Yves Raeber zur Übersetzung von «Terres déclives» (deutsch: «Schieflage») von Thierry Raboud

Ich begann so, wie ich es bei meinen Prosaübersetzungen zu tun pflege, und hackte meine ersten Versuche in den Computer, löschte und überschrieb alles, wieder und wieder, verlor mich in meinen unzähligen Varianten. Und wurde stutzig. Etwas stimmte nicht. Terres déclives ist keine Prosa! Und es war meine erste Lyrikübersetzung.

«und alles finge von vorne an» 

Ich musste anders arbeiten und griff zum Kugelschreiber, kritzelte wild drauflos, füllte dutzende Heftseiten – ein bisschen so, als wäre ich selbst der Poet. Das fühlte sich zwar im ersten Moment besser an, doch das Ergebnis blieb meist Makulatur. Nachsichtig entzifferte ich meine Hieroglyphen, schaute grosszügig über gedankliche Schludrigkeiten hinweg, begnügte mich mit ein paar wenigen Zufallstreffern und kam wieder nicht weiter. Ich wurde erneut zum digitalen Worthandwerker, setzte mich vor den Bildschirm und arbeitete mich Silbe um Silbe, Wort um Wort, Zeile um Zeile vor. Doch wenn ich nach einer Pause wieder auf den Bildschirm starrte, erschrak ich: Wie schwerfällig und verschwurbelt meine deutsche Übersetzung doch war, kein Vergleich mit dem elegant dahinfliessenden, dabei komplexen Original. Ich musste genauer arbeiten! Noch besser erfassen, noch präziser begreifen, was das Gedicht wirklich erzählt. Ich fuhr zu Thierry Raboud, und wir arbeiteten das Original von Anfang bis Ende durch. Oft blieben wir an einer Stelle hängen, kamen nicht weiter, verloren uns im Dschungel der Assoziationen. 

parmi les collections
estampes pressées par le temps
lavis pâles sous la paume 
de notre oubli

bei den sammlungen
vom lauf der zeit 
plattgewalzter drucke 
unter der hand des vergessens 
vergilbter tusche 

Meinte Raboud mit «par le temps» entweder im Lauf der Zeit oder eher vom Lauf der Zeit, oder vielleicht beides oder noch etwas anderes? Wie konnte ich ihm auf Französisch den Unterschied zwischen den deutschen Präpositionen im und vom oder der in diesem Kontext schwerfälligen Variante durch erklären? Raboud hatte auf die meisten Fragen eine Antwort, und selbstverständlich wusste er, warum er ein Bild, eine Metapher, eine Assoziation, eine Assonanz, einen Zeilensprung, einen Reim gewählt oder was ihn dazu inspiriert hatte. Aber nicht immer. Manchmal war etwas einfach «entstanden». Bei den Dichtern ist das so. Wieder an meinem Schreibtisch stellte ich fest, dass seine Erläuterungen mir die Arbeit nicht nur erleichterten, sondern stellenweise auch erschwerten. Ich verstand zwar genauer, was in der einen oder anderen Zeile mitschwang, war aber noch immer von einem befriedigenden Resultat meilenweit entfernt. Verklumpt, verschwurbelt, verkopft erschien mir meine Übersetzung, die Lektüre würde abschrecken.

Also fing ich wieder von vorn an, und ich fand immer besser in die Spur. Mit Geduld – und, wie könnte es anders sein, ein bisschen Demut. 

je contourne les statues penchées
dont les visages s’effarent
et dévisagent sans plus de fierté
le vide des sentiers 
qui derrière les portes du musée 
s’ouvre 

ich meide die unsteten statuen
ihren kleinmütigen blick
aus blutleeren augen
auf die weglose ödnis 
hinter dem klaffenden
museumstor. 

Thierry Raboud «Schieflage», die Brotsuppe, aus dem Französischen von Yves Raeber, 2025, 72 Seiten, CHF ca. 26.00, ISBN 978-3-03867-105-3

Aber nicht immer nahm das Gedicht meine Übersetzungsvorschläge widerstandslos an. Es entwickelte ein eigenes Selbstbewusstsein und verbat sich, wenn es ihm gegen den Strich ging, etwas in sich aufzunehmen, was ich mir ausgedacht und doch so gut «gepasst» hätte. Ich musste, stellte ich fest, nicht nur in Rabouds Originaltext hineinhorchen, sondern auch auf die Übersetzung hören, mit ihr in Dialog treten und, wenn es hart auf hart käme, ihr ein Zugeständnis abringen. Gebundene Sprache lässt sich nicht auf jede Bindung ein.

Immer klarer wurde mir auch, dass die «Beziehung», die ich mit Terres déclives einging, anders geartet war, als ich es von einer Prosaübersetzung her kenne: Lasse ich mich bei der Arbeit an einem Roman gerne von der Handlung, der Thematik, von einem Schicksal oder der Stimmung eines Texts berühren, so war es hier das Wort, das mich leitete, mir Räume öffnete oder verschloss, die Wucht der Wörter, die in mir Frohlocken oder Verzweiflung auslösten. 

