Eva Strautmann «Hinüber», Plattform Gegenzauber

Blick hinüber
in mattes Weiss,
Eierschalen, die brüten?
Davor funkelnde Stachel,
weitläufig vernetzt bis hinein in jede Membran verlorengegangener Körper.
Totgestellt, am Schwanken über unebenes Weiss.
Darunter schneeweiches Gestrüpp,
voller zarter kleiner Ästchen,
die hinausragen.
Nein, kleine Baumstümpfe wie Finger aus der Erde am Stechen,
lauthals `Du bist Schuld`.
Dahinter auf dem Transit direkt ins Fegefeuer?
Nein, lieber auf rot-blauem Teppich ins reichste Land der Welt.
Vergessen werden im Funkeln brauner Scham,
dann lieber Rennen, Wegrennen?
Abwarten, bis der Schrei aus alter Wagnis von oben hallt und dumpf aufstößt in leerem Gras,
versunken unter altem Wasser, 
am Baden in zu vielen Seen,
stülpt sich die Stimme `Du bist Schuld`,
springt im Galopp auf in den Himmel,
unsichtbar geworden.
Der Hall, das Summen, das Vergangene?
Hinter den kohleschwarzen Vorhängen ganz weit hinten am Horizont, 
da kommt sie her, die Stimme.
In die Schächte hineinspazieren an einem hellen Sonntagmorgen,
in den Kabinen verschwinden, `Bitte Ihren Ausweis`,
sich gegenseitig in die Augen greifen, dann vorbei an allen Kalaschnikows
im Tränentunnel,
hinaus blickend auf leere Straßen,
graues Gefieder.
Alles längst vorbei,
gewesen,
nur jetzt gerade hier, gleich ist alles wieder vorbei.
Weg.
Bis es trümmert von oben, von unten, von hinten, von vorne,
bis es trümmert.
Alles zertrümmert.

Abtraction Coloured, Öl auf Leinwand, 2025

 

Eva Strautmann lebte nach dem Abitur in Grossbritannien. Sie ist Autorin, Künstlerin und Dozentin. Während des Studiums der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin war sie zunächst als Tutorin und anschliessend als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin tätig. Nach ihrer Tätigkeit als Regieassistentin am Berliner Ensemble folgte ein Umzug nach Frankfurt am Main. Im September 2005 hatte sie eine grosse Einzelausstellung in der Heussenstamm – Galerie am Römer in Frankfurt am Main unter dem Titel „Im Schreiben gehen – Im Malen schauen», bei der sie Bilder und Prosa-Texte kombinierte.

Webseite der Künstlerin

Beitragsbild © privat

Eva Roth und Alice Grünfelder «Das Wetter in einem Jahr», ein Langgedicht

Januar

              Das Wetter hat kein Ende.
Der Himmel ist glatt.
              Wenn hinter dem Himmel nichts ist
              nur Blau und Sonnenschein
              schönes Wetter – 
Tagelang, wochenlang geht es so.

Februar

Die Wolken brechen,
als wären sie hart
darüber reißt der Himmel
schreit grell das Licht
darunter liegt milchig die Stadt.

              Ein Milan treibt zwischen den Giebeln
              kreuzt den Flug eines beschriebenen Papiers.

März

Sonniges Glück wird überschätzt.

              Sagst ausgerechnet du?

Mit dem Glück ist es wie mit
der Wolke am Himmel.

April

Tief hängt der Himmel und trieft
Autos rauschen im Kreis.

              Es rauscht in meinem Ohr.

Ein Funkeln drüben am Berg, eine Antenne vielleicht
vor uns ein Rest Landstraße.

Mai

Das Karussell dreht
singt vom Abendrot und wilden Pferden.

Wir lutschen an einem Herz und lachen,
als ob die Lichter niemals löschten.

              So flirrt die Nacht
              und zerrt an Sehnen, 
              Nerven, Lüsten, bis sie reißen.

Ich glaube an Drachenschnüre
und fürchte mich vor dem Sturzflug. 

              Aber wir fliegen nicht, wir hängen.

Wie ein Knäuel am Jo-Jo
drehen wir ein
drehen wir aus.
Wir zwei im Blitzlicht, nackt.

Wir drehen uns schwindlig

vergessen die Schnur und 
halten uns fest, du an mir und ich an dir.
Wir drehen uns atemlos.

              Bis das Jo-Jo in die Leine fällt

bis wir nachfedern
bis wir still hängen 
und die Sonne schwarz in den See fällt.

Juni

Nachts kommen sie aus Spalten und Ritzen 
huschen durch Rohre und Rinnen
verschwinden

              und lassen den Schwan auf der Wiese zurück.

Frisch gewaschen steht er im Scheinwerferlicht.

              Wenn das Geschrei anhebt
              flattern sie, drehen, keifen.

Wer?

              Die Verwandten der Ratten und Schwäne.

Juli

Schlamm wälzt sich uns entgegen 
dampft
wir drängen uns auf den Dämmen.
Ein Getöse hebt an. 
Ein Glockengeläut, ein Zittern in der Luft,
ein Grollen. Die tiefste Glocke setzt aus
stimmt wieder ein 
im Ohr verschwimmen die Klänge 
in die abrupte Stille hinein das Gurren einer Taube 
überlaut und wie von einem Band abgespult.

              «Geschätzte Zuschauerinnen und Zuschauer,
              der Sommer liegt über uns. 
              Wetter findet vorerst nicht statt.»

August 

              Der Alb hockt und wartet
              in verwirrenden Traumschluchten,
              verheddert sich in meinem Haar.

              Papierflieger schweben am Himmel meines Kopfes
              und weichen den Schreien der Nacht aus.
              –
              Ich gehe die Milchstrasse lang.

Du und das Morgenlicht. 

              Hell wird’s erst, 
              im Osten der Lastwagen hupt. 

Die Welt ist wieder da.

September

Wasser rauscht durchs Wehr. 

              Wichtiges gerinnt zu Nichts.
              Der Schnee fällt zu früh dieses Jahr.

Im Schmelzwasser pickt ein Huhn.

Oktober

              Scheinheilig legt sich Nebel
              über den Platz
              erstickt den letzten Sommertag.

Ich sticke den Sonnennebel auf ein Tuch.

November

Das ist Glück 

              wenn man einmal nicht erschlagen wird vom Totholz
              und einmal nicht ersäuft 
              im Novemberregen
              und einmal nicht in die Leitplanke rutscht
              im ersten Schnee.
              Das ist Glück und Gnade, 
              wenn man immer nicht stirbt.

 Dezember

              Nebelinseln überm See.
              Eine dunkle Gestalt
              segelt hinaus
              die Ohren voll Windgeheul 

stürzt sich über den Rand der Welt
wo sie die Morgenröte erwartet.

