Herzliche Grüsse aus Bileća, Bosnien-Herzegowina II

Liegt hinter einem Wald ein Wald, der an einen Wald grenzt, welcher, aufgelockert durch eine silbern schimmernd unter einem unangestrengt bewölkten Himmel liegenden Karstebene, auf unnachahmliche Weise einen Wald umgibt – dann handelt es sich womöglich um den Süden Bosnien-Herzegowinas. In der frühmorgens noch tief schlafenden Kleinstadt Bileća sitzen zwei Dutzend Männer, die sich kennen und folglich nicht reden müssen, hinter ihren Tassen und im dichten Rauch ihrer Zigaretten, darauf wartend, dass sich Geträumtes verflüchtigt. Ich sitze an der Bar, hole mein Gemüsemesser hervor, schneide mit Sorgfalt einen Apfel in acht Stücke und nehme so, Schnitz um
Schnitz, mein Frühstück ein.
Einige verwunderte Blicke durchqueren den Nikotinnebel und berühren mich, aber ich denke, es ist hier alles sehr in Ordnung: Ich rauche bloss einen Apfel.

Herzlich grüsst Dich

Thierry

Herzliche Grüsse aus Mrkonjić Grad, Bosnien-Herzegowina

An einem friedvollen Waldrand habe ich übernachtet, am Saum eines sich selbst überlassenen Waldes in einem sich selbst überlassenen Tal – ein einladender Ort, um sich dem Schlaf zu überlassen. Zwar bereitet es Freude, verschwitzte Kleider über Nacht an einem Ast aufzuhängen, aber Insekten sind, nicht anders als menschliche Tiere, stets an Neuigkeiten interessiert, weswegen es mich wohl nicht sonderlich hätte überraschen sollen, als ich am Morgen, kurz nach dem Ankleiden, eine dunkle, rasch meine kurze Hose verlassende und auf mein Knie zusteuernde Schmetterlingsraupe habe beobachten können. Sie erinnerte mich an jene Zeile, die ich tags zuvor auf einer Speisekarte gelesen hatte: «Boiled knee with sidedish». Schön, dass meine Knie ungekocht sind. Aber wer kümmert sich darum, dass eine jede der prachtvoll blühenden Kastanien ihr Gedicht bekommt

Thierry

Béatrice Bader «Mutters Sprache», Plattform Gegenzauber

Mutters Sprache lässt sich vermessen wie das Schnittmuster für ein leichtes luftiges Kleid. Oder wie für einen zu eng sitzenden steifen und unbequemen Anzug. Gefangen in Launenhaftigkeit, schwankend zwischen heiterer Fröhlichkeit und finsterer Unzugänglichkeit durchpflügt sie die Tage. Und dazwischen Leni, die kleine Tochter.

Mutters Sprache ist spitz wie Stecknadeln, welche den Stoff zusammenhalten. Die Worte ritzen Lenis Seele. Leni schaut und lauscht den Stimmen hinter der geschlossenen Glastür. Sie sitzt dort gemeinsam mit dem Hund und versucht, durch das mit Schlieren versetzte Türglas die verschwommenen Umrisse der Mutter und der Gestalt einer weiteren Person zu erkennen. Mutter jagt Hund und Leni von der Glastür weg, sie ist mit Kundschaft beschäftigt.

Mutters Sprache zerschneidet Lenis Tag in Aufstehen, Mittagessen, Nachhausekommen und Schlafengehen. Dazwischen, wenn sie nicht draussen unterwegs ist, liegt Leni auf dem Rücken in ihrem Zimmer und beobachtet durch das Fenster die die vorbeiziehenden weissen Wolkengeschöpfe. Sie zeichnet die Umrisse in ihrem Kopf nach: ein Fisch, ein Teufel, ein Drache, eine Maus, ein Hund. Für Leni sind es glückliche Tage, sie kennt nichts anderes.

Abendessen gibt es dann, wenn der Vater nach Hause kommt. Danach richtet sich Mutters Tageszeit. Der Tisch wartet, gedeckt mit drei Tellern. Leni ist überzeugt, in der falschen Familie zu leben. Vielleicht ist sie adoptiert, denkt sie.

Immer, wenn Mutter mit Kundschaft beschäftigt ist, bleibt Leni sich selbst überlassen. Ihr Reich befindet sich draussen. Sie turnt an der Teppichstange oder verbringt die Zeit vor dem alten Speicher. Durch den breiten Spalt über der Türschwelle spähend und ohne etwas zu erkennen, versucht sie sich vorzustellen, was im Innern des alten kleinen Hauses wohl sein könnte. Welche Geschichten sich dort abgespielt haben könnten, schlimme vielleicht oder auch frohe. Darüber vergisst Leni die Zeit. und die Mutter muss sie suchen, zusammen mit dem Hund an der Leine.

Wenn es regnet, oder nach dem Mittagessen muss Leni in ihrem Zimmer bleiben. Sie richtet dann Räume in Kartonschachteln ein und stellt sich vor, sie würde darin leben. Allein, oder zusammen mit ihren Stofftieren. Sie erzählt ihnen die Geschichten, die sie erfindet. Sie handeln von kleinen Reichen, Inseln, die sich unter einem Baum oder auch mitten in einem See befinden. Um diese Inseln schwimmen Monster, die sich unter ihrem Bett verstecken. Die Mutter erzählt Leni auch Geschichten, abends, im Bett. Leni will dieselbe Geschichte immer wieder hören. Es ist die Geschichte eines Mädchens, dass die Noten auf der Blockflöte nicht spielen konnte, weil ihre Finger die Löcher nicht in der der richtigen Reihenfolge decken konnten oder sich die Löcher hurtig wegduckten, bevor die Finger sie fanden. Die Flötenlehrerin, eine der Mutter ähnelnde Frau mit seltsamen Unterrichtsmethoden verlor die Geduld und schleuderte das hölzerne Instrument durch das Zimmer. Leni staunt, dass die Flöte dabei nicht zerbrach und die Geschichte damit gut ausging. Doch Mutter will diese Geschichte nicht erzählen, sie gefällt ihr nicht, sagt sie.