Nicht immer konnte ich die Komplexität eines Sprachbilds übertragen: 

les tableaux seuls
ont gardé leur aplomb
leur horizon en droit-fil
cisaille le ciel et la terre
de rectitude insolente
alors que
tout penche 

nur die bilder
bleiben im lot
dreister schnitt
zwischen himmel und erde
ein rechthaberischer horizont
wo doch
alles wankt.

«en droit-fil» ist ein Begriff aus dem Textilwesen und bezeichnet den Schnitt quer durch den vertikalen Fadenlauf eines Stoffs. «cisailler» heisst zerschneiden, durchtrennen. Raboud beschreibt damit den Schnitt oder Riss zwischen Himmel und Erde. Im Deutschen ist das in knappen Silben nicht zu übersetzen. Ich entschied mich deshalb für «dreister schnitt/zwischen himmel und erde», was sich zwar vom Original entfernt, aber dafür den aggressiven Charakter der französischen Zeile wiedergibt. Im Netz fand ich dazu ein Zitat aus einem diplomatischen Gespräch, in dem der Ausdruck im Sinne von «korrekt, aber rücksichtslos» verwendet wurde, was zu meiner Entscheidung beitrug.

Manchmal erschwerte ich mir die Arbeit auch unnötigerweise. Für «éclairs pâteux» hatte ich lange pastose Erleuchtung stehen, ein schwerfälliger, sich aus der Polysemie des Originals erklärender Neologismus: Bei Raboud stehen die «éclairs» sowohl für Blitze auf einem Ölgemälde wie auch, leicht ironisch, für geistige Erleuchtung. Das Adjektiv «pâteux» bedeutet teigig, dickflüssig, träge; «avoir la langue pâteuse» bezeichnet eine nach übermässigem Alkoholkonsum schwere Zunge. Irgendwann war ich bei gelallten Züngeleien, und damit völlig im Abseits. Als ich mich kurz vor der Textabgabe für das Einfachste und Naheliegendste, für die wörtliche Übersetzung pastose Blitze zurückentschied, atmete auch der Verleger auf. 

Ein Jahr später erschien das Buch, und ich erinnerte mich an die Titelsuche. Schieflage war mir früh eingefallen, doch ich fand es zu journalistisch, eine Überschrift allenfalls für eine Zeitungskolumne. Ich versuchte es mit Erde, mit Plan, Terrain oder Ebene. Auch Hanglage kam nicht infrage, falsches Bild und anderweitig besetzt. Abschüssiges war mundartlich konnotiert, und als auch der Verleger nicht weiterkam, holte ich die Schieflage wieder aus der Versenkung und wusste gleich: Der Titel passt. Er leistet genau das, was ich brauche, er löst das Gedicht aus der «hohen leiste der letzten zuflucht» und verlagert es in eine schnörkellose Sachlichkeit. 

«et tout recommencerait»

Thierry Raboud, 1987 in Martigny geboren, gehört zur Nachwuchsgeneration der Lyriker in der Westschweiz. Seine erste Gedichtsammlung, «Crever l’écran» (Ed. Empreintes), wurde mit dem Prix Pierrette Micheloud gewürdigt. Als Literaturkritiker und Musiker ist er auch im Bereich Performance und Installation tätig. Im Jahr 2023 war er Preisträger eines Kulturstipendiums der Fondation Leenaards. Seine Gedichte wurden auch ins Italienische übersetzt (Ed. Valigie Rosse).

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und literarischer Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. Für die Übersetzung von «Die Panzerung» («Béton Armé») von Philippe Rahmy wurde ihm 2019 von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung verliehen.

Rezension von Daniel Graf in der Republik

Sofie Morin und Ulrike Titelbach «Nachtschatten im Frauenhaarmoos», Edition Melos

Sie haben mich eingerankt und ein bisschen eingewildert auch, die beiden österreichischen Lyrikerinnen Sofie Morin und Ulrike Titelbach mit ihrem im März 2025 in der Edition Melos (Wien) erschienen «Nachtschatten im Frauenhaarmoos».

Gastbeitrag von Christine Zureich

Als Phytopoetische Dialoge werden die aufeinander bezogenen Texte im Untertitel angekündigt und schon das Cover mit dem Gemälde «Flora» von Bartolomeo Veneto deutet auf eine mögliche weitere passende Wortneuschöpfung mit vegetabilem Präfix hin: Phytoerotik. Neben dem vermeintlich unschuldigen Blumensträusschen geht es in dem Band um Körper, um Geschlecht, um «Artigkeit»: Wer ist hier die Pflanze, frage man sich beim Lesen an mancher Stelle? Und vielleicht ist das Fragezeichen ein eingerolltes Farnblatt: 

«Nur diesen einen Augenblick entfernt vom Ausbreiten der Arme. Doch noch ist alles Ornament.» Tracheophyta/Farn

Pflanzen (und Tiere) haben in den vergangenen Jahren einen guten Boden gefunden, sich auszuwildern aus der Fachliteratur und Rosamunde Pilcher hinein in die Literatur und Lyrik, so etwa auch Morins Lyrikdebüt «Liebeleien mit Wuchsformen, eine translibidinöse Pflanzenkunde» (2024 bei Edition Arthof). Das Besondere am vorliegenden Band ist, dass er von Anfang an in Zusammenarbeit entstanden ist, jeder Text von vornherein bezugnehmend auf einen anderen, auf die zweite Autorin. Hier bereitet die eine Schreibende den Boden für die andere, nährt sie, gibt Rankhilfe. Stutzt vielleicht an mancher Stelle. Nein, diese Sprache ist zu gärtnerisch, zu hierarchisch: die Texte existieren in einer Symbiose, die eine Autorin macht die Texte der anderen möglich. 

