Literatur, engagiert sich für Bürgerrechte und arbeitet als Fernsehreporterin, Journalistin und Schriftstellerin. 2011 floh sie zusammen mit ihrer Tochter aus Damaskus und lebt seither in Paris. Für ihr Werk erhielt Yazbek mehrere Auszeichnungen, darunter den PEN Pinter Preis, den Tucholsky Preis, den PEN Oxfam Novib Preis und den Prix du Meilleur Livre Étranger. Ihre Romane waren außerdem nominiert für den Prix Médicis, den Prix Femina und den National Book Award 2021.
Larissa Bender (1958) studierte Islamwissenschaft, Ethnologie, Kunstgeschichte und Soziologie in Köln und Berlin sowie Arabisch in Damaskus. Sie ist Literaturübersetzerin, Journalistin und Dozentin für Arabisch und hat zwei Anthologien über Syrien herausgebracht. Bender ist Moderatorin und berät Verlage und Kulturveranstalter. Zu den von ihr übersetzten Autor:innen gehören Abdalrachman Munif, Mustafa Khalifa, Dima Wannous und Khaled Khalifa. 2018 erhielt sie für ihr Engagement als Brückenbauerin in die arabische Welt das Bundesverdienstkreuz.
Deine Eltern können nicht kommen,» sagte Schwester Hilde, „aber ich soll dir sagen: sie haben dich ganz toll lieb!» Sie schaute auf ihre Arbeit, während sie das zweite Bett des Krankenzimmers neu bezog. Sein Zimmernachbar war seit gestern zuhause bei seinen Eltern. «Sie haben dir das Christkindl geschickt, das hat dir viele schöne Geschenke mitgebracht!“ Luca schüttelte den Kopf. „Ich will die dämlichen Geschenke nicht!“, brach es aus ihm heraus. Und dann heftiger: „Meine Eltern wollen eh nichts von mir wissen!“ Es wurde ihm heiß, sein Bein quälte ihn so sehr, dass er sich auf dem Bett hin und her rollen musste. Sein Gesicht glühte, das Metall im Körper riss und brannte. „Mir doch egal!“ Schwester Hilde sollte nicht bemerken, dass er laut aufschreien wollte. „Den Weihnachtsmann, den kenne ich! Aber Christkindl, was soll das den sein?“ Als sich nun Schwester Hilde Luca zuwandte, schaute er an ihr vorbei, absichtlich. Ihr Arm, gerade noch auf den Weg zu ihm, hing wie ein Stück Pappe lose an ihrer Schulter. „Leg dich lieber doch auf den Rücken!“, sagte sie tonlos. In Ruhe lassen sollte sie ihn!
Ein Jahr war es her, dass der Nikolaus sich vor einem in Gold getauchten Thron in Position warf. Ein dunkelroter Mantel umhüllte ihn und betonte seine große, imposante Gestalt. Er trug eine Kopfbedeckung, die wie ein robuster Pappkarton auf seinem Kopf festsaß. Mit seiner einen Hand umklammerte er einen Gehstock, der am Griff zu einer Spirale auslief. Ab und zu stieß er den Stab lässig auf den Holzfußboden. Ein „Hört, hört!“ begleitete dieses Stampfen, das in der Aula einen Widerhall fand. Mit seiner anderen Hand winkte er über große Distanzen einigen Elternpaaren zu, die prompt lachend seinen Gruß erwiderten. Seine Lesebrille hing weit vorne dem Nasenhöcker, sie wollte nicht von seiner Nase rutschen. Vor ihm, auf einem dreibeinigen Tischchen lag das in schwarzem Leder umhüllte Buch, dass seit Generationen Kindern Albträume verhieß. Alle ihre Sünden des letzten Jahres wären dort fein säuberlich notiert, so hieß es.
Die letzten Familien hatten eilig noch Platz genommen, Lucas Füße pendelten während der Begrüßungsrede des Bürgermeisters hin und her, fast schien es, als wolle er wegrennen. Erst als seine Mutter nach seinen Oberschenkel griff, stoppte er die Bewegung.