Die Welt hustet nur kurz,
bevor sie verschluckt wird.

Januar

              Müde klingt das Alphorn
              am oberen See.

Wir wissen, wenn wir lange genug
an der Wand stehen und das Gesicht
gegen Süden halten –
dass irgendwann die Sonne uns trifft.

***

 

Wie es begann? In einem Café, das es heute nicht mehr gibt, schlug Eva vor, dass die eine was schreibt, und die andere schreibt daran weiter; Miniaturen, die in Streichholzschachteln passen, schwebten ihr vor, ich dachte an Renga, das japanische Kettengedicht. Aufs Wetter kam ich durch das Buch „Wolkendienste“ von Klaus Reichert, und ich mailte Eva, wie es wäre, über etwas so Flüchtiges wie das Wetter zu schreiben? Ja, schrieb Eva, und wenn der Anfang nicht passt, schneiden wir ihn später einfach wieder ab. So sprachen wir miteinander in Gedanken ständig übers Wetter, formulierten um, probierten aus. Der Kommentar zum Wetter liest sich jedenfalls Jahre später noch wie ein Meta-Text zu diesem kollaborativen Projekt. Mal ist vom Pieselwetter die Rede, vom Husten und Niesen, Nesseln und Schlingen, von seltsamen Gestalten, die über den See wabern –  es ist hier und da eingeflossen in unser Wetterschreiben.

Bis ein Jahr um war.

Bis ich die Kleintexte in eine Datei packte und Eva mailte. 

Einmal gab es auch eine dialogische Version, die wir wieder verworfen haben. Schliesslich haben wir uns in einer «Werkstatt-Session» zusammengesetzt. Haben herausgeschnitten und neu kombiniert und umformuliert, bis kaum noch zu sehen war, welche Szene, welches Bild wem eingefallen ist. Und dann haben wir über Fanzines und Leporellos und Möwen am Bellevue nachgedacht, so ist die vorliegende Fassung entstanden, ein vierhändiges Stück.

© Donat Bräm

Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin (FU, Magister Artium) und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch Wolken über Taiwan (Rotpunktverlag) stand 2022 auf der Hotlist der Unabhängigen Verlage.

Webseite der Autorin

@ Micheline Oehler

Eva Roth ist 1974 geboren und in Schwellbrunn im Appenzellerland aufgewachsen. Später wohnte sie in Kreuzlingen und seit 2008 in Zürich. Sie schreibt Prosa und Theaterstücke für Kinder und Erwachsene. Von 1997 bis 2014 war sie als Primarlehrerin tätig, danach als Lektorin und Programmverantwortliche im Atlantis Bilderbuchverlag. Von 2009 bis 2011 besuchte sie den Lehrgang «Literarisches Schreiben» der EB Zürich, und 2018/19 war sie Teil des «Dramenprozessors» am Theater Winkelwiese Zürich. Seit 2023 ist sie freie Autorin, Lektorin und Übersetzerin. Sie hat zwei erwachsene Söhne und eine Tochter im Schulalter.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Kristin Valla „Ein Raum zum Schreiben“, mare

Ach, wie wunderbar die norwegische Schriftstellerin Kristin Valla schreibend vom Schreiben erzählt! Man möchte ein Haus kaufen … aber erst einmal dieses Buch!

Gastbeitrag von Frank Keil

Es gibt eine Art Schlüsselszene in Kristin Vallas wunderschönem Buch „Ein Raum zum Schreiben“, da kommt einiges mit einem Mal zusammen: das Gefühl, bald etwas Schwieriges geschafft zu haben, das Wissen, sie kann sich auf sich und sie kann sich auf die Welt verlassen, und eine tiefe Ruhe, auf der sich aufbauen lässt. Sie hat den Bus genommen, der vom Bahnhof aus fährt, in das kleine Dorf, in das sie muss; also sie hofft, dass er bis dorthin fährt, der Bus und sein Fahrer, die Schrift des Fahrplans ist so klein, dass sie die einzelnen, aufeinanderfolgenden Stationen nicht zu entziffern vermag, vermutlich fährt er nicht so weit, wie er für sie fahren muss. Und nun sitzt sie in dem Bus, der sie von Ort zu Ort schaukelt, längst ist es dunkel, am Ende ist sie der einzige Fahrgast, der noch in dem Bus sitzt, einen ganzen Bus hat sie für sich allein, und der Fahrer wird an den letzten Station, die er für heute anzufahren hatte, nicht anhalten, er wird weiterfahren zu ihrem Dorf, erst dort wird er stoppen, und er wird mit einem Lächeln sagen: „Ich konnte Sie ja nicht einfach da stehen lassen.“


Kristin Valla, die norwegische Schriftstellerin, die sich ein Haus in Südfrankreich angelacht hat, hat in diesem, ihrem Buch viel zu kämpfen: Wird sie es schaffen, sich einen Raum zum Schreiben zu besorgen, ihn zu gestalten und dann in ihm zu schreiben? 

Gewiss, man denkt bei dem Buchtitel schnell an Virginia Woolf und ihr programmatisches Buch „Ein Zimmer für sich allein“, dass man als griffige Parole auch dann verwenden kann, wenn man es gar nicht gelesen hat – und natürlich werden wir noch Virginia Woolf begegnen. Erstmal aber geht es um einen Raum im umfassenden Sinne und bald um mehr als das: Es geht gleich um ein ganzes Haus, mit Küche und Badezimmer und Schlafgemach und über allem ein Dach, aus dem es leckt und tropft und rinnt, wenn es regnet, und es regnet auch in Südfrankreich oft und dann zuweilen recht ausgiebig, wie wir lesen werden, und kalt werden kann es auch, dass man sich alles anzieht, was man an Kleidung mitgebracht hat von daheim, wo man eigentlich lebt und wohnt und seine Familie hat (einen Mann, zwei Kinder, zwei Jungs).

Ein Haus lernen wir kennen, dass sich eine Schriftstellerin erst wünscht, dann sucht, dann kauft, auch wenn es Schulden-machen nach sich zieht (ihr Mann bürgt für den Kredit, aber es ist vor allem ihr Haus, ihr Risiko), und die dann nach und nach realisiert, was ein Haus zu besitzen bedeutet – um einen Ort für sich und ihr Schreiben erst zu finden und dann zu haben.

Kristin Valla „Ein Raum zum Schreiben“, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Mare, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 34.50, ISBN 978-3-86648-737-6

Aber erst einmal sind wir noch in Oslo, Kristin Valla, die recht erfolgreich als junge Schriftstellerin gestartet ist (gleich ihr erster Roman „Muskat“ wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter ins Deutsche; auch der zweite Roman lief nicht schlecht), hat seit Jahren kein Buch mehr veröffentlicht und – was wichtiger ist – sie hat sei Jahres keines mehr geschrieben. Stattdessen hatte sie beizeiten für lange Zeit einen festen Job als Redakteurin angenommen; die Sicherheit, das monatliche Gehalt Jahr für Jahr, die Lebensverlässlichkeit, die damit einher geht, das hat nicht nur Charme, das ist auch gut, wenn man Kinder hat, die auf ihre Romane folgten. Nicht nur Schriftstellerinnen bleiben in dieser Falle hängen, aber meistens sind es doch die Frauen, denen es so ergeht. 
Immerhin hat sie diese Anstellung nun gekündigt, als wir lesend dazukommen, sie arbeitet jetzt frei und selbstständig für dieses und jenes Magazin, aber wer gut ist und wer schreiben kann, und das eine ist sie und das andere kann sie, der bekommt eben Auftrag nach Auftrag nach Auftrag, und auch so vergeht die Zeit. Literarisch schreiben? Es gibt da ein paar Ideen, auch Skizzen, erste Entwürfe, doch ein Buch wird daraus noch lange nicht. Man muss es auch schreiben.

Und dann gibt es diesen einen Abend (wieder ein Schlüsselmoment, wie überhaupt Schlüsselmomente sich durch dieses Buch ziehen), ein Abend, wo sie den großen amerikanischen Romancier John Irving moderieren darf, im örtlichen Literaturhaus, große Bühne also, viel Publikum. Und hinterher gehen sie etwas essen, das macht man so, ein junger Schriftsteller-Kollege kommt hinzu. Die beiden Männer unterhalten sich schnell über das Schreiben und also über das Leben, und sie hört still zu.

Und warum erzählt sie ihrerseits nichts, warum beteiligt sie sich nicht am Gespräch? Sie hätte durchaus etwas dazu beizutragen, sie ist doch eine von ihnen! Oder nicht oder nicht mehr? Und tief verstört über ihr eigenes sich-unwichtig-machen, geht sie nach diesem Abend-zu-dritt grübelnd nach Hause, und bald wird sie sich auf die Suche nach jenem Raum zum Schreiben machen, findet ihn in diesem seltsam verwohnten Haus in Südfrankreich (das einer Schweizer Familie gehörte, die es nicht mehr haben wollte, die es Hals-über-Kopf verliess, allen möglichen Krempel, liess die Familie zurück, nur weg! Ist das ein gutes Zeichen?) und dass sie nun gekauft hat, obwohl mehr als tausend Gründe dagegensprechen. Das Haus in seinem Zustand, etwa.
Sie wird viel weinen in diesem Haus. Und sie wird immer wieder aufstehen und sich die Tränen vom Gesicht wischen und dann irgendetwas machen: aufräumen (oder es wenigstens versuchen), die Wände streichen (die Küche etwa wird knallgelb), Vorhänge aufhängen (in einem Gebrauchtwarenladen erstanden und nicht bei IKEA, wie sonst manches, Decken und Kissen für das kommende Wohlbehagen); sie wird versuchen das Haus mal ordentlich durchzuwärmen, damit man es überhaupt in ihm aushält.

Und zwischendurch geht sie auf literarische Reisen und schaut nach schreibenden Frauen, die gleichfalls ein Haus oder manchmal auch ein ganzes Gehöft erworben hatten, in dem sie glücklich oder unglücklich wurden oder beides nacheinander oder beides zugleich: Tania Blixens und Suzanne Brøggers und Sigrid Undsets Häuser lernen wir kennen; das elterliche, zuvor in Konkurs gegangene Gut von Selma Lagerlöf wird uns nahegebracht; bei Marguerite Duras schaut Valla erzählend vorbei, die zeitweise einen alten Bauernhof auf dem Lande, eine Wohnung am Meer und noch eine Wohnung in Paris besass und die zwischendurch so runter war mit dem Leben und dann mit den Nerven, dass sie das Schreiben morgens mit dem Leeren einer ersten Flasche Rotwein begann, womit sie glücklicherweise eines Tages aufhörte. Und auch bei Virginia Woolf wird vorbeigeschaut (ebenso bei Doris Lessing, bei Patricia Highsmith, die zeitweise zurückgezogenst in einem verschrobenen Dorf lebte, ohne Laden, ohne Bäcker, ohne Schlachter), und immer wieder wird sie von diesen Ausflügen zurückzukehren in ihr eigenes Haus, immer auch ein wenig mehr als erholt, manchmal geradezu gestärkt von den imaginierten wie recherchierten Besuchen in den Leben und in den Häusern der Anderen.

Und wie sie davon erzählt, wie sie zwischen den Orten und den Leben schreibender und Häuser-besitzender Frauen hin und her switcht, das ist einfach ganz wunderbar, wie es überhaupt sehr tricky ist, dass Kristin Valla gar nicht viel über ihr Schreiben schreibt. Nicht, an was sie arbeitet, was das Thema ist, erfahren wir; was die Geschichte ist, die sie entwickelt, die Handlungsstränge, die sie auslegt, die Erzähl-Perspektiven, mit denen sie experimentiert, womöglich, solche Sachen. Kaum bis wenig bis zuweilen nichts wird davon erzählt, nur dass ein Roman erscheinen wird (der erste seit sechzehn Jahren!) erzählt sie uns zum Ende hin, als sie sich eingelebt hat in ihrem Haus, auch in dem Dorf, das zum Haus gehört, zu dem sie von Norwegen aus das Flugzeug nehmen muss und dann den Mietwagen, Oslo liegt nun mal nicht gerade um die Ecke, und in den Ferien kommt die Familie mit und stört sich nicht an dem Chaos, das sie umgibt, sondern genießt das sanfte Durcheinander, dass sie selbst so oft in den Wahnsinn wirft.

Stattdessen erfahren wir viel über feuchte Wände, in denen der Schimmel steckt, wie zu riechen ist, kaum ist man durch die Tür und hat man eingeatmet. Über Steckdosen, die nicht angeschlossen sind, schreibt sie; über Deckenbalken, die ausgetauscht werden müssen, was nicht so einfach ist, wenn es um darunter stehende, tragende Wände geht, was man da macht. Aber sie beisst sich durch, Kristin Valla wird eine richtige Handwerkerin (gleich zu Anfang kauft sie sich einen Bohrer und eine Latzhose), durchsetzungsstark auch gegenüber den professionellen Handwerkern, die sie immer wieder engagieren muss, weil das Haus mit seinen Schäden und Macken schlicht eine Nummer zu gross für sie zu seien scheint.

Und wenn sie so ziemlich gen Schluss, so viel soll verraten werden, kurz davor ist, dieses Haus zu verraten, fügt sich alles auf wundersame Weise, und man liest dieses Buch mit immer wachsendem Vergnügen und immer öfter ist da dieser heimlicher Gedanke, man sollte sich auch ein Haus kaufen oder wenigstens eines mieten, manchmal, vielleicht.

Kristin Valla, aufgewachsen im norwegischen Nordland, ist Autorin, Journalistin und Lektorin und schreibt u. a. für das Dagbladet Magasinet und das Kulturmagazin K der Zeitung Aftenposten. Mit ihrem Roman «Das Haus über dem Fjord» eroberte sie 2022 die Herzen deutscher Leserinnen und Rezensentinnen.

Gabriele Haefs, geboren am Niederrhein, studierte Volkskunde, Vergleichende Sprachwissenschaft und Keltologie. Heute lebt sie in Hamburg und ist seit vielen Jahren freie Autorin und Übersetzerin u.a. aus dem Irischen und Norwegischen. Ihre Arbeit wurde vielfach prämiert, u.a. mehrmals mit dem Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen.

Beitragsbild © Julie Pike

Astrid Ylva Dornbrach «Wenn wir schliefen», Plattform Gegenzauber

Vogelstill

Vogelstill
ist es in mir
und
wolkenschwer
hängen die
Gedanken
in Himmeln die
noch nicht
erschlossen sind
dem Winter
will ich sein
Eis abgraben
schürfen vom
Tag
was tiefer als
Kristalle liegt
schwerer wiegt
als Erde noch
von Laub
bedeckt
vogelstill
ist es
in Himmeln
die keiner
kennt
wo Eisluft
vor sich
sich hin treibt
und die Zeit
faltet
wie Papier

 

Tomaten schneiden

Schneide die Zwiebeln,
die Tomaten
Scharfes Messer dringt
nicht in mein
Fleisch
Roter Vogel über
dem Haus fliegt
ganz tief
Ich bleibe hier,
hier drin
bis ich das Geräusch
von Flügeln nicht
mehr höre
auf dem Dach

 

Wenn wir schliefen
(Über Dächern Schnee)

Der Schnee auf den
Dächern –
nackt –
die Konturen
unscharf
Wenn auch die
Krähen stumm
bleiben
gibt es nichts mehr
zu sagen

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch
nur schliefen

Wer weiß schon
wo wir hingehören
wenn kein Wind
mehr weht
und alles so
still ist

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch nur
schliefen

Ein Haus aus Glas
würde auch nicht
mehr zeigen
bei all› dem
Weiß und Grau
und Katzen hinter
Schornsteinen sind
unsichtbar

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch
nur schliefen

Vielleicht,
wenn wir schliefen,
könnten wir die
Farben sehen,
wie sie wirklich
sind

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch
nur schliefen,
träumten wir
die Krähen bunt.

Astrid Ylva Dornbrach (1965) wurde sie in Pirmasens geboren und wuchs dort auf. Nach der Schauspielausbildung in München kehrte sie in die Pfalz zurück und arbeitet als freie Journalistin unter anderem für die Rheinpfalz. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Tochter in Berlin. Ihre Erzählungen und Romane spielen häufig in der Pfalz. Ihre Texte sind in einigen Anthologien veröffentlicht, beispielsweise in der WORTSCHAU.

Beitragsbild © Astrid Ylva Dornbrach

Rebekka Salm & Markus Kirchhofer «Salmhofer» 6/6

Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.

 

kalte herbstwinde
wir bergen kastanien
aus trockenem laub

«für dich die Hälfte», sag ich
«bleib doch zum Essen», sagst du

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 6/6

 

Nach den Ferien
Die zarte Innenseite
der Muscheln streicheln

meine fingerkuppen er-
innern deine perlmutt-haut

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 5

 

der gittermastkran
überspannt den alpenkranz
milane kreisen

Dem Deckenventilator
im Neubau fehlt ein Flügel

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 4

 

Auf dem Wäscheberg
bei laufendem Staubsauger
schläft tief der Kater

du ganz ohr auf meinem bauch
die verdauungsgeräusche

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 3

 

zartblauer himmel
wolken wie wattebäusche
der geruch von heu

Dort, wo der Holunder blüht
liegt das totgemähte Kitz

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 2

 

Im dunklen Geäst
streiten sich Rabenvögel
Um das Stück Goldmond

geturtel am caquelon
gabelgefecht im käse

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 1

 

Was ist ein Tan-Renga?
Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt.
Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben.
Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.

In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.

Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag. 

Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.

 

Monika Littau «Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen», Plattform Gegenzauber

Sirren

Hinter der Haustür steht die Schwüle. In der Luft liegt ein hohes Sirren. Ein elektrisches Sirren wie Bauarbeiten. Eine Flex mit Wasserkühlung vielleicht. Ein Gerät in der Hand eines Wanderarbeiters. Unermüdlich tätig, sieben Tage, lange Tage. Zusehen, wie Blocks ausgeweidet werden. Zusehen, wie der Berg mit Türen und Zargen, mit Kloschüsseln und Waschbecken wächst. Wie die Berge verschwinden und neue Berge angehäuft werden. Paletten mit Material. Zusehen, wo bald neue Studenten einziehen können.

Ich gehe über den Campus. Ich gehe unter den Bäumen. Und Arbeiter sehe ich nicht. Ich gehe und treffe Konfuzius. Er wartet am Haupttor. Sagt, fordere viel von dir. Sagt, erwarte wenig von anderen. Sagt, erspare dir so viel Ärger. Ich nicke, ich gehe und sitze am Seerosenteich.

Das elektrische Sirren in der Luft, laut, als wäre es ein Flexkonzert. Ich blicke über den Teich und begreife, Bauarbeiter sind hier heute nicht. Schallplatten. Singmuskeln. Trommelorgane. (1) Es sind die unsterblich Geglaubten, die schon zur Han-Zeit als Zungenzikaden den Toten mitgegeben wurden, in der Hoffnung auf baldige Wiedergeburt. Es sind die Singzikaden. Die Männchen machen viel Lärm.

© Monika Littau

Nordtor

Dahin gehen, wo am Abend die roten chinesischen Zeichen in der Luft hängen. Am Nordtor unter den Augen der Uniformierten das Gelände verlassen, die Straße überqueren, erfahren, dass die Autos immer Vorfahrt haben und die Ampel kein Fußgängergrün zeigen wird. Vor der Glastür eines Ladens stehen, der wie geschlossen aussieht und bereits im Zurücktreten doch noch eine Bewegung drinnen wahrnehmen, als winke mir einer zu. Gegen die Tür drücken und eintreten. Da sitzt eine Frau an der Kasse und hält ihren Säugling auf dem Arm, den sie stillt. Und während ich mich im Laden umsehe und wähle und mich so gut es mit Gebärden geht, verständlich mache, trocknet sie dem Säugling den Kopf mit einem Papiertuch. Und während ich denke, jetzt wird sie das Kind von der Brust nehmen, gelingt es ihr auch mit dem Kind die Waren zu reichen, die Kasse zu bedienen, das Wechselgeld herauszugeben. Ich denke an Pu Yi, den letzten chinesischen Kaiser, wie er von seiner Amme als großer Junge gestillt wird. Ich denke an die Art Gallery unten am Meer mit den martialischen Darstellungen chinesischer Kämpfer, an den Soldaten, der schon tot, gestillt wird von einer Frau, einer Mutter. Pieta ohne Tränen.   

(1) Singzikaden erzeugen mit Schallplatten und Singmuskeln ihre „Musik“, sie haben ein Trommelorgan ausgebildet.  
(2)
Zikaden galten schon Platon (429-347 v. Chr.) als „Botschafter der Musen“ und „entkörperlichte Seelen“ . Etwas später datieren die aus Jade gesschnitzten Zungenzikaden (Han-Zeit, 206-220 v. Chr.), die man in China fand und dem Glauben an die Wiedergeburt Ausdruck verleihen.

aus «Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen», Schiedberg/Austria (Bacopa), 2019.

Monika Littau «Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen» edition offenes feld, 2021

Monika  Littau, 1955 geboren in Dorsten (D) schreibt u.a. Lyrik, Prosa, Romane und Kinderliteratur, erschienen sind mehr als 20 Einzelveröffentlichungen, zuletzt „Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen“ (2019), „Die sehende Sintiza“ (Roman, 2020) und „Manchmal oben Licht“ (Lyrik,  2021) sowie das „Lesebuch Monika Littau“ (2022). Für ihre Arbeit erhielt sie viele Auszeichnungen und Stipendien, bspw. den Förderpreis für Literatur des Landes Nordrhein-Westfalen und zuletzt den Bonner Literaturpreis (2021). Ihre Lyrik ist übersetzt ins Englische, Tschechische und Arabische.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Monika Littau

Yves Raeber zur Übersetzung von «Terres déclives» (deutsch: «Schieflage») von Thierry Raboud

Ich begann so, wie ich es bei meinen Prosaübersetzungen zu tun pflege, und hackte meine ersten Versuche in den Computer, löschte und überschrieb alles, wieder und wieder, verlor mich in meinen unzähligen Varianten. Und wurde stutzig. Etwas stimmte nicht. Terres déclives ist keine Prosa! Und es war meine erste Lyrikübersetzung.

«und alles finge von vorne an» 

Ich musste anders arbeiten und griff zum Kugelschreiber, kritzelte wild drauflos, füllte dutzende Heftseiten – ein bisschen so, als wäre ich selbst der Poet. Das fühlte sich zwar im ersten Moment besser an, doch das Ergebnis blieb meist Makulatur. Nachsichtig entzifferte ich meine Hieroglyphen, schaute grosszügig über gedankliche Schludrigkeiten hinweg, begnügte mich mit ein paar wenigen Zufallstreffern und kam wieder nicht weiter. Ich wurde erneut zum digitalen Worthandwerker, setzte mich vor den Bildschirm und arbeitete mich Silbe um Silbe, Wort um Wort, Zeile um Zeile vor. Doch wenn ich nach einer Pause wieder auf den Bildschirm starrte, erschrak ich: Wie schwerfällig und verschwurbelt meine deutsche Übersetzung doch war, kein Vergleich mit dem elegant dahinfliessenden, dabei komplexen Original. Ich musste genauer arbeiten! Noch besser erfassen, noch präziser begreifen, was das Gedicht wirklich erzählt. Ich fuhr zu Thierry Raboud, und wir arbeiteten das Original von Anfang bis Ende durch. Oft blieben wir an einer Stelle hängen, kamen nicht weiter, verloren uns im Dschungel der Assoziationen. 

parmi les collections
estampes pressées par le temps
lavis pâles sous la paume 
de notre oubli

bei den sammlungen
vom lauf der zeit 
plattgewalzter drucke 
unter der hand des vergessens 
vergilbter tusche 

Meinte Raboud mit «par le temps» entweder im Lauf der Zeit oder eher vom Lauf der Zeit, oder vielleicht beides oder noch etwas anderes? Wie konnte ich ihm auf Französisch den Unterschied zwischen den deutschen Präpositionen im und vom oder der in diesem Kontext schwerfälligen Variante durch erklären? Raboud hatte auf die meisten Fragen eine Antwort, und selbstverständlich wusste er, warum er ein Bild, eine Metapher, eine Assoziation, eine Assonanz, einen Zeilensprung, einen Reim gewählt oder was ihn dazu inspiriert hatte. Aber nicht immer. Manchmal war etwas einfach «entstanden». Bei den Dichtern ist das so. Wieder an meinem Schreibtisch stellte ich fest, dass seine Erläuterungen mir die Arbeit nicht nur erleichterten, sondern stellenweise auch erschwerten. Ich verstand zwar genauer, was in der einen oder anderen Zeile mitschwang, war aber noch immer von einem befriedigenden Resultat meilenweit entfernt. Verklumpt, verschwurbelt, verkopft erschien mir meine Übersetzung, die Lektüre würde abschrecken.

Also fing ich wieder von vorn an, und ich fand immer besser in die Spur. Mit Geduld – und, wie könnte es anders sein, ein bisschen Demut. 

je contourne les statues penchées
dont les visages s’effarent
et dévisagent sans plus de fierté
le vide des sentiers 
qui derrière les portes du musée 
s’ouvre 

ich meide die unsteten statuen
ihren kleinmütigen blick
aus blutleeren augen
auf die weglose ödnis 
hinter dem klaffenden
museumstor. 

Thierry Raboud «Schieflage», die Brotsuppe, aus dem Französischen von Yves Raeber, 2025, 72 Seiten, CHF ca. 26.00, ISBN 978-3-03867-105-3

Aber nicht immer nahm das Gedicht meine Übersetzungsvorschläge widerstandslos an. Es entwickelte ein eigenes Selbstbewusstsein und verbat sich, wenn es ihm gegen den Strich ging, etwas in sich aufzunehmen, was ich mir ausgedacht und doch so gut «gepasst» hätte. Ich musste, stellte ich fest, nicht nur in Rabouds Originaltext hineinhorchen, sondern auch auf die Übersetzung hören, mit ihr in Dialog treten und, wenn es hart auf hart käme, ihr ein Zugeständnis abringen. Gebundene Sprache lässt sich nicht auf jede Bindung ein.

Immer klarer wurde mir auch, dass die «Beziehung», die ich mit Terres déclives einging, anders geartet war, als ich es von einer Prosaübersetzung her kenne: Lasse ich mich bei der Arbeit an einem Roman gerne von der Handlung, der Thematik, von einem Schicksal oder der Stimmung eines Texts berühren, so war es hier das Wort, das mich leitete, mir Räume öffnete oder verschloss, die Wucht der Wörter, die in mir Frohlocken oder Verzweiflung auslösten. 

Nicht immer konnte ich die Komplexität eines Sprachbilds übertragen: 

les tableaux seuls
ont gardé leur aplomb
leur horizon en droit-fil
cisaille le ciel et la terre
de rectitude insolente
alors que
tout penche 

nur die bilder
bleiben im lot
dreister schnitt
zwischen himmel und erde
ein rechthaberischer horizont
wo doch
alles wankt.

«en droit-fil» ist ein Begriff aus dem Textilwesen und bezeichnet den Schnitt quer durch den vertikalen Fadenlauf eines Stoffs. «cisailler» heisst zerschneiden, durchtrennen. Raboud beschreibt damit den Schnitt oder Riss zwischen Himmel und Erde. Im Deutschen ist das in knappen Silben nicht zu übersetzen. Ich entschied mich deshalb für «dreister schnitt/zwischen himmel und erde», was sich zwar vom Original entfernt, aber dafür den aggressiven Charakter der französischen Zeile wiedergibt. Im Netz fand ich dazu ein Zitat aus einem diplomatischen Gespräch, in dem der Ausdruck im Sinne von «korrekt, aber rücksichtslos» verwendet wurde, was zu meiner Entscheidung beitrug.

Manchmal erschwerte ich mir die Arbeit auch unnötigerweise. Für «éclairs pâteux» hatte ich lange pastose Erleuchtung stehen, ein schwerfälliger, sich aus der Polysemie des Originals erklärender Neologismus: Bei Raboud stehen die «éclairs» sowohl für Blitze auf einem Ölgemälde wie auch, leicht ironisch, für geistige Erleuchtung. Das Adjektiv «pâteux» bedeutet teigig, dickflüssig, träge; «avoir la langue pâteuse» bezeichnet eine nach übermässigem Alkoholkonsum schwere Zunge. Irgendwann war ich bei gelallten Züngeleien, und damit völlig im Abseits. Als ich mich kurz vor der Textabgabe für das Einfachste und Naheliegendste, für die wörtliche Übersetzung pastose Blitze zurückentschied, atmete auch der Verleger auf. 

Ein Jahr später erschien das Buch, und ich erinnerte mich an die Titelsuche. Schieflage war mir früh eingefallen, doch ich fand es zu journalistisch, eine Überschrift allenfalls für eine Zeitungskolumne. Ich versuchte es mit Erde, mit Plan, Terrain oder Ebene. Auch Hanglage kam nicht infrage, falsches Bild und anderweitig besetzt. Abschüssiges war mundartlich konnotiert, und als auch der Verleger nicht weiterkam, holte ich die Schieflage wieder aus der Versenkung und wusste gleich: Der Titel passt. Er leistet genau das, was ich brauche, er löst das Gedicht aus der «hohen leiste der letzten zuflucht» und verlagert es in eine schnörkellose Sachlichkeit. 

«et tout recommencerait»

Thierry Raboud, 1987 in Martigny geboren, gehört zur Nachwuchsgeneration der Lyriker in der Westschweiz. Seine erste Gedichtsammlung, «Crever l’écran» (Ed. Empreintes), wurde mit dem Prix Pierrette Micheloud gewürdigt. Als Literaturkritiker und Musiker ist er auch im Bereich Performance und Installation tätig. Im Jahr 2023 war er Preisträger eines Kulturstipendiums der Fondation Leenaards. Seine Gedichte wurden auch ins Italienische übersetzt (Ed. Valigie Rosse).

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und literarischer Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. Für die Übersetzung von «Die Panzerung» («Béton Armé») von Philippe Rahmy wurde ihm 2019 von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung verliehen.

Rezension von Daniel Graf in der Republik

Sofie Morin und Ulrike Titelbach «Nachtschatten im Frauenhaarmoos», Edition Melos

Sie haben mich eingerankt und ein bisschen eingewildert auch, die beiden österreichischen Lyrikerinnen Sofie Morin und Ulrike Titelbach mit ihrem im März 2025 in der Edition Melos (Wien) erschienen «Nachtschatten im Frauenhaarmoos».

Gastbeitrag von Christine Zureich

Als Phytopoetische Dialoge werden die aufeinander bezogenen Texte im Untertitel angekündigt und schon das Cover mit dem Gemälde «Flora» von Bartolomeo Veneto deutet auf eine mögliche weitere passende Wortneuschöpfung mit vegetabilem Präfix hin: Phytoerotik. Neben dem vermeintlich unschuldigen Blumensträusschen geht es in dem Band um Körper, um Geschlecht, um «Artigkeit»: Wer ist hier die Pflanze, frage man sich beim Lesen an mancher Stelle? Und vielleicht ist das Fragezeichen ein eingerolltes Farnblatt: 

«Nur diesen einen Augenblick entfernt vom Ausbreiten der Arme. Doch noch ist alles Ornament.» Tracheophyta/Farn

Pflanzen (und Tiere) haben in den vergangenen Jahren einen guten Boden gefunden, sich auszuwildern aus der Fachliteratur und Rosamunde Pilcher hinein in die Literatur und Lyrik, so etwa auch Morins Lyrikdebüt «Liebeleien mit Wuchsformen, eine translibidinöse Pflanzenkunde» (2024 bei Edition Arthof). Das Besondere am vorliegenden Band ist, dass er von Anfang an in Zusammenarbeit entstanden ist, jeder Text von vornherein bezugnehmend auf einen anderen, auf die zweite Autorin. Hier bereitet die eine Schreibende den Boden für die andere, nährt sie, gibt Rankhilfe. Stutzt vielleicht an mancher Stelle. Nein, diese Sprache ist zu gärtnerisch, zu hierarchisch: die Texte existieren in einer Symbiose, die eine Autorin macht die Texte der anderen möglich. 

Jedes der 28 Gedichte ist eine Pflanze. Botanischer Name und gebräuchlicher deutscher Name als Titel vorangestellt und danach das Zusammen (mehrständig) der beiden Schreibenden. Die Autorinnenschaft der einzelnen Teilabschnitte einer Pflanze ist je mit dem hintenan gestellten Vornamen dezent markiert.

Verbunden sind die Abschnitte jeweils nicht nur über den gemeinsamen Gegenstand, auch die explizit in Dialog tretenden Lyrischen Ichs und Dus weben den Zusammenhalt. Wobei dieses Du in einigen Fällen nicht die andere meint, sondern die Pflanze selbst angerufen wird, was die Pflanzen menscheln lässt und umgekehrt, der anwesenden Anderen (auch der/dem Lesenden) etwas Pflanzliches zukommen lässt, und es zuweilen keine Dialoge sondern mindestens Trialoge sind, die sich da verwurzeln. Auch ist das «Ich» kein konsistentes, mal scheint es ein zeitgenössisches, durch popkulturelle, musikalische Referenzen nahelgelegt, etwa wenn in Chenopodium bonus-henricus/Guter Heinrich auf Depeched Mode verwiesen wird (Master and Slave, natürlich: Heinrich, der Wagen bricht…), oder Bob Dylan (Löwenzahn). Dann wieder scheint es ein in Kriegszeiten darbendes (Cichorim intybus/Wegwarte). Echte Wechselbälger, sind diese Ichs und Dus, wie das Zweiblättrige Schattenblümchen (Maianthemum bifolium) S. 52: 

«ein Wechselbalg, ist den Farben untreu, das wohl – doch niemals der Erde, die alles Wachstum trägt.»

Sofie Morin, Ulrike Titelbach  «Nachtschatten im Frauenhaarmoos. Phytopoetische Dialoge», Edition Melos, 96 Seiten, CHF ca. 42.00, ISBN 978-3-9505758-0-4

Ein wenig erinnert diese Sammlung an die Blumenkunden früherer Zeiten, in denen jeder Pflanze eine eigene Botschaft zugesprochen wurde, eine weithin verstandene Bedeutung (nicht nur in der Kunstwissenschaft auch in der breiten Bevölkerung: Sag es durch die Blume…). Heute kaum vorstellbar, dass es Zeiten gab, in der alle erstens die Pflanzen und zweitens ihre Bedeutung wiedererkannten. Einen Strauss lesen, den sie bekamen, Schlüsselblümchen entschlüsseln, nicht nur rote Rosen.

Im Garten (oder besser: der ankultivierten Wildnis) den Morin und Titelbach für uns anlegen, breiten sich rhizomatisch neben Kinderpflanzen, also solchen «die mir von der Wiege ans Herz gelegt» (Vergissmeinnicht), Gänseblümchen, Löwenzahn, auch solche aus, für die mir das Bild fehlt, die ich nicht sogleich erkenne, und ich ertappe mich dabei googlen und mehr wissen zu wollen, auch vielleicht um den beiden Autorinnen auf die Schliche zu kommen. Es ist ein neckendes Spiel: wieviel der Geschichten, der Bedeutungen, der Kontexte und Zuschreibungen ist erfunden?

«Es ist alles nicht wahr und traut sich doch keine Lüge zu.» (14)

Und es ist gut, sind keine Bilder dabei, denn die hier erschriebenen Exemplare ihrer Art entfalten ein ausgeprägtes Eigenleben, nicht unbedingt klar ist, ob es sich noch um Pflanzen handelt, oder Figuren, anthropomorphes Gedichtpersonal und wo verläuft überhaupt die Grenze? Und braucht es diese Grenze überhaupt? Viele der Texte greifen die Nonbinarität der Pflanzen auf und ich meine auch ein Infragestellen der Artengrenzen zu lesen, eine umfassende Queerness vielleicht, die bei vielen Texten mitschwingt, ein Widerwille, alles einzukasteln. 

«Möchte das Fürwort wählen und auch finden, das jetzt und heute für sie spricht. Doch ist es steter Wandlung unterworfen.» (Arisaema franchetianum/Feuerkolben)

Und so gesellt sich neben botanisch präziser Sprache – Morin ist studierte Biologin – ornamental Poetisches, das sich gegen die Taxonomie auflehnt, die Schubladen gerade so wieder aufbricht.

Viel Analogiezauber ist drin in diesen Texten, der zwischen äusserlich ähnlichen Dingen eine Verbindung behauptet, wenn das Rot der Pflanzen für Blut steht und Pflanzenteile menschliche Geschlechtsteile suggerieren. Ein making kin (Donna Haraway) ist das auch. Sich vertraut machen, in Austausch gehen, das andere werden, eine Symbiose von Lebewesen unterschiedlichster Arten. Vielleicht sogar ein bisschen plant porn (könnte das ein neues Genre sein? Und das griffe hier doch viel zu kurz, obwohl ein bisschen davon in einer campy Spielart anklingt.) 

«Nachtschatten im Frauenhaarmoos» jedenfalls entfaltet ein Gegenprogramm zum othering, diesem Entmenschlichen, dem Entwesentlichen eines Gegenübers, um es mit Gewalt sich untertan machen zu können. Stattdessen höre ich den poetischen Aufruf, alles Wachsende und Seiende samt unterirdischer, gefährlicher Teile zu umschliessen. Das Veränderliche, den Wandel. Dass ständig alles anders ist. Nicht leicht zu klassifizieren und in Umkehr zum landläufig Gedachten. Wie auch in diesem Zitat, mit dem ich hier abschliessen möchte. Eine Pflanze ist nicht immer immobil im Gegensatz zum Menschen:

«Morgen wirst du dir die Flughaut deiner Ahnen wachsen lassen und ich bleibe staunend zurück mit geerdeten Sohlen.» (Astrantia maxima/Sterndolde)

Sofie Morin, geboren 1972 in Wien, lebt bei Heidelberg. Studienabschlüsse in tierischer Verhaltensforschung und menschlicher Philosophie an der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzprosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. 2022 drei Arbeitsstipendien für Literatur der österreichischen Bundesregierung.

Ulrike Titelbach, geboren 1971, lebt, forscht und arbeitet in Wien. Sie ist Autorin, Herausgeberin sowie promovierte Germanistin und lehrt am Institut für Deutsche Philologie der Universität Wien (unter anderem Literatur und Kreatives Schreiben). 2021 erschien ihr erster Lyrikband »Fragile Umarmungen«. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie verschiedene Preise und Stipendien, unter anderem 2023 das Arbeitsstipendium für Literatur der Stadt Wien sowie den Publikumspreis beim Feldkircher Lyrikpreis.

Volkmar Mühleis «Die Augenweide», Plattform Gegenzauber

Naumburg

Aus dem Stadtpark klingt leise Reggae-Musik
verhaltenes Lebenszeichen
in dämmriger Stille

wer wollte hier schlafende Hunde wecken
sie scheinen alle begraben

versprengte Passanten schleichen durch die Gassen,
in einer Kampfsportschule beginnt der Unterricht,
morgen ist wieder Theater,
dann geht es nahtlos weiter
über Kopfsteinpflaster im Tänzelschritt
Arm in Arm

Nietzsche erhebt sich von seinem Denkmal
spricht mit Blei im Mund
vom dionysischen Glück

dreht die Musik auf!
würde er rufen, 
mit an der Pfeife ziehen
und den Mond anheulen

wollt ihr denn alle begraben sein?
und aus den Fenstern schauten die Neugierigen,
ein Jurist des Gerichts stürmte herbei
den morgigen Tag schon jetzt zu vergessen

sich selbst nicht mehr fremd sein,
ob unter Gestrandeten im Park
oder vor Ort Versandeten –

In deinen tränenfeuchten
Augen ruht ein Blick,
der schmerzlich, herzlich
dir und mir verwehte Leiden,
verlorne Stunden und zerronnen Glück
zurückrief beiden. –

 

Tiergarten

Sie alle bleiben vor der Magnolie stehen
sie ist die einzige Attraktion
zwischen Pariser und Potsdamer Platz,
Schloss Bellevue und Schöneberg

im Halbrund der hohen Eichen
blüht sie zum Ostergruß
dem japanischen Paar wie
einer Gruppe dänischer Radfahrer,
die hier posieren
für ihr Souvenir
und sie bedanken sich bei mir
für das Bild

von der Luiseninsel
klägliches Hundegewinsel
eine schrille Stimme keifert und schreit

ich schaue in mein Buch
lese den Stummfilm
aus schwarz-weißen Zeichen
ein stiller Souffleur vor dem Halbmond der Eichen
ins eigene Spiel vertieft

ein Specht hämmert zur Pause
mitten im ersten Akt,
ein Rapper seines Fachs:
drei schnabelschnelle Schläge
BAUM BEAT BOX
       unermüdlicher Rave
unter freiem Himmel

hunderte rosaweißlicher Blütenkelche
applaudieren im Licht, leuchten auf 
im milde lächelnden Wind

der Souffleur verlässt die Bühne
drei englische Damen suchen nach dem Weg,
im Trippelschritt nie stehender Jogger

eine gescheckte Elsterkrähe
trippelt in ihre Nähe
doch nichts fällt für sie ab
der Nächste kommt und bleibt vor der Magnolie stehen

wie ein Baum, der das Zittern nicht kennt
denkt er sich
Wurzeln, eine Aufenthaltsgenehmigung
unter der Erde,
Vorfahren, die einem das Leben schenken –
nicht weiter denken

auf der Krim sind Freunde von ihm stationiert
die Verteidigung seiner Doktorarbeit steht kurz bevor
und dann geht es zurück in die Heimat, in ihren
neuen
      unausweichlichen                          
                              Grenzen

 

Die Augenweide
nannte sie ihr Geschäft
eine Mischung aus Café
und Buchhandlung

wir kannten uns beim Namen
sie verkleinerte ihren Laden
blieb in Bücher gekleidet,
eine stille Augenweide

der letzte Lehrling
wurde ihr Nachfolger,
ließ das Schaufenster aufblühen,
die Wände streichen

sie selbst zog sich zurück,
verschenkte ihre Bücher

heute ist sie mir auf der Straße begegnet
und erkannte mich nicht


wie in der Verpuppung erstarrt,
spannte sich ihr Anorak zur Hülle,
hielt sie die Plastiktüte fest

ich lief nicht hinter ihr her,
blieb in der Vergangenheit
und sah ihrer Gegenwart nach,
mit unsicherem Schritt
über die Gleise

 

Straßenfest

Der Baum schmiegt sich ans Haus
                      die Wärme seiner Steine
                                     Blütenäste greifen aus
              durch die gespannte Leine
                                     quer über den Asphalt
                                           flattern bunte Tücher
                       zwischen den Ballons

    ein Kind hält das andere fest,
                                        sie drehen sich im Kreis,
                                              kreiselkreideweiß

 
                  während die anderen hüpfen
                    drei vor und zwei zurück,
                       mit oder ohne Gummi
                        ein Tanztheaterstück

      „Jetzt bist du dran!“
            zeigt ein Mädchen auf mich
                   und alle lachen –
                         auch ich

 

Februarmorgen am Rhein

Schillernde Schieferschatten,
fließende Furchen

vom Grau des abziehenden Regens getränkt,
wälzen sich unter der Last der Kähne
Stromschnellen und -wellen
durch die Tiefe des Tals

Ausläufer der Schmelze in den Bergen
von Schnee und Gletschereis
ausblutende Wunden
immer schärferen Lichts

wie es von neuem durch die Wolken bricht
blendend grell den Blick verengt,
über den Flussteppich tanzt
in Silberschleifen

als wären die Schiffe
  ohne Schwere und Kraft,
       nur behäbige Masse
              unbändiger Energie,
                      Luftspiegelungen
                          im Funkenschlag –

               die Augen schließen
                  vor dieser Wirklichkeit

                in sich
                  vor Anker gehen

 

Interview zum Gedichtband

Volkmar Mühleis, geboren 1972 in Berchtesgaden, lebt und arbeitet in Brüssel, wo er an der Kunsthochschule LUCA School of Arts Philosophie und Ästhetik unterrichtet. Zu seinen literarischen Buchveröffentlichungen gehören die Gedichtbände «Fête de la Musique» und «Gesichtsverlusterkennung» sowie das «Tagebuch eines Windreisenden» und die Novelle «Wasserzeichen».

Webseite des Autors

Herzliche Grüsse aus Shkodër, Albanien III

Lieber Gallus,

unterdessen habe ich Albanien erreicht:

Nichts weiter als einen halbwegs ungenutzten Quadratmeter auf dem Bürgersteig hat sie nötig, und sie arbeitet ohne je zu murren, ohne jede Pause: die Waage. Auf den Bürgersteigen Shkodërs, die immer auch Verkaufsfläche, Parkplatz und geselliger Treffpunkt sind, finden sich unzählige mit Münzen dekorierte Waagen. In der Regel steht neben der Waage ein Stuhl, die Einrichtung insgesamt kommt aber ohne Personal, ohne Erklärungen aus.

Wer sich wägen lassen will, stellt seine Tasche, welcher damit die Unannehmlichkeit erspart bleibt, den womöglich schmutzigen Boden zu berühren, auf den Stuhl, legt eine Münze auf die Waage und stellt sich – neben oder auf das versammelte Kleingeld – auf die vorgesehene Fläche und lässt die Schwerkraft ihre leichte Arbeit verrichten.

Wer mit der vorerst unbestechlich bleibenden Angabe des Gewichts nicht zufrieden ist, kann sich sowohl sogleich wie auch im weiteren Verlauf des Tages gemäss den eigenen Bedürfnissen mit der Einbildung verbrüdern, welche besagt, dass all das auf der Waage liegende Kleingeld sicher richtig schwer sei.

Thierry / Urs

Urs Mannhart, 1975 geboren, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in La Chaux-de-Fonds. Zuletzt erschien bei Secession „Gschwind oder Das mutmaßlich zweckfreie Zirpen der Grillen“ und bei Matthes und Seitz „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Urs Mannhart