Jedes der 28 Gedichte ist eine Pflanze. Botanischer Name und gebräuchlicher deutscher Name als Titel vorangestellt und danach das Zusammen (mehrständig) der beiden Schreibenden. Die Autorinnenschaft der einzelnen Teilabschnitte einer Pflanze ist je mit dem hintenan gestellten Vornamen dezent markiert.

Verbunden sind die Abschnitte jeweils nicht nur über den gemeinsamen Gegenstand, auch die explizit in Dialog tretenden Lyrischen Ichs und Dus weben den Zusammenhalt. Wobei dieses Du in einigen Fällen nicht die andere meint, sondern die Pflanze selbst angerufen wird, was die Pflanzen menscheln lässt und umgekehrt, der anwesenden Anderen (auch der/dem Lesenden) etwas Pflanzliches zukommen lässt, und es zuweilen keine Dialoge sondern mindestens Trialoge sind, die sich da verwurzeln. Auch ist das «Ich» kein konsistentes, mal scheint es ein zeitgenössisches, durch popkulturelle, musikalische Referenzen nahelgelegt, etwa wenn in Chenopodium bonus-henricus/Guter Heinrich auf Depeched Mode verwiesen wird (Master and Slave, natürlich: Heinrich, der Wagen bricht…), oder Bob Dylan (Löwenzahn). Dann wieder scheint es ein in Kriegszeiten darbendes (Cichorim intybus/Wegwarte). Echte Wechselbälger, sind diese Ichs und Dus, wie das Zweiblättrige Schattenblümchen (Maianthemum bifolium) S. 52: 

«ein Wechselbalg, ist den Farben untreu, das wohl – doch niemals der Erde, die alles Wachstum trägt.»

Sofie Morin, Ulrike Titelbach  «Nachtschatten im Frauenhaarmoos. Phytopoetische Dialoge», Edition Melos, 96 Seiten, CHF ca. 42.00, ISBN 978-3-9505758-0-4

Ein wenig erinnert diese Sammlung an die Blumenkunden früherer Zeiten, in denen jeder Pflanze eine eigene Botschaft zugesprochen wurde, eine weithin verstandene Bedeutung (nicht nur in der Kunstwissenschaft auch in der breiten Bevölkerung: Sag es durch die Blume…). Heute kaum vorstellbar, dass es Zeiten gab, in der alle erstens die Pflanzen und zweitens ihre Bedeutung wiedererkannten. Einen Strauss lesen, den sie bekamen, Schlüsselblümchen entschlüsseln, nicht nur rote Rosen.

Im Garten (oder besser: der ankultivierten Wildnis) den Morin und Titelbach für uns anlegen, breiten sich rhizomatisch neben Kinderpflanzen, also solchen «die mir von der Wiege ans Herz gelegt» (Vergissmeinnicht), Gänseblümchen, Löwenzahn, auch solche aus, für die mir das Bild fehlt, die ich nicht sogleich erkenne, und ich ertappe mich dabei googlen und mehr wissen zu wollen, auch vielleicht um den beiden Autorinnen auf die Schliche zu kommen. Es ist ein neckendes Spiel: wieviel der Geschichten, der Bedeutungen, der Kontexte und Zuschreibungen ist erfunden?

«Es ist alles nicht wahr und traut sich doch keine Lüge zu.» (14)

Und es ist gut, sind keine Bilder dabei, denn die hier erschriebenen Exemplare ihrer Art entfalten ein ausgeprägtes Eigenleben, nicht unbedingt klar ist, ob es sich noch um Pflanzen handelt, oder Figuren, anthropomorphes Gedichtpersonal und wo verläuft überhaupt die Grenze? Und braucht es diese Grenze überhaupt? Viele der Texte greifen die Nonbinarität der Pflanzen auf und ich meine auch ein Infragestellen der Artengrenzen zu lesen, eine umfassende Queerness vielleicht, die bei vielen Texten mitschwingt, ein Widerwille, alles einzukasteln. 

«Möchte das Fürwort wählen und auch finden, das jetzt und heute für sie spricht. Doch ist es steter Wandlung unterworfen.» (Arisaema franchetianum/Feuerkolben)

Und so gesellt sich neben botanisch präziser Sprache – Morin ist studierte Biologin – ornamental Poetisches, das sich gegen die Taxonomie auflehnt, die Schubladen gerade so wieder aufbricht.