Dann endlich begann der Nikolaus die verpackten Geschenke unter den aufgerufenen Kindern zu verteilen. Er tat das natürlich nicht, ohne zuvor im „Sündenbuch“ zu blättern. Nachdrücklich belehrte er die Kinder. Erst dann durften sie abtreten.
So reihte sich Kind an Kind. Auch wenn der Nikolaus wirklich schlimme Taten in diesem Buch fand und sie mit vorwurfsvoller Stimme vortrug, gab es doch kein Kind, das ohne Geschenke die Bühne herabstieg. So mussten zwei Brüder mit heißen Ohren hören, dass sie viel Geld aus dem Portemonnaie ihrer Tante geklaut hätten. Sie wurden fast unsichtbar, so tief sanken ihre Köpfe zwischen den Schulterblättern, und doch bekamen sie beide einen neuen Rucksack voller von weiteren Geschenken. Und ein Mädchen mit einem geflochtenen langem Zopf verließ die Bühne, auf der sie ihre Mutter zuvor geschubst hatte, nur mit einer kleinen Schachtel. Dabei war ihr einzige Sünde, dass sie morgens immer noch so müde war und deshalb manchmal den Schulbuss verpasste.
Als Luca nun endlich auf die Bühne stieg, fröstelte es ihn. Vielleicht würde doch noch rauskommen, dass es seine Idee war, die gehbehinderte Kunstlehrerin „Hinkebein“ zu nennen; waren die Kinder unter sich, wurde sie nur noch so genannt.
Oben auf der Bühne griff der Nikolaus seine Schultern und drehte ihn zum Saal. Luca senkte den Kopf und erblickte die Füße des Nikolaus. Der trug alte, ausgelatschte Straßenschuhe. An den Knöcheln sah man die ausgefransten Enden seiner Jeans. „Du bist also Luca! Wollen wir doch mal sehen, was das Buch über dich erzählt!“ Wie von ferne hörte er den Nikolaus sprechen. Er hätte wohl genascht und sich mit seinem Freund Alex gestritten, sagte der gerade. Er lobte ihn sogar, er wäre so hilfsbereit zu der alleinstehenden Nachbarin gewesen und hätte ihr täglich Kohlen aus dem Keller geholt. Luca atmete tief ein und bemerkte, dass der Nikolaus beim Sprechen ein wenig spuckte und es kleine Tropfen auf den Boden regnete; und er roch nassen Zigarettenrauch. Der Nikolaus reichte ihm seine Geschenke. Die Ski, die er sich so gewünscht hatte, waren nicht dabei. Er trug die Geschenke, als wären sie eine Last, und mühte sich zu seinem Platz! „Der Nikolaus trägt Jeans!“ flüsterte er leise seiner Mutter zu. Sie hörte ihn nicht und strahlte ihn an.
Und jetzt erzählen mir alle vom Christkindl! «Ich bin doch nicht blöd!», entfuhr es Luca,„die lügen doch!“ Er musste so schimpfen, um nicht an seinen Gedanken zu ersticken. Im Fernsehen lief ein alter Film, er bemerkte es gar nicht. Schwester Hilde saß im Schwesternzimmer und bereitete die Medikamentenausgabe vor. Luca pustete die Luft gegen seine Lippen, dass sie brummten, als liefe er auf Schienen. Mit der Eisenbahn war er er schon unterwegs zu Oma.
Als er das Glöckchen auf dem Flur klingen hörte, warf er seine Turnschuhe und seine Zahnbürste in seinen Rucksack. Er klemmte sich beide Krücken unter einen Arm, dass er schneller vorankam und hüpfte auf seinem gesunden Bein, so schnell er konnte, in den leeren Flur und dann um die nächste Ecke. Von dort schaute er aus dem Schatten auf den Flur. Es dauerte nicht lange. Erst stellte sich ein dunkelgekleideter Mann vor die Tür des benachbarten Zimmers und zog sich eine Kapuze über den Kopf. Ob das Knecht Ruprecht war? Kurze Zeit später kam eine Frau in einem weißen, bestickten Kleid zu dieser Figur gestürmt. Ihre langen, goldenen Haare glänzten in Flurlicht, ihr Gesicht und ihre Hände waren tiefbraun. Sie zupfte ihre Kleidung zurecht und schob ihre Haare zurecht. Die beiden nickten sich zu und der Mann bollerte an die Tür. Und das soll das Christkind sein? Luca zog die Luft ein, das war ja gar kein Kind! Alles Lüge!