Am Tag ist es plötzlich totenstill in der Wohnung. Leni öffnet leise die Zimmertür, dahinter liegt Mutter reglos auf dem Teppichboden. Leni schleicht sich ins Zimmer, setzt sich neben die still daliegende Gestalt und wartet. Mutter bewegt sich nicht. Lebt sie noch? Leni beginnt sich zu fürchten. Vielleicht ist die Mutter tot und Leni und der Hund sind dann ganz allein. Vorsichtig berührt sie den Arm der Mutter. Keine Reaktion. Lenis Angst um die Mutter wächst, sie versucht herauszufinden, ob sie noch atmet. Dabei weckt sie die schlafende Mutter, ihre Stimme zerreisst die Stille wie ein Stück Papier. Leni ist erschrocken und glücklich zugleich, die wütenden Worte der Mutter sind nicht schlimm, weil sie ja lebt und weiterhin auf Leni und den Hund aufpassen kann.

Draussen vor dem Fenster sitzt bereits die Dunkelheit wie ein grosses, pelziges Tier. Leni darf fernsehen. Mutter muss mit dem Hund noch raus, Leni will nicht mit, sie will diesen Film fertig schauen. Als der zu Ende ist, stellt Leni den Fernseher aus. Sie ist allein in der Wohnung. Leni wartet auf die Mutter und den Hund, dass sie endlich zurückkommen.

Keiner kommt. Der Schlüssel steckt im Schlüsselloch. Leni wartet hinter der Tür, spielt am Schlüssel, bis sich dieser dreht. Jetzt ist die Tür verschlossen. Mutter und der Hund können nicht mehr in die Wohnung, und Leni kann nicht raus. Leni spürt, wie das Monster unter ihrem Bett hervorkriecht, um sie zu fangen. Mit zittrigen Fingern nestelt Leni panisch am Schlüsselbund. Der Schlüssel will sich nicht zurückdrehen lassen, so verzweifelt sie es auch versucht.

Leni klettert auf den kleinen Balkon im ersten Stock und über das Geländer. Das Rufen ihrer Kinderstimme nach der Mutter versinkt in der pelzigen Dunkelheit des Abends. Sterne blinken, als Leni über das Geländer klettert und in die Tiefe springt, der Mutter entgegen.

 
Textile Collage Bader 4/1

Béatrice Bader *1968 ist visuelle Kunstschaffende und Erzählerin des Unaussprechlichen, arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Sprache. Ihre Werke sind wie Fenster in verborgene Welten, geprägt von einer feinen Sensibilität für das Flüchtige und das Bleibende. Ob in Bildern oder Worten – sie sucht das, was hinter den Dingen liegt, das Unsichtbare, das wir fühlen, bevor wir es verstehen. Als Autorin erzählt sie Geschichten, die den Alltag mit Poesie durchdringen, und als Künstlerin verwandelt sie Gedanken in Formen und Farben. Ihre Werke sind ein Dialog zwischen dem Innen und dem Aussen, der Stille und dem Klang. Béatrice Bader lädt ein, innezuhalten – und für einen Moment die Welt neu zu sehen.

Webseite der Autorin

Rebekka Salm & Markus Kirchhofer «Salmhofer» 5/6

Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.

 

Nach den Ferien
Die zarte Innenseite
der Muscheln streicheln

meine fingerkuppen er-
innern deine perlmutt-haut

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 5/6

 

der gittermastkran
überspannt den alpenkranz
milane kreisen

Dem Deckenventilator
im Neubau fehlt ein Flügel

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 4

 

Auf dem Wäscheberg
bei laufendem Staubsauger
schläft tief der Kater

du ganz ohr auf meinem bauch
die verdauungsgeräusche

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 3

 

zartblauer himmel
wolken wie wattebäusche
der geruch von heu

Dort, wo der Holunder blüht
liegt das totgemähte Kitz

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 2

 

Im dunklen Geäst
streiten sich Rabenvögel
Um das Stück Goldmond

geturtel am caquelon
gabelgefecht im käse

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 1

 

Was ist ein Tan-Renga?
Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt.
Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben.
Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.

In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.

Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag. 

Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.