Viel Analogiezauber ist drin in diesen Texten, der zwischen äusserlich ähnlichen Dingen eine Verbindung behauptet, wenn das Rot der Pflanzen für Blut steht und Pflanzenteile menschliche Geschlechtsteile suggerieren. Ein making kin (Donna Haraway) ist das auch. Sich vertraut machen, in Austausch gehen, das andere werden, eine Symbiose von Lebewesen unterschiedlichster Arten. Vielleicht sogar ein bisschen plant porn (könnte das ein neues Genre sein? Und das griffe hier doch viel zu kurz, obwohl ein bisschen davon in einer campy Spielart anklingt.) 

«Nachtschatten im Frauenhaarmoos» jedenfalls entfaltet ein Gegenprogramm zum othering, diesem Entmenschlichen, dem Entwesentlichen eines Gegenübers, um es mit Gewalt sich untertan machen zu können. Stattdessen höre ich den poetischen Aufruf, alles Wachsende und Seiende samt unterirdischer, gefährlicher Teile zu umschliessen. Das Veränderliche, den Wandel. Dass ständig alles anders ist. Nicht leicht zu klassifizieren und in Umkehr zum landläufig Gedachten. Wie auch in diesem Zitat, mit dem ich hier abschliessen möchte. Eine Pflanze ist nicht immer immobil im Gegensatz zum Menschen:

«Morgen wirst du dir die Flughaut deiner Ahnen wachsen lassen und ich bleibe staunend zurück mit geerdeten Sohlen.» (Astrantia maxima/Sterndolde)

Sofie Morin, geboren 1972 in Wien, lebt bei Heidelberg. Studienabschlüsse in tierischer Verhaltensforschung und menschlicher Philosophie an der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzprosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. 2022 drei Arbeitsstipendien für Literatur der österreichischen Bundesregierung.

Ulrike Titelbach, geboren 1971, lebt, forscht und arbeitet in Wien. Sie ist Autorin, Herausgeberin sowie promovierte Germanistin und lehrt am Institut für Deutsche Philologie der Universität Wien (unter anderem Literatur und Kreatives Schreiben). 2021 erschien ihr erster Lyrikband »Fragile Umarmungen«. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie verschiedene Preise und Stipendien, unter anderem 2023 das Arbeitsstipendium für Literatur der Stadt Wien sowie den Publikumspreis beim Feldkircher Lyrikpreis.

Volkmar Mühleis «Die Augenweide», Plattform Gegenzauber

Naumburg

Aus dem Stadtpark klingt leise Reggae-Musik
verhaltenes Lebenszeichen
in dämmriger Stille

wer wollte hier schlafende Hunde wecken
sie scheinen alle begraben

versprengte Passanten schleichen durch die Gassen,
in einer Kampfsportschule beginnt der Unterricht,
morgen ist wieder Theater,
dann geht es nahtlos weiter
über Kopfsteinpflaster im Tänzelschritt
Arm in Arm

Nietzsche erhebt sich von seinem Denkmal
spricht mit Blei im Mund
vom dionysischen Glück

dreht die Musik auf!
würde er rufen, 
mit an der Pfeife ziehen
und den Mond anheulen

wollt ihr denn alle begraben sein?
und aus den Fenstern schauten die Neugierigen,
ein Jurist des Gerichts stürmte herbei
den morgigen Tag schon jetzt zu vergessen

sich selbst nicht mehr fremd sein,
ob unter Gestrandeten im Park
oder vor Ort Versandeten –

In deinen tränenfeuchten
Augen ruht ein Blick,
der schmerzlich, herzlich
dir und mir verwehte Leiden,
verlorne Stunden und zerronnen Glück
zurückrief beiden. –

 

Tiergarten

Sie alle bleiben vor der Magnolie stehen
sie ist die einzige Attraktion
zwischen Pariser und Potsdamer Platz,
Schloss Bellevue und Schöneberg

im Halbrund der hohen Eichen
blüht sie zum Ostergruß
dem japanischen Paar wie
einer Gruppe dänischer Radfahrer,
die hier posieren
für ihr Souvenir
und sie bedanken sich bei mir
für das Bild

von der Luiseninsel
klägliches Hundegewinsel
eine schrille Stimme keifert und schreit

ich schaue in mein Buch
lese den Stummfilm
aus schwarz-weißen Zeichen
ein stiller Souffleur vor dem Halbmond der Eichen
ins eigene Spiel vertieft

ein Specht hämmert zur Pause
mitten im ersten Akt,
ein Rapper seines Fachs:
drei schnabelschnelle Schläge
BAUM BEAT BOX
       unermüdlicher Rave
unter freiem Himmel

hunderte rosaweißlicher Blütenkelche
applaudieren im Licht, leuchten auf 
im milde lächelnden Wind

der Souffleur verlässt die Bühne
drei englische Damen suchen nach dem Weg,
im Trippelschritt nie stehender Jogger

eine gescheckte Elsterkrähe
trippelt in ihre Nähe
doch nichts fällt für sie ab
der Nächste kommt und bleibt vor der Magnolie stehen

wie ein Baum, der das Zittern nicht kennt
denkt er sich
Wurzeln, eine Aufenthaltsgenehmigung
unter der Erde,
Vorfahren, die einem das Leben schenken –
nicht weiter denken

auf der Krim sind Freunde von ihm stationiert
die Verteidigung seiner Doktorarbeit steht kurz bevor
und dann geht es zurück in die Heimat, in ihren
neuen
      unausweichlichen                          
                              Grenzen

 

Die Augenweide
nannte sie ihr Geschäft
eine Mischung aus Café
und Buchhandlung

wir kannten uns beim Namen
sie verkleinerte ihren Laden
blieb in Bücher gekleidet,
eine stille Augenweide

der letzte Lehrling
wurde ihr Nachfolger,
ließ das Schaufenster aufblühen,
die Wände streichen

sie selbst zog sich zurück,
verschenkte ihre Bücher

heute ist sie mir auf der Straße begegnet
und erkannte mich nicht


wie in der Verpuppung erstarrt,
spannte sich ihr Anorak zur Hülle,
hielt sie die Plastiktüte fest

ich lief nicht hinter ihr her,
blieb in der Vergangenheit
und sah ihrer Gegenwart nach,
mit unsicherem Schritt
über die Gleise

 

Straßenfest

Der Baum schmiegt sich ans Haus
                      die Wärme seiner Steine
                                     Blütenäste greifen aus
              durch die gespannte Leine
                                     quer über den Asphalt
                                           flattern bunte Tücher
                       zwischen den Ballons

    ein Kind hält das andere fest,
                                        sie drehen sich im Kreis,
                                              kreiselkreideweiß

 
                  während die anderen hüpfen
                    drei vor und zwei zurück,
                       mit oder ohne Gummi
                        ein Tanztheaterstück

      „Jetzt bist du dran!“
            zeigt ein Mädchen auf mich
                   und alle lachen –
                         auch ich

 

Februarmorgen am Rhein

Schillernde Schieferschatten,
fließende Furchen

vom Grau des abziehenden Regens getränkt,
wälzen sich unter der Last der Kähne
Stromschnellen und -wellen
durch die Tiefe des Tals

Ausläufer der Schmelze in den Bergen
von Schnee und Gletschereis
ausblutende Wunden
immer schärferen Lichts

wie es von neuem durch die Wolken bricht
blendend grell den Blick verengt,
über den Flussteppich tanzt
in Silberschleifen

als wären die Schiffe
  ohne Schwere und Kraft,
       nur behäbige Masse
              unbändiger Energie,
                      Luftspiegelungen
                          im Funkenschlag –

               die Augen schließen
                  vor dieser Wirklichkeit

                in sich
                  vor Anker gehen

 

Interview zum Gedichtband

Volkmar Mühleis, geboren 1972 in Berchtesgaden, lebt und arbeitet in Brüssel, wo er an der Kunsthochschule LUCA School of Arts Philosophie und Ästhetik unterrichtet. Zu seinen literarischen Buchveröffentlichungen gehören die Gedichtbände «Fête de la Musique» und «Gesichtsverlusterkennung» sowie das «Tagebuch eines Windreisenden» und die Novelle «Wasserzeichen».

Webseite des Autors

Herzliche Grüsse aus Shkodër, Albanien III

Lieber Gallus,

unterdessen habe ich Albanien erreicht:

Nichts weiter als einen halbwegs ungenutzten Quadratmeter auf dem Bürgersteig hat sie nötig, und sie arbeitet ohne je zu murren, ohne jede Pause: die Waage. Auf den Bürgersteigen Shkodërs, die immer auch Verkaufsfläche, Parkplatz und geselliger Treffpunkt sind, finden sich unzählige mit Münzen dekorierte Waagen. In der Regel steht neben der Waage ein Stuhl, die Einrichtung insgesamt kommt aber ohne Personal, ohne Erklärungen aus.

Wer sich wägen lassen will, stellt seine Tasche, welcher damit die Unannehmlichkeit erspart bleibt, den womöglich schmutzigen Boden zu berühren, auf den Stuhl, legt eine Münze auf die Waage und stellt sich – neben oder auf das versammelte Kleingeld – auf die vorgesehene Fläche und lässt die Schwerkraft ihre leichte Arbeit verrichten.

Wer mit der vorerst unbestechlich bleibenden Angabe des Gewichts nicht zufrieden ist, kann sich sowohl sogleich wie auch im weiteren Verlauf des Tages gemäss den eigenen Bedürfnissen mit der Einbildung verbrüdern, welche besagt, dass all das auf der Waage liegende Kleingeld sicher richtig schwer sei.

Thierry / Urs

Urs Mannhart, 1975 geboren, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in La Chaux-de-Fonds. Zuletzt erschien bei Secession „Gschwind oder Das mutmaßlich zweckfreie Zirpen der Grillen“ und bei Matthes und Seitz „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Urs Mannhart

Herzliche Grüsse aus Bileća, Bosnien-Herzegowina II

Liegt hinter einem Wald ein Wald, der an einen Wald grenzt, welcher, aufgelockert durch eine silbern schimmernd unter einem unangestrengt bewölkten Himmel liegenden Karstebene, auf unnachahmliche Weise einen Wald umgibt – dann handelt es sich womöglich um den Süden Bosnien-Herzegowinas. In der frühmorgens noch tief schlafenden Kleinstadt Bileća sitzen zwei Dutzend Männer, die sich kennen und folglich nicht reden müssen, hinter ihren Tassen und im dichten Rauch ihrer Zigaretten, darauf wartend, dass sich Geträumtes verflüchtigt. Ich sitze an der Bar, hole mein Gemüsemesser hervor, schneide mit Sorgfalt einen Apfel in acht Stücke und nehme so, Schnitz um
Schnitz, mein Frühstück ein.
Einige verwunderte Blicke durchqueren den Nikotinnebel und berühren mich, aber ich denke, es ist hier alles sehr in Ordnung: Ich rauche bloss einen Apfel.

Herzlich grüsst Dich

Thierry

Herzliche Grüsse aus Mrkonjić Grad, Bosnien-Herzegowina

An einem friedvollen Waldrand habe ich übernachtet, am Saum eines sich selbst überlassenen Waldes in einem sich selbst überlassenen Tal – ein einladender Ort, um sich dem Schlaf zu überlassen. Zwar bereitet es Freude, verschwitzte Kleider über Nacht an einem Ast aufzuhängen, aber Insekten sind, nicht anders als menschliche Tiere, stets an Neuigkeiten interessiert, weswegen es mich wohl nicht sonderlich hätte überraschen sollen, als ich am Morgen, kurz nach dem Ankleiden, eine dunkle, rasch meine kurze Hose verlassende und auf mein Knie zusteuernde Schmetterlingsraupe habe beobachten können. Sie erinnerte mich an jene Zeile, die ich tags zuvor auf einer Speisekarte gelesen hatte: «Boiled knee with sidedish». Schön, dass meine Knie ungekocht sind. Aber wer kümmert sich darum, dass eine jede der prachtvoll blühenden Kastanien ihr Gedicht bekommt

Thierry

Béatrice Bader «Mutters Sprache», Plattform Gegenzauber

Mutters Sprache lässt sich vermessen wie das Schnittmuster für ein leichtes luftiges Kleid. Oder wie für einen zu eng sitzenden steifen und unbequemen Anzug. Gefangen in Launenhaftigkeit, schwankend zwischen heiterer Fröhlichkeit und finsterer Unzugänglichkeit durchpflügt sie die Tage. Und dazwischen Leni, die kleine Tochter.

Mutters Sprache ist spitz wie Stecknadeln, welche den Stoff zusammenhalten. Die Worte ritzen Lenis Seele. Leni schaut und lauscht den Stimmen hinter der geschlossenen Glastür. Sie sitzt dort gemeinsam mit dem Hund und versucht, durch das mit Schlieren versetzte Türglas die verschwommenen Umrisse der Mutter und der Gestalt einer weiteren Person zu erkennen. Mutter jagt Hund und Leni von der Glastür weg, sie ist mit Kundschaft beschäftigt.

Mutters Sprache zerschneidet Lenis Tag in Aufstehen, Mittagessen, Nachhausekommen und Schlafengehen. Dazwischen, wenn sie nicht draussen unterwegs ist, liegt Leni auf dem Rücken in ihrem Zimmer und beobachtet durch das Fenster die die vorbeiziehenden weissen Wolkengeschöpfe. Sie zeichnet die Umrisse in ihrem Kopf nach: ein Fisch, ein Teufel, ein Drache, eine Maus, ein Hund. Für Leni sind es glückliche Tage, sie kennt nichts anderes.

Abendessen gibt es dann, wenn der Vater nach Hause kommt. Danach richtet sich Mutters Tageszeit. Der Tisch wartet, gedeckt mit drei Tellern. Leni ist überzeugt, in der falschen Familie zu leben. Vielleicht ist sie adoptiert, denkt sie.

Immer, wenn Mutter mit Kundschaft beschäftigt ist, bleibt Leni sich selbst überlassen. Ihr Reich befindet sich draussen. Sie turnt an der Teppichstange oder verbringt die Zeit vor dem alten Speicher. Durch den breiten Spalt über der Türschwelle spähend und ohne etwas zu erkennen, versucht sie sich vorzustellen, was im Innern des alten kleinen Hauses wohl sein könnte. Welche Geschichten sich dort abgespielt haben könnten, schlimme vielleicht oder auch frohe. Darüber vergisst Leni die Zeit. und die Mutter muss sie suchen, zusammen mit dem Hund an der Leine.

Wenn es regnet, oder nach dem Mittagessen muss Leni in ihrem Zimmer bleiben. Sie richtet dann Räume in Kartonschachteln ein und stellt sich vor, sie würde darin leben. Allein, oder zusammen mit ihren Stofftieren. Sie erzählt ihnen die Geschichten, die sie erfindet. Sie handeln von kleinen Reichen, Inseln, die sich unter einem Baum oder auch mitten in einem See befinden. Um diese Inseln schwimmen Monster, die sich unter ihrem Bett verstecken. Die Mutter erzählt Leni auch Geschichten, abends, im Bett. Leni will dieselbe Geschichte immer wieder hören. Es ist die Geschichte eines Mädchens, dass die Noten auf der Blockflöte nicht spielen konnte, weil ihre Finger die Löcher nicht in der der richtigen Reihenfolge decken konnten oder sich die Löcher hurtig wegduckten, bevor die Finger sie fanden. Die Flötenlehrerin, eine der Mutter ähnelnde Frau mit seltsamen Unterrichtsmethoden verlor die Geduld und schleuderte das hölzerne Instrument durch das Zimmer. Leni staunt, dass die Flöte dabei nicht zerbrach und die Geschichte damit gut ausging. Doch Mutter will diese Geschichte nicht erzählen, sie gefällt ihr nicht, sagt sie.

Am Tag ist es plötzlich totenstill in der Wohnung. Leni öffnet leise die Zimmertür, dahinter liegt Mutter reglos auf dem Teppichboden. Leni schleicht sich ins Zimmer, setzt sich neben die still daliegende Gestalt und wartet. Mutter bewegt sich nicht. Lebt sie noch? Leni beginnt sich zu fürchten. Vielleicht ist die Mutter tot und Leni und der Hund sind dann ganz allein. Vorsichtig berührt sie den Arm der Mutter. Keine Reaktion. Lenis Angst um die Mutter wächst, sie versucht herauszufinden, ob sie noch atmet. Dabei weckt sie die schlafende Mutter, ihre Stimme zerreisst die Stille wie ein Stück Papier. Leni ist erschrocken und glücklich zugleich, die wütenden Worte der Mutter sind nicht schlimm, weil sie ja lebt und weiterhin auf Leni und den Hund aufpassen kann.

Draussen vor dem Fenster sitzt bereits die Dunkelheit wie ein grosses, pelziges Tier. Leni darf fernsehen. Mutter muss mit dem Hund noch raus, Leni will nicht mit, sie will diesen Film fertig schauen. Als der zu Ende ist, stellt Leni den Fernseher aus. Sie ist allein in der Wohnung. Leni wartet auf die Mutter und den Hund, dass sie endlich zurückkommen.

Keiner kommt. Der Schlüssel steckt im Schlüsselloch. Leni wartet hinter der Tür, spielt am Schlüssel, bis sich dieser dreht. Jetzt ist die Tür verschlossen. Mutter und der Hund können nicht mehr in die Wohnung, und Leni kann nicht raus. Leni spürt, wie das Monster unter ihrem Bett hervorkriecht, um sie zu fangen. Mit zittrigen Fingern nestelt Leni panisch am Schlüsselbund. Der Schlüssel will sich nicht zurückdrehen lassen, so verzweifelt sie es auch versucht.

Leni klettert auf den kleinen Balkon im ersten Stock und über das Geländer. Das Rufen ihrer Kinderstimme nach der Mutter versinkt in der pelzigen Dunkelheit des Abends. Sterne blinken, als Leni über das Geländer klettert und in die Tiefe springt, der Mutter entgegen.

 
Textile Collage Bader 4/1

Béatrice Bader *1968 ist visuelle Kunstschaffende und Erzählerin des Unaussprechlichen, arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Sprache. Ihre Werke sind wie Fenster in verborgene Welten, geprägt von einer feinen Sensibilität für das Flüchtige und das Bleibende. Ob in Bildern oder Worten – sie sucht das, was hinter den Dingen liegt, das Unsichtbare, das wir fühlen, bevor wir es verstehen. Als Autorin erzählt sie Geschichten, die den Alltag mit Poesie durchdringen, und als Künstlerin verwandelt sie Gedanken in Formen und Farben. Ihre Werke sind ein Dialog zwischen dem Innen und dem Aussen, der Stille und dem Klang. Béatrice Bader lädt ein, innezuhalten – und für einen Moment die Welt neu zu sehen.

Webseite der Autorin

Rebekka Salm & Markus Kirchhofer «Salmhofer» 5/6

Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.

 

Nach den Ferien
Die zarte Innenseite
der Muscheln streicheln

meine fingerkuppen er-
innern deine perlmutt-haut

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 5/6

 

der gittermastkran
überspannt den alpenkranz
milane kreisen

Dem Deckenventilator
im Neubau fehlt ein Flügel

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 4

 

Auf dem Wäscheberg
bei laufendem Staubsauger
schläft tief der Kater

du ganz ohr auf meinem bauch
die verdauungsgeräusche

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 3

 

zartblauer himmel
wolken wie wattebäusche
der geruch von heu

Dort, wo der Holunder blüht
liegt das totgemähte Kitz

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 2

 

Im dunklen Geäst
streiten sich Rabenvögel
Um das Stück Goldmond

geturtel am caquelon
gabelgefecht im käse

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 1

 

Was ist ein Tan-Renga?
Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt.
Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben.
Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.

In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.

Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag. 

Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.

 

Über Empathie – für Peter Bichsel, von Peter Weibel

Ich weiss nicht, ob Peter Bichsel den bösen Satz von Elon Musk noch gehört hat, Europa wird an seiner Empathie noch zugrunde gehen – wahrscheinlich hat er ihn nicht mehr gehört oder auch nicht mehr hören wollen. Der Satz ist eine Breitseite aus der Liga der kalten Dinosaurier, der alles so radikal herunterreissen will, wofür Peter Bichsel eingestanden ist, dass er vor meinem inneren Auge nochmals von der Himmelspforte heruntersteigt und tun muss, was er immer getan hat: Dagegen-halten. Aber wir müssen ihn ruhen lassen, er hat sich mit seinem Dagegenhalten genug verausgabt, wir müssen nur seine wunderbaren Bücher wieder lesen, um zu wissen, was er dazu sagen würde. Man kann irgendeine Buchseite aufschlagen, oder eine einzelne Kolumne abrufen, eine von hunderten – es gibt keine einzige Seite ohne Empathie hinter seinen Worten. Ohne seine staunende und hartnäckige Liebe zum Menschen, auch zum queren Menschen an den Rändern, zu allem Menschlichen. Anneli war eine einfache Frau, und eine bescheidene, die überall, wo sie war, das Gefühl hatte, sie sei zu viel, sie stehe im Wege, heisst es in Peter Bichsels berühmter Meditation zu einer Mozartmesse.
Jede Geschichte ist ein Gegenentwurf zur Aussenschicht der Welt, eine Gegen-Erzählung eines staunenden Beobachters (er hat sich immer geweigert, das Staunen des Kindes zu verlieren). Wer nicht an weltliche Utopien glauben kann und will, der glaubt an gar nichts.

Ich bin mir sicher, Peter Bichsel würde den Satz von Elon Musk zerfetzen, der die kalte Brutalität der Macht blanklegt. Er würde auch alle hilflosen Versuche zerfetzen, die menschliche Solidarität stückweise loszuwerden, nur ein klein wenig, nur soweit, dass sich aus zu viel Mitverantwortung zum Beispiel für Gleich-berechtigung, für die Rechte von Minderheiten keine Nachteile ergeben sollen, und vor allem: Keine Verluste. Er hat die Anfälligkeit von Entscheidungsträgern mit bissigen Worten skelettiert: Ich weiss nicht, wer die neuen Juden sein werden, die Politik wird die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen.
Und natürlich würde er auf Seite der Geschlagenen, der Verlierer stehen, zu den Siegern wollte er nie gehören, ich vermute, er liebte die Niederlagen, nur nie die Niederlage als Mensch. Er ist seinem Credo als unbeugsamer Zeitgeistpoet immer treu geblieben, und mit Bestimmtheit hat er gewusst: Die Niederlagen in Bewahrung eines empathischen Menschenbilds haben einen längeren Atem. Nicht die menschliche Empathie, aber das Loswerden der Empathie kann zugrunde richten.

Peter Weibel auf literaturblatt.ch

Zeichnung © Lea Le

Wolfgang Klein «stumm – gedanke an e.h.», Plattform Gegenzauber

bi ba bum was geht da herum
di da dum es geht schon wieder `rum
es geht im kopf herum
qui qua quum

es läuft springt beißt
bis es mir den kopf zerreißt
zi za zum es rüttelt herum
ti ta tum

ri ra rum es springt es bricht
si sa sum es fließt und sticht
es tickt im kopf herum
qui qua quum

die bilder werden stumm
wer kümmert sich drum
jetzt taubt es im kopf herum
bssssss…

vi va vum auch das herz wird stumm
wi wa wum jemand sagt gib ruh
niemand fragt wozu
ich frag nicht warum
di da dum

bi ba bum wieder summts herum
si sa sum und sticht und fließt
stärker wird der strom
zi za zum

die bilder werden stumm
wer kümmert sich drum
lange taubt es im kopf herum
bssssss…

bi ba bum es summt leis herum
ich bleib stumm nicht dumm
alle freu‘n sich über ihre ruh‘
schi scha schu
bssssssssss…

ps

vater schlägt auch mutter krumm
alle bleiben stumm

(2022, zur Elektroschocktherapie an Ernst Herbeck, inspiriert vom Ö1-Feature 20220517)

Erwin Ginner, Laaben (Stollberg), NÖ / „Mein Schatten wartet“ – Tusche auf Papier

Wolfgang Klein, geboren 1958 in Wien, aufgewachsen in Niederösterreich, Abschluss der HTL Wien für heute bereits antiquierte Nachrichtentechnik (Wahlscheibentelefon, 1 Computer für alle Wiener Schulen,…), lebt seit 2004 mit Familie (Ehefrau, Husky- & Mischlingshündinnen) im Wienerwald. Autodidakte künstlerische Tätigkeiten: mit Schrift kombinierte Malversuche, auch Keramiken, vorwiegend jedoch schreibend: Dramulette, Kurzgeschichten, Lieder, Poesie, Lyrik.