Die Suche nach Luca und dauerte jetzt schon zwei Stunden. Er konnte ja mit seinem gebrochenen Becken und den Metallplatten an Unterschenkel nicht weit gekommen sein, so dachte man. Aber als er auch nach 1 ½Stunden nicht aufzufinden war, informierte der diensthabende Oberarzt die Polizei. Sie wollte gleich kommen und einen Spürhund mitbringen.
Luca lag dieweil die ganze Zeit in einem der fahrbaren Wäscheschränke. Um die Weihnachtstage herrschte in der Wäscherei nur ein Notbetrieb, die Wäsche wurde nur allezwei Tage abgeholt. Hier türmten sich jetzt zerknüllte, schmutzige Laken und Bettbezüge. Ganz nach hinten war er gekrochen. Zweimal wurde die Tür geöffnet, er hielt die Luft an. Doch keiner suchte den Wagen gründlich ab. Wer würde sich schon unter dreckiger Wäsche verstecken? Irgendwann hörten die Geräusche und die Rufe auf. Lucas Wangen glühten, das Schlucken schmerzte. Zuerst waren die Handtücher ja noch weich und warm. Doch dann wurde ihm zunehmend kalt. Und der Hunger nagte. Den Schokoriegel hatte er schon längst aufgegessen. Es wurde Zeit weiter zu ziehen. Er drückte die Tür des Wäscheschranks auf und schaute sich um. In den Keller wollte er, da war bestimmt keiner, der ihn dort jetzt noch suchte. Auf der Rückseite des Krankenhauses befand sich ja das große Garagentor. Von da wollte er zum Bahnhof laufen. Vielleicht konnte er auch, etwas zu essen, abstauben. Und dann würde er zu Oma fahren. Erst im Treppenhaus bemerkte er, dass er eine Krücke im Schrank vergessen hatte. Die Kellertreppen waren steil, die Gänge nur noch schwach beleuchtet und eng. Keiner kam ihm entgegen, keiner arbeitete mehr noch in den Kellergängen des Krankenhauses. „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord!“ Ganz leise sang er das Lied; es half ihm, mutig zu sein. Irgendwie, so tröstete er sich, wird der Gang zum Garagentor führen. Sein Bein tuckerte unentwegt, der Kopf wurde immer schwerer, die Hände branntenEs kostet ihm viel Kraft, auf einem Bein vorwärts zu hüpfen oder das andere nachzuziehen. Zwei, dreimal versuchte er die Türen im Gang zu öffnen, um sich zu verstecken und auszuruhen. Sie waren verschlossen. Die Strecken, die er hinter sich brachte, bevor er eine Pause einlegen musste, wurden immer kürzer. Die Pausen immer länger. Irgendwann musste doch mal der Ausgang kommen. Er fror und schwitzte zur gleichen Zeit. Das Schlucken schmerzte. Nur ein wenig ausruhen und sich auf den Boden ablegen, dachte er, nur mal ganz kurz sitzen. Dann wäre er wieder frischer. Halb rutschte er und halb stürzte er auf den Kellerboden. Kalt, dunkel und unheimlich war es. Liefen dahinten nicht zwei Ratten über den Gang. Und dann hörte Luca ein Bellen, schnell griff er nach seiner Krücke, seiner Waffe;sie sollte ihn vor gefräßigen Tieren schützen. Er war allein! Und auf ihn warteten die Wölfe! „Sollen sie doch nur kommen!“ Und schon zog er sich weiter bis zur nächsten Ecke! Bis dahin wollte er es schaffen. Seinen Rucksack, den hatte er liegengelassen.
Auf einmal: ein kühler Luftzug, der ihm entgegenwehte. Noch ein kleines Stück und der Gang weitete sich, es wurde heller und ganz von ferne hörte er den Straßenlärm. Und mutig schaute er um die Ecke. Tatsächlich, dort war der Ausgang nach draußen, das Tor hoch gezogen und dann sah er sie. Sie saß ganz in Weiß auf einem großen Metallkasten nahe der offenen Tür, die in die Nacht führte. Die goldene Perücke lag neben ihr und sie rauchte. Sie hatte ihn sofort bemerkt, blieb aber sitzen und lächelte ihn zu. Auch Luca lächelte trotz seiner Erschöpfung; sie kam ihm so vertraut vor. Und er wagte sich näher. Sie rückte ein wenig, um ihm Platz zu machen. Er blieb vor ihr stehen, sein Atem wollte nicht ruhiger werden: schön war sie, schwarze Haare, braune Haut, viele Falten um die Augen. Sie sah aus wie ein Engel nach der Arbeit.
«Bist du nicht das Christkind?» fragte Luca. «Ja!» sagte sie, verschluckte sich am Zigarettenrauch und musste husten. «Und ich bin der Weihnachtsmann!» Jetzt prusteten beide und lachten laut auf. «Kann ich mal ziehen?» fragte er weiter und ließ sich neben sie fallen. «Nein!» sagte sie und drückte die Zigarette aus. Jetzt sah er es, sie hatte einen schönendunkelbraunen Teint, aber sie hatte auch viel mehr Falten als seine Oma. Sie war nicht mehr jung. «Du erzählst niemanden, dass ich hier rauche?» Er schüttelte den Kopf, nie würde er das tun. «Manchmal brauche ich eine Auszeit!», seufzte sie. Dann sah sie Luca an. Sie legte ihren Arm um seine Schulter; die Arme seiner Mutter fühlten sich viel schwerer an. «Du bist tatsächlich abgehauen!» stellte sie kopfschüttelnd fest und als sie über seine Stirn strich, weinte er. Er wusste nicht, dass Tränen so warm sein konnten. Sie nahm seine Hände, hielt sie für eine Weile fest und half ihm dann auf. „Ich bring dich nach oben!“ Luca wehrte sich nicht „Bist du ein Engel?“, fragte er.
Als er endlich in seinem Zimmer lag, schlief Luca sofort ein. Früh am nächsten Morgen musste Schwester Hilde Fieber messen, Luca wurde wach. Auf seinem Nachtschränkchen stapelten sich einige verpackte Geschenke. Die Sonne schien in sein Gesicht. Er erinnert sich an ihren braunen Teint mit den vielen Fältchen, an ihre Perücke und an den Zigarettenrauch. Und auf einmal wusste er, warum ihm ihr Gesicht so vertraut war. Als er nach dem Unfall wieder die Augen öffnen konnte – sein Kopf brummte im Schmerz – da war sie es, die sich über ihn beugte. «Es ist alles gut», hatte sie ihm gesagt und ihn angestrahlt. Ihre dunklen Haare berührten seine Wangen und sie waren ganz weich wie Katzenhaare. Sein Kopf fühlte sich so kühl an. Er lächelteund schlief unter all den Geschenken ein.
Es war schon abends, als Luca endlich aufwachte. «Wer war die Frau, die mich in der Nacht hochgebracht hat?» fragte er, noch nicht ganz wach, Schwester Hilde, «ich mag sie!» «Ach, das war Marga, sie ist ein wahrer Engel, ein Schatz!“, sie hob den Kopf. „Es gibt nur noch wenige von ihrer Art!» Luca nickte,„Engel müssen manchmal ganz schön müde sein!“ „Ja“, sagte Schwester Hilde und sah ihn lange an. Warum hatte Schwester Hilde Tränen in den Augen?
Horst-Werner Klöckner, 1952, hat Philosophie und Deutsch studiert, arbeitete als Pfleger, Physiotherapeut und Osteopath, war Lehrer für Physiotherapie und für Osteopathie unterwegs, als Osteopath immer noch beschäftigt. 2011 Erzählung „Alles ist gut!“ vom Literaturhaus Zürich als beste Geschichte zum Thema „Familie“ im August 2012 prämiert. „Blurb“, aus dem Lesebuch „Autorenträume“: Petra Hartmann & Monika Fuchs (Hg.).
Scheinheilig 1 – 7 sind ausgewählte Weihnachtsgeschichten, prämiert mit einer Zeichnung der Künstlerin Lea Le.