 

Über Empathie – für Peter Bichsel, von Peter Weibel

Ich weiss nicht, ob Peter Bichsel den bösen Satz von Elon Musk noch gehört hat, Europa wird an seiner Empathie noch zugrunde gehen – wahrscheinlich hat er ihn nicht mehr gehört oder auch nicht mehr hören wollen. Der Satz ist eine Breitseite aus der Liga der kalten Dinosaurier, der alles so radikal herunterreissen will, wofür Peter Bichsel eingestanden ist, dass er vor meinem inneren Auge nochmals von der Himmelspforte heruntersteigt und tun muss, was er immer getan hat: Dagegen-halten. Aber wir müssen ihn ruhen lassen, er hat sich mit seinem Dagegenhalten genug verausgabt, wir müssen nur seine wunderbaren Bücher wieder lesen, um zu wissen, was er dazu sagen würde. Man kann irgendeine Buchseite aufschlagen, oder eine einzelne Kolumne abrufen, eine von hunderten – es gibt keine einzige Seite ohne Empathie hinter seinen Worten. Ohne seine staunende und hartnäckige Liebe zum Menschen, auch zum queren Menschen an den Rändern, zu allem Menschlichen. Anneli war eine einfache Frau, und eine bescheidene, die überall, wo sie war, das Gefühl hatte, sie sei zu viel, sie stehe im Wege, heisst es in Peter Bichsels berühmter Meditation zu einer Mozartmesse.
Jede Geschichte ist ein Gegenentwurf zur Aussenschicht der Welt, eine Gegen-Erzählung eines staunenden Beobachters (er hat sich immer geweigert, das Staunen des Kindes zu verlieren). Wer nicht an weltliche Utopien glauben kann und will, der glaubt an gar nichts.

Ich bin mir sicher, Peter Bichsel würde den Satz von Elon Musk zerfetzen, der die kalte Brutalität der Macht blanklegt. Er würde auch alle hilflosen Versuche zerfetzen, die menschliche Solidarität stückweise loszuwerden, nur ein klein wenig, nur soweit, dass sich aus zu viel Mitverantwortung zum Beispiel für Gleich-berechtigung, für die Rechte von Minderheiten keine Nachteile ergeben sollen, und vor allem: Keine Verluste. Er hat die Anfälligkeit von Entscheidungsträgern mit bissigen Worten skelettiert: Ich weiss nicht, wer die neuen Juden sein werden, die Politik wird die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen.
Und natürlich würde er auf Seite der Geschlagenen, der Verlierer stehen, zu den Siegern wollte er nie gehören, ich vermute, er liebte die Niederlagen, nur nie die Niederlage als Mensch. Er ist seinem Credo als unbeugsamer Zeitgeistpoet immer treu geblieben, und mit Bestimmtheit hat er gewusst: Die Niederlagen in Bewahrung eines empathischen Menschenbilds haben einen längeren Atem. Nicht die menschliche Empathie, aber das Loswerden der Empathie kann zugrunde richten.

Peter Weibel auf literaturblatt.ch

Zeichnung © Lea Le

Wolfgang Klein «stumm – gedanke an e.h.», Plattform Gegenzauber

bi ba bum was geht da herum
di da dum es geht schon wieder `rum
es geht im kopf herum
qui qua quum

es läuft springt beißt
bis es mir den kopf zerreißt
zi za zum es rüttelt herum
ti ta tum

ri ra rum es springt es bricht
si sa sum es fließt und sticht
es tickt im kopf herum
qui qua quum

die bilder werden stumm
wer kümmert sich drum
jetzt taubt es im kopf herum
bssssss…

vi va vum auch das herz wird stumm
wi wa wum jemand sagt gib ruh
niemand fragt wozu
ich frag nicht warum
di da dum

bi ba bum wieder summts herum
si sa sum und sticht und fließt
stärker wird der strom
zi za zum

die bilder werden stumm
wer kümmert sich drum
lange taubt es im kopf herum
bssssss…

bi ba bum es summt leis herum
ich bleib stumm nicht dumm
alle freu‘n sich über ihre ruh‘
schi scha schu
bssssssssss…

ps

vater schlägt auch mutter krumm
alle bleiben stumm

(2022, zur Elektroschocktherapie an Ernst Herbeck, inspiriert vom Ö1-Feature 20220517)

Erwin Ginner, Laaben (Stollberg), NÖ / „Mein Schatten wartet“ – Tusche auf Papier

Wolfgang Klein, geboren 1958 in Wien, aufgewachsen in Niederösterreich, Abschluss der HTL Wien für heute bereits antiquierte Nachrichtentechnik (Wahlscheibentelefon, 1 Computer für alle Wiener Schulen,…), lebt seit 2004 mit Familie (Ehefrau, Husky- & Mischlingshündinnen) im Wienerwald. Autodidakte künstlerische Tätigkeiten: mit Schrift kombinierte Malversuche, auch Keramiken, vorwiegend jedoch schreibend: Dramulette, Kurzgeschichten, Lieder, Poesie, Lyrik.

Rebekka Salm & Markus Kirchhofer «Salmhofer» 4/6

Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.

 

der gittermastkran
überspannt den alpenkranz
milane kreisen

Dem Deckenventilator
im Neubau fehlt ein Flügel

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 4/6

 

Auf dem Wäscheberg
bei laufendem Staubsauger
schläft tief der Kater

du ganz ohr auf meinem bauch
die verdauungsgeräusche

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 3

 

zartblauer himmel
wolken wie wattebäusche
der geruch von heu

Dort, wo der Holunder blüht
liegt das totgemähte Kitz

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 2

 

Im dunklen Geäst
streiten sich Rabenvögel
Um das Stück Goldmond

geturtel am caquelon
gabelgefecht im käse

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 1

 

Was ist ein Tan-Renga?
Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt.
Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben.
Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.

In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.

Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag. 

Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.

 

Angelika Overath «Engadinerinnen – Frauenleben in einem hohen Tal», Limmat

Intensive Mutmach-Geschichten! Wenn Frauen aus dem Hochtal Engadin im schweizerischen Graubünden ihre Geschichten preisgeben. Angelika Overath porträtiert 18 Frauen und daraus ist ein lesenswertes Buch entstanden.

Gastbeitrag von
Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Frau Overath, Sie erzählen Geschichten von 18 Frauen aus dem Engadin, die wunderbar unterschiedlich sind. Wie haben Sie sie gefunden und sagten alle sofort zu?

Angelika Overath: Begonnen habe ich mit meiner Freundin Franziska Barta. Sie führt eine Landarztpraxis in Zuoz im Oberengadin. Als Mädchen war sie mit ihrer Mutter von Ostberlin nach Westberlin geflohen. Die zweite «Engadinerin» war eine Nachbarin, die Kindergärtnerin Tina Puorger aus Sent im Unterengadin. Es war mir wichtig, eine Mischung von Frauen zu haben, die im Tal aufgewachsen sind, und solchen, die hier erst später eine Heimat fanden. Ich wollte auch verschiedene Berufe abbilden. Manche der Frauen kannte ich, andere wurden mir empfohlen. Bis auf zwei haben alle zugesagt.

Aerni: Mit welchen Infos haben Sie die Frauen für das Buch angefragt?

Overath: Die Spielregeln waren klar: Für ein Interview kam ich zu den Frauen nach Hause oder an den Arbeitsplatz. Dann schickte ich meinen Text-Vorschlag. Die Frauen sagten, was ich falsch verstanden hatte, was fehlte und vor allem, was raus sollte.

Aerni: Aha, das kam anscheinend oft vor?

Overath: Oft erzählt man etwas am Küchentisch, das man dann nicht unbedingt öffentlich lesen möchte.

Aerni: Faires Vorgehen…

Overath: Es war mir wichtig, dass die Frauen mit ihrem Portrait einverstanden waren. So habe ich zwar einige «Spitzen» verloren. Aber das Material, das ich hatte, war immer noch kostbar genug. Während der Interviews ließ ich kein Aufnahmegerät laufen. Ich wollte, dass die Konzentration der Frau, die erzählt, der Konzentration der Frau, die mitschreibt, entspricht. Jedes Interview war eine einmalige intime Situation. Es sind, glaube ich, intensive Mutmach-Geschichten entstanden; alle Frauen waren auf eine besondere Weise tapfer.

Aerni: Sie porträtieren Frauen zwischen dem Alter von 25 bis 83 Jahren. Machten Sie doch für alle einen weiteren gemeinsamen Nenner aus?

Overath: Es ging um Leidenschaft. Ich suchte Frauen, die das, was sie taten, mit Begeisterung leisteten, die Ideen hatten, die etwas wollten. Dabei ergab sich eine gelebte Alltagsgeschichte des Engadins. Verschiedene Generationen, verschiedene Berufe, verschiedene Hoffnungen.

Aerni: Ob Hüttenwartin, Sterbebegleiterin oder Reinigungskraft, das Engadiner Frauenleben zeigt eine große Vielfältigkeit. Sie selber wohnen ja auch schon seit fast 20 Jahren in Sent. Wie würden Sie das typische Leben im Engadin für sich zusammenfassen?

Angelika Overath «Engadinerinnen – Frauenleben in einem hohen Tal», Limmat, 200 Seiten, 36 Farbfotos, CHF 34.00, ISBN 978-3-03926-067-6

Overath: Wir leben in einer grandiosen Landschaft, in einem besonderen, schon südlichen Licht. Das Engadin ist eines der höchsten bewohnten Täler Europas. Seit die Engländer gegen Ende des 19. Jahrhunderts in St. Moritz den Wintersport erfunden haben, ist das Tal geprägt vom Tourismus. Und schon vorher gab es, allerdings in kleinerem Rahmen, die Bäderkultur um die Mineralquellen. Durch die Geschichte der Zuckerbäcker, die aus dem Tal in die Fremde zogen – zunächst nach Venedig, bald nach ganz Europa – und die in den Sommern, wie die Schwalben («Randulins») in ihrer Heimatdörfer zurückkamen, mischten sich im Tal bäuerliche Lebensweisen mit Stadtkulturen. Im Engadin gehört das Fremde zum Eigenen. Im Tal wohnen viele italienische und portugiesische Familien, die übrigens das bedrohte Rätoromanisch neu beleben. Es ist für sie leichter zu lernen als Bündnerdeutsch.

Aerni: Eine der porträtierten Frauen, Birgit Kohl, sagt: «Da, wo ich bin, ist es gut.» Sie selber stammen aus Karlsruhe. Sind Sie auch definitiv angekommen oder flammen ab und zu doch noch Wünsche nach Neuem auf?

Overath: Ich mag meine badische Geburtsstadt Karlsruhe sehr, auch wegen der Nähe zu Frankreich. Auch hier mischen sich Kulturen. Dann lebten wir lange im schwäbischen Tübingen und drei Jahre in Griechenland, Thessaloniki. Ich reise gerne. Ich liebe das Meer. Aber Sent ist mein Dorf, in dem ich zu Hause sein darf. Sent ist ein sehr offenens Dorf. Seine rund 900 Einwohner kommen aus sieben Nationen. Ich spüre hier eine Toleranz und eine Empathie, die mir gefällt. Man schaut zu einander, hilft sich. Vielleicht ist das naiv, aber ich glaube, uns verbindet auch die Dankbarkeit, hier leben zu dürfen. Dankbarkeit macht freundlich.

Aerni: Sie publizieren nicht nur schöne Bücher und preisgekrönte Literatur, sondern vermitteln auch anderen das Schreiben. Was kann das eigene Schreiben für das Leben bedeuten?

Overath: Schreiben ist immer eine Intensivierung von Erfahrung. Für manche Menschen, zum Beispiel für mich, ist es eine Notwendigkeit.

Aerni: Warum?

Overath: Ich schaffe mir einen Raum, der mir gehört, in dem ich etwas ausprobieren kann. Und wenn ich literarische Reportagen oder Portraits schreibe, dann nehme ich Teil an der Welt. Und bin wie eine Kamera, die Momente der Wirklichkeit zeigt. Schon als 5-jähriges Mädchen wollte ich Tagebuch führen. Aber ich konnte noch nicht schreiben. Ich bat meine Großmutter, die bei uns lebte, ob sie für mich aufschreiben würde, was ich ihr sagte. Sie meinte, sie könne nicht so gut schreiben, aber sie wolle es versuchen. Das Projekt scheiterte daran, dass meine Mutter kein Papier herausrückte. Da fällt mir ein: Meine Mutter und meine Großmutter waren Flüchtlinge aus dem Sudetenland. Das hat meine Vorstellung von «Heimat» sicher geprägt. Ich habe darüber in meinem Debüt-Roman «Nahe Tage» geschrieben.

Aerni: Nebst dem Mut, drauflos zu schreiben, gäbe es noch andere Voraussetzungen, die Sie empfehlen würden?

Overath: Ich empfehle nicht, drauflos zu schreiben. Wir arbeiten in der Schreibschule Sent mit Aufgaben und Spielen, die weiterführen. Formale oder auch inhaltliche Vorgaben sind Geländer, an denen Schreibende sicher weiterkommen. Nichts ist so wenig inspirierend wie ein leeres Blatt. Natürlich geht es um Freiheit, aber kreativ ist Freiheit nur innerhalb einer Form. Sonst wird es beliebig und uferlos. Wir üben uns in den Strategien der Aufmerksamkeit. Wichtig ist die Genauigkeit der Sprache wie dem Empfinden gegenüber. Und wie Diebe lesen wir klassische Texte und beobachten, wie es die Meisterinnen und Meister der Literatur gemacht haben.

Aerni: Sie leben im Dorf Sent auf 1450 m.ü.M. Doch das bunte Literaturgeschehen spielt sich in Literaturhäusern, großen Buchhandlungen und an Buchmessen in den Städten ab. Tut dieser geografische Abstand gut?

Overath: Sicher, wenn ich in Berlin leben würde, wäre ich mehr im Geschehen. Auf dem literarischen Markt funktioniert sehr vieles über Netzwerke. Aber wie viel Erfolg brauche ich denn?

Aerni: Gute Frage.

Overath: Wie viel meiner Energie bin ich bereit, in meine Vermarktung zu investieren? Ich glaube, man muss aufpassen, dass man beim Wirbeln um Aufmerksamkeit nicht seine Substanz verliert. Wenn ich nicht mehr spüre, warum ich schreibe, bin ich verloren. Ich bin auch kaum in den sozialen Medien unterwegs. Ich schreibe meine Bücher, sorgfältig. Gehe auf Lesungen, wenn ich eingeladen werde. Und führe zusammen mit meinem Mann jetzt im fünften Jahr die Schreibschule Sent. Sie hat sich zu einer Art literarischem Salon entwickelt. Es kommen interessante Menschen zu uns. Unsere öffentlichen Jahresabschlusslesungen, jeweils am 1. Sonntag im März, sind wunderbare Treffen, bei dem sich Autorinnen und Autoren, Einheimische, Feriengäste treffen und nach der Lesung bei einem Apéro noch lange diskutieren. Vielleicht kann ich, in Anlehnung an Birgit Kohl, sagen: Da, wo wir sind, ist Sprache. Und Gemeinschaft.

Aerni: Welche Veränderungen in Ihrer Region beobachten Sie vielleicht auch mit Sorge?

Overath: Die Zahl der Zweitwohnungen nimmt zu. Wenn junge einheimische Familien sich die Miete im Engadin nicht mehr leisten können und das Tal verlassen, ändert sich der Charakter der Dörfer rasant. Viele Menschen aus Zürich, Basel oder Mailand arbeiten im Home-Office im Engadin. Sie können teure Wohnungen bezahlen. Sie sind nur sporadisch da. Sie sprechen kein Rätoromanisch und nehmen nicht am Dorfleben teil. Das Engadin ist ja nicht nur eine Landschaft, sondern auch eine besondere Lebenskultur der Bräuche, der Feste, der Chöre. Landschaft und Gemeinschaft sind bedroht. Auch davon erzählen «meine» Engadinerinnen.

(Interview erschien bereits in der «Bündner Woche»)

Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren und heute als Schriftstellerin, Journalistin, Lyrikerin und Dozentin in Sent im Unterengadin. Zuletzt erschienen «Krautwelten» (Suhrkamp Insel, 2021), eine Hommage an die Kohlpflanzen, der zweisprachige Gedichtband in Vallader und Deutsch «Schwarzhandel mit dem Himmel / Marchà nair cul azur» (Telegramme, 2022) und der Roman «Unschärfen der Liebe» (Luchterhand, 2023). Angelika Overath wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis für literarische Reportage und dem Bündner Literaturpreis. Zusammen mit ihrem Mann, dem Literaturwissenschaftler und Essayisten Manfred Koch, führt sie eine Schreibschule in Sent.

Beitragsbild © Franziska Barta

Franziska Beyer-Lallauret „Glücksrand“, Plattform Gegenzauber

Verspätung

Ich hab mich verirrt
Wimperntusche vergessen
Auf der Treppe
Das Fenster ließ sich nicht
Schließen der Vorhang
Klemmte als Segel
Tuch im Rahmen ich musste
Auf einen Stuhl steigen 
Um die Flatter zu machen
Kann viel erzählen
Von munteren Monden
Verschütt gegangenen
Verben verloren
Geglaubten Schlüsseln
Kann auch behaupten
Ich spiele bloß mit
Der Zeit wenn der Abend
Lang genug wird

 

Innen

Ohne Sonne werfen  
Wir weniger Schatten
Aufeinander dann
Wird es wärmer 
Ich kann dich erkennen
Du bist leichter 
Als Wind du drehst 
Mir am Glücksrand

 

Auftritt

Unter der Brücke
Weht es mich durch
In unvermutete Richtungen
Ich soll mich erinnern
An große Sprünge Gedächtnis
Lücken übertreten dabei
Komme ich eigentlich aus
Dem Eishaus habe dort Zucker 
Statt Wasser getrunken und
Aufgepasst dass der Überschuss 
Zeit nicht aufs Kleid tropft
Du siehst aus als wolltest du
Mir als erster begegnen
Nur einmal in diesem Leben 
Auf meinen Ostmund
Setze ich einen Rotstift an
Den du für voll nehmen sollst
Du hörst ihn glitzern
Während ich rede

 

Glasfasern

In deinen Armen
Schleppst du eine Reißprobe
Durch die Idylle
Sehnen sind am Zerspringen 
Wir sollten eigentlich
Nicht davon sprechen
Was du am Sonntag machst
Dass Wandern
Kein Sport ist
Dass wir uns beide 
Zu schwer sind du solltest
Eigentlich gar nicht
Mit mir über Sehnen sprechen

 

Unberührbar

Kopierer geben den Geist auf
Was wir schreiben lässt sich kaum
Drucken nichts Schwarzes will halten
Auf einem Weiß das unter ihm bricht
Die Geduld des gesamten Papiers
Hängt nur noch an einem Faden
Keine Silbe hat deine Augen

 

Knapp über Null

Zu kühl für die Jahreszeit 
Sagen sie warten mit Gurkensetzlingen
Der Eisheiligen wegen
Du gießt Wasser ins Glas es könnte sich
Glatt eine Schicht drauf bilden
Ich werde eine Clematis pflanzen sag ich
Streif deinen Kosmos du siehst
Mich an von der Seite als würde sich was
Lichtes bestätigen das du
Schon lange über mich weißt und nie
Ganz glauben konntest

(bisher unveröffentlichte Gedichte)

 

Franziska Beyer-Lallauret, geboren 1977 in Mittweida, wuchs im sächsischen Muldental auf und studierte in Leipzig Germanistik und Französisch. Nach längerem Aufenthalt in der Bretagne lebt sie heute mit ihrer Familie als Deutschlehrerin und Autorin in Avrillé bei Angers an der Loire
Sie schreibt sowohl auf deutsch als auch auf französisch, bzw. überträgt ihre deutschen Texte wie bei ihren beiden letzten Gedichtbänden («Falterfragmente / Poussière de papillon» und «Lauschgoldfisch / Brise Âme», beide dr. ziethen verlag Oschersleben 2022 und 2025) eigenständig ins Französische.
Auszeichnungen: Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2021 (1. Preis), Shortlist des Bonner Literaturpreises 2021, Finalistin beim Lyrikpreis Meran 2022.
Mitglied der internationalen Lyrikgesellschaft Leipzig e.V., des Friedrich-Bödecker-Kreises und des PEN Deutschland.

Webseite der Autorin

Johanna Hansen «Brief an David Oates», Plattform Gegenzauber

April 2016

 Lieber David,

wir sind manchmal doch weiter voneinander entfernt als ich gerne glauben möchte.
Sie w i s s e n, weshalb Sie schreiben, wenn Sie sagen: „Wir sind kleine Gefäße, die an einem Ozean nippen. Mein Bestreben als Autor ist es, diesem wilden Exzess Ehre zu erweisen.“
Was für ein Vorhaben! Ich beneide Sie darum.
Dagegen komme ich mir vor, als säße ich nackt – wie Victorine Meurent auf Edouard Manets Bild Frühstück im Freien  zwischen lauter sorgfältig gekleideten Damen und Herren, die einen kulturellen Dialog führen, der nicht (wie bei Manet) unter Gleichrangigen, sondern über meinen Kopf hinweg stattfindet. 
„Chi-Ball“, „Chakra“, „kosmische Verlängerungsschnur“?
Sie zweifeln daran, David, aber Sie haben in bestimmten Lebenssituationen Erfahrungen damit gemacht. Respekt! Da kann ich nicht mitreden.
„Wörter sind dünn“, sagen Sie. Aber warum kommt mir so vor, als gehorchten sie Ihnen aufs Wort? Mir steht diese Sicherheit nicht zur Verfügung. 
Ich träume nachts oft, vor einem Schrankkoffer zu stehen, ohne darin etwas zu finden, was mich kleidet. Dann schau ich an mir herunter und erschrecke vor meiner Nacktheit.
Wenn ich aufwache oder durch ein Museum gehe oder durch die diversen Kanäle zappe, die uns umwerben, begegne ich diesem Moment des Erschreckens überall wieder. Meine Lage ist die, nackt zu sein, denke ich manchmal. Nackt begegne ich mir auf vielen Bildern. Und in vielen Sätzen. Dort ist auch häufig von Dingen die Rede, die ich nicht verstehe. Was ist richtig und was falsch? Wer bestimmt den Dresscode? Ich habe keine Antwort darauf und gehöre selten „dazu“. Bei meiner Suche nach einem Gegenüber ist es wohl meine Aufgabe, austariert zu werden von einem mich musternden Blick. Oder es gibt erst gar keinen Blickkontakt.
Dafür fehlen mir die Worte. Sie gehorchen mir einfach nicht. 

Wie gerne würde ich hin und wieder Mondschein-Romantik vermitteln. Sie sagen, Sie hofften dies nicht zu tun. Warum nicht? Steht Mondschein nicht jedem Dichter, der den Eigengeruch der Nacht aus der Lichtverschmutzung bergen will? Da ist sie wieder: die Sehnsucht. Auch nach Mondschein-Romantik.
Ich male mir immer noch das Paradies Schlaraffenland Arkadien aus. Kann einfach nicht die Finger davonlassen. Vielleicht bin ich ernsthaft krank und habe wieder zu viele Äpfel gegessen. Vielleicht lebte ich gesünder, wenn ich das Angebot des freundlichen Clubs akzeptierte, der mich bei sich aufnehmen möchte. Das Problem ist nur, dass ich nichts anzuziehen habe, um mich dort vorzustellen.

Gerade komme ich aus Paris zurück, wo ich erneut zwei Monate verbrachte. Wie schon vor zwei Jahren, als Sie und ich uns zufällig dort über den Weg liefen. Dieses Mal liefen mir ständig Soldaten in kugelsicheren Westen über den Weg, Maschinengewehre im Anschlag.
Der Ausnahmezustand war überall sichtbar. Ich grüßte die Soldaten, die vor unserem Haus standen, und sie grüßten zurück. Aus welchem Land kommen Sie, fragten sie nach einer Weile des Grüßens erstaunt, denn sie waren es nicht gewohnt, gegrüßt zu werden.

Aus Deutschland, antwortete ich. Sie lächelten. Deutschland nimmt so viele Flüchtlinge auf. Verwandte von uns. Freunde, sagten sie. 
Traten höflich auf dem schmalen Gehweg zur Seite, wenn sie mich sahen. Da glaubte ich einen Moment lang, im Paradies angekommen zu sein. Wertgeschätzt zu werden, weil das Land, in dem ich lebe, etwas gelernt hat aus seiner Vergangenheit. Wären da nur nicht die ständig wiederkehrenden Anschläge auf Asylantenheime. Im Feuerlegen kennt mein Heimatland sich gut aus.

In Paris lief ich mir die Füße wund. Die Stadt überwältigte mich ohne Angabe von Gründen. Der Ausnahmezustand ließ sie außerdem ganz anders aussehen als beim letzten Aufenthalt. Kontrollen am Gare du Nord. In den Kaufhäusern. Absperrbänder. Terrorwarnung. Keine endlosen Touristenschlangen vor den zentralen Sehenswürdigkeiten. Abgeriegelte öffentliche Grünflächen, wo ich vor zwei Jahren noch flanierte. Was ich wiedererkannte, war architektonische Grandiosität neben Verfall. Eleganz neben Obdachlosigkeit. Stinkende Abfälle neben üppig blühenden Kamelien in struppigen Hinterhöfen. Schon nach wenigen Ausflügen musste ich mich ins Atelier zurückziehen. Meine Füße streikten. 
Ich streifte mir Schwimmflossen über und tauchte ab. Las in Jean-Pierre Abrahams Buch „Der Leuchtturm“ über das Leben und die Einsamkeit weit draußen im Atlantik. 

„Ohne mir dessen bewusst zu sein, bin ich in die stumpfen Seelen alter Seemänner vorgedrungen…Ich wüsste zu gerne, ob sie auf hoher See jenen Moment erlebt haben, da die Haut dünn, endgültig lichtdurchlässig wird.“

Gedankenträgerin, Tusche auf Papier 2019

Jean-Pierre Abraham öffnet mit einer weit ausholenden Handbewegung das Fenster zur Stille. Sie wird zum Leuchtturm vor der Küste der Bretagne. 
Nach der Lektüre gab ich jeden Plan auf, etwas Bestimmtes fertigstellen zu wollen. 
Wochenlang studierte ich das Moos auf dem Haufen rostiger Fahrräder vor meinem Fenster. Hatte Besuch von einer einzelnen Taube, die immer auf exakt derselben Stelle des gegenüberliegenden Daches ihr Revier in Besitz nahm. Hörte aus dem Tanzstudio nebenan Übungen in Schreitherapie.
In der Waschküche lernte ich ein junges finnisches Genie kennen. Ein Komponist, der seine Mütze tief über die Augen gezogen hatte, gab mir den Link zu seiner ersten Symphonie. 
Am Ende des Waschprogramms murmelte er entschuldigend so etwas wie „zeitgenössische Musik findet wenig Zustimmung“ und verschwand nahezu völlig unter seiner Mütze. 
Direkt neben meinem Atelier lag ein russisches Studio. Dort malte Olga Tänzerinnen in Pastelltönen. Da uns eine gemeinsame Sprache fehlte, verständigten wir uns mittels gefüllter russischer Eier und Baguette. Olga beschrieb mir ihre Bilder, indem sie fliegende Bewegungen mit den Armen machte und die Hand aufs Herz legte. Sich die Augen rieb, als müsse sie weinen, wenn sie von Abreise zu sprechen schien und auf ihr Gepäck zeigte.

Ich tauchte noch tiefer in meine Skizzenbücher und hatte das Gefühl, die Seine in meinen Ohren rauschen zu hören. Wahrscheinlich war ich längst auf den Grund des Flusses gesunken, über mir nichts als bleigraues Wasser, durch das sich Ausflugsboote schraubten. An Deck spiegelte sich der Himmel in chinesischen Selfies. Jemand hatte mit weißer Farbe einzelne Worte auf die Trottoirs der Brücken zur Île Saint- Louis und Île de la Cité gestempelt: Ich bin, stand dort oder: Vernunft. Traum. 

Vier Worte reichen, um Philosophie auf die Straße zu bringen! Das begeisterte mich. Vier Worte, die wirksamer sind als jede Vorschrift im deutschen Straßenverkehr. Die Franzosen bauen auf ihren Descartes wie auf solide Brückenpfeiler, die bis in die Moderne reichen.  Hier trägt kaum jemand einen Fahrradhelm, fährt niemand auf dem Gehweg, auch wenn es keine Fahrradwege gibt.
Rote Ampeln und Fahrspuren dienen lediglich als grobe Orientierung. Trotzdem funktioniert der Verkehr.  Selbst Kinder überqueren die Straße bei Rot und niemand regt sich darüber auf. Ich nahm den Bus zum Jardin des Plantes, um mich von der Frage abzulenken, weshalb so ein Verhalten bei uns undenkbar wäre.
Erschöpft vom Stadtlärm ließ ich mich auf eine Parkbank fallen.

Asseyez-vous, je vous en prie et parlez moi d`amour (Setzen Sie sich und erzählen Sie mir von der Liebe)

las ich auf einem kleinen Metalltäfelchen, das an unauffälliger Stelle auf der Sitzfläche der Bank angebracht worden war. Was für eine Begrüßung! 
Leichtfüßig sprang ich auf und verliebte mich sofort in weitere Parkbänke, wo spendable Pariser für ihren finanziellen Beitrag zum Erhalt des Gartens eigene Gedanken oder bemerkenswerte Zitate hinterlassen dürfen.
Mancher Besucher nickte mir amüsiert zu, weil ich vor den Bänken kniete, um die herzstärkenden Mittel auf den kleinen Täfelchen abzuschreiben.
Es sind zu viele, um sie hier alle wiederzugeben. Am besten kommen Sie selbst noch einmal nach Paris und testen die Wirkung, wenn Sie im Botanischen Garten von Bank zu Bank schlendern wie durch ein durch Fantasie geschütztes Areal. Hier ist vieles möglich, was außerhalb der Mauern, die den Park umschließen, schon wegen des Ausnahmezustands schwer vorstellbar ist.

Nous arrivons toujours à l`endroit où nous sommes attendus. (Wir kommen immer da an, wo wir erwartet werden)

Fast hätte ich den riesigen versteinerten Wirbelknochen übersehen, der wie ein Meteorit aus dem All in ein Blumenbeet gestürzt zu sein schien und als eine Art Mahnmal daran erinnert, dass Mensch und Natur irgendwann eine Einheit bildeten.  Gehörte der Wirbelknochen einst einem Pottwal? Ich weiß es nicht, aber zusammen mit Pfingstrosenduft, Buchsbaumornamenten und Orangerien ergab sich ein Szenario, das mir den Kopf verdrehte. Das Paradies schien kurzfristig um die Ecke zu liegen. Fast greifbar nah.
Mag sein, dass dieses Drehen des Kopfes die nötige Haltung ist, um den Glückszustand wahrzunehmen, den ich so oft vermisse. Wer stets absprungbereit lebt und das Aroma von frisch gepflückten Zitronen fast vergessen hat, wird schnell mutlos. 
Ich nahm mir vor, auf dem Rückweg eine Tarte Pommes et Compote zu kaufen.
Diese unvergleichliche Köstlichkeit müssen Sie unbedingt probieren. Auf einen knusprigen Mürbeteigboden wird zentimeterdick Apfelmus gelöffelt und mit hauchdünn geschnittenen leicht karamellisierten Apfelscheiben belegt. Ich schicke Ihnen das Rezept gern zu. Ein Biss davon genügt, und Sie sind…..Sie wissen schon wo.

à bientôt

Johanna 

«Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand», von Johanna Hansen illustriert

(Aus einem deutsch-amerikanischen Schriftwechsel, den Johanna Hansen mit dem Schriftsteller David Oates aus Portland/Oregon über zwei Jahre lang führte. Das Buch erschien im Wortschau Verlag mit dem Titel «Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand».)

Johanna Hansen, Schriftstellerin, Malerin, Herausgeberin, Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn. Lebt in Düsseldorf. Zunächst Sprachlehrerin und Journalistin. 1991 Beginn der künstlerischen Tätigkeit. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen. Seit 2008 literarische Veröffentlichungen als Einzelpublikation, in Literaturzeitschriften, Anthologien und auf Literaturplattformen. Seit 2013 zusammen mit Wolfgang Allinger Herausgeberin der Literaturzeitschrift wortschau. Mehrfache Auszeichnungen. Zuletzt Lyrikpreis Feldkirch 2024.

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Beitragsbild © Elena Hill