Elise Schmit «Kleine Farbenlehre», Plattform Gegenzauber

Der zweite Eimer war einmal weiß. Er gehört zum Haus, er steht in der Ecke hinter den Fahrrädern. Dort steht auch ein Besen mit abgebrochenem Griff, eine Schneeschaufel, ein halbvoller Sack Streusalz. Die Fahrräder sind blau, im Prinzip, aber immer schmutzig; die Hausbewohner fahren über Feld- und Waldwege damit, kann man sich vorstellen, es kleben Schlammspritzer daran und manchmal Gras oder welkes Laub. Ich fege einmal über die Reifenprofile, ohne die Räder zu bewegen, ich fege die abgefallenen Erdkrumen unter den Gestellen zusammen, so gut es geht. Die Luft zieht unter der Hintertür herein, zerstreut den Schmutz und treibt ihn in neuen Anordnungen zusammen, fügt noch weiteren hinzu, Zigarettenstummel, Taubendreck, Grind von der Straße. Der Kellerraum gehört nicht zum Auftrag, aber es ist besser, ihn sauber zu halten, wenigstens einigermaßen, wenn es regnet vor allem, wenn feuchte Schuhsohlen die Brösel als Abdrucke im ganzen Haus verteilen.

Ich lasse Wasser in den zweiten Eimer laufen, obwohl er nicht mir gehört und nicht der Arbeit, das darf ich eigentlich nicht, das Eigentum der Hausbewohner ist unantastbar, aber den Eimer mit nach oben zu nehmen spart mir einmal Hinab und Hinauf, spart also Zeit, spart das Geld der Hausbewohner, so denke ich. Der Arbeitseimer glänzt speckig, neu und türkis. Unsere Eimer werden regelmäßig ersetzt, damit wir die Firma nicht blamieren. Sauber, sauber soll alles an uns sein, als wäre das eine ungebührliche Unterstellung, dass eine Putzfirma den Dreck anderer Leute aus den Häusern trägt.

Meine Gummihandschuhe sind gelb. Es gibt auch grüne Gummihandschuhe, die sind besser, die liegen enger an und man rutscht nicht überall ab damit, aber die grünen Handschuhe sind teurer als die gelben, die müssten wir uns selbst mitbringen, wenn uns die gelben nicht gut genug seien, heißt es aus dem Büro, mit freundlichen Grüßen. Die gelben Handschuhe werden regelmäßig ersetzt.

Die Eimer nicht zu voll, damit das Wasser nicht überschwappt und die Schultern nicht schon schmerzen, bevor man richtig angefangen hat. Ein Eimer mit Lauge, ein Eimer mit Wasser zum Nachwischen. Das Mittel kommt aus einer Flasche mit grasgrünem Etikett, das ist dem Kunden wichtig, sagt das Büro, dass wir etwas für die Umwelt tun.
Man fängt oben an. Oben in diesem Haus steht eine Garderobe auf dem Absatz vor der Tür, ein schmaler Schrank, ein Schuhregal. Ein Regenschirm lehnt an der Wand. Mobiliar im Gemeinschaftsbereich ist in all diesen Häusern untersagt. Wir verstehen das Problem und die Überlegung, knappe Wohnfläche, es geht nicht höher hinauf, also kein Durchgang, also stört man niemanden, so werden die sich das vorstellen, aber wir ärgern uns. Man braucht länger zum Wischen. Man kann sich die Beschwerden schon denken, die einem später das Büro mitteilen wird. Die Stelle mit dem Regenschirm spart man garantiert aus. Man muss aufpassen, dass man keine Dellen und Wasserflecken hinterlässt. Man muss sich diese Anzeichen von Wohnlichkeit ansehen, man muss sich jemanden unter diesen verblichenen Turnschuhen vorstellen, einen dünnen Mann stelle ich mir vor, mit sehnigen Armen und wochentags glattrasiertem Gesicht, einen Mann, der auch am Wochenende früh aufsteht, um durch den Park zu laufen in extra Sportkleidung, und gar nicht richtig ins Schwitzen kommt, stelle ich mir vor, und am Ende seiner Runde beim Bäcker Croissants holt für die Frau mit den drei Paar Stiefeln und das Kind, das hier auch wohnt und etwa sieben Jahre alt ist, kann man sich denken, ein blaues und ein braunes Paar Schuhe, Mädchen oder Junge, das weiß ich nicht, die Regenjacke hellrot, das ist uneindeutig, sein Kind oder nur das der Frau, oder umgekehrt, auch das weiß ich nicht, das will ich gar nicht wissen, dann beruht genug Nichtwissen auf Gegenseitigkeit.

Die meisten Bewohner bekommen mich nicht mit. Wenn alles gutgeht, verschwinde ich in meiner Arbeit, bin wie nie dagewesen, Sauberkeit sieht man nicht, nur den Dreck. Wüsste man’s, wenn man die Eimer sähe? Was sagt der zweite Eimer über mich, was sagt das Einsparen von Anstrengungen, was sagt die Farbe meiner Gummihandschuhe? Vielleicht ist das offen, eine Kreuzung, an der alles Mögliche zusammenlaufen kann.

Von rechts nach links, links nach rechts mit der Bürste, so die Treppenstufen hinab. Die Stufen sind dunkelgrau gefliest, man sieht jede Spur, wer sich Dunkelgrau ausdenkt für Treppen weiß nichts von Eimern und Gummihandschuhen, den Schmerzen im Nacken und im Kreuz. In diesem Haus muss ich mit klarem Wasser nachwischen, die Seifenlauge hinterlässt sonst Rückstände, und dann heißt es: die vom Putzdienst machen ihre Arbeit nicht, die schieben nur schnell den Dreck hin und her. Ich hebe den Fußabtreter auf und stelle ihn zusammengerollt auf die Kante, schiebe die Borsten und Krümel auf der Schaufel zusammen, die Schaufel ist aus neu glänzendem Plastik, türkis wie der Eimer. Ich wische eine klare Linie von der Tür bis zum nächsten Treppenabsatz. Der Fußabtreter ist sandfarben mit schwarzer Borte. In der Mitte steht ein einfältiger Spruch, der nicht mir gilt. Bevor ich gehe, werde ich den Fußabtreter zurücklegen, aber andersherum, so dass sich der Spruch der Person zuwendet, die aus der Wohnung hinaustritt, die hat mehr davon.

Von rechts nach links, links nach rechts mit der Bürste, weiter die Treppenstufen hinab. Nicht zu fest, nicht so, dass die Bürste gegen die Kanten knallt. Die Türen bleiben zu, aber manche melden sich im Büro, das ist zu laut, sagen sie, das stört uns beim Verrichten wichtiger Dinge. Dabei bin ich allein gar nicht laut. Wenn er mitkommt, dann ja, wenn er nicht auf mich hört, wenn ich sage, er müsse stiller sein, wenn er, was er immer tut, die Teppiche kommentiert und die Schuhe, die Namen auf den Klingelschildern. Er kommt zum Helfen mit, wie er sagt, damit mir die Arbeit schneller von der Hand gehe, damit meint er nicht, damit ich schneller fertig sei und Zeit hätte für Eigenes, Spaziergänge oder Sport oder was die Leute in ihrer Freizeit tun, sondern dass ich danach außerhalb der Firma Aufträge annehmen, mehr Geld verdienen könne, das meint er, dass wir „uns was leisten“ könnten, zum Beispiel eine Reise zu den Eltern oder einen größeren Fernseher oder vielleicht irgendwann ein Auto, das nicht alle paar Wochen einen neuen Schaden hat. Der Fernseher interessiert mich nicht und mit dem Auto lässt er mich dann doch nicht fahren, nicht einmal zum Supermarkt. Wozu es denn Busse gebe, wozu denn unnötig Benzin verfahren, der Bus halte doch alle halbe Stunde fast direkt vor der Tür. Sein Auto ist grau, er nennt die Farbe „metallic“. Das Auto wäscht er jeden zweiten Samstag ab, auch im Winter, er hat extra Schwämme und Lappen dafür. Danach ist er gut gelaunt. Er fährt zu seinen Freunden und lässt mich mit seinen Kindern allein. Ich müsse nichts machen, sagt er, ich könne gern fernsehen, die Kinder kämen allein zurecht und schließlich habe jedes ein Zimmer für sich, ein eigenes Zimmer, das habe es in unserer Kindheit nicht gegeben. Er sagt das, als wüssten Kinder nicht, was ein Dachboden sei, und als müsste er nicht im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen. Er sagt es, als wären wir alt jenseits von Wünschen für die Zukunft.

Der Fernseher nimmt das halbe Wohnzimmer ein, ein großes schwarzes Fenster ins Nichts. Wenn er keine Aufträge habe, müsse er sich beschäftigen, sagt er, aber bewegen könne er sich nicht, weil ihm von der Arbeit die Anstrengung noch in den Knochen stecke, ganz tief in den Knochen, das könne ich mir gar nicht vorstellen, diese Müdigkeit immerzu. Ich sage nichts. Ich koche und putze und beziehe die Betten neu.

Manchmal, wenn wir uns vertragen, setze ich mich neben ihn und sehe, was er sieht auf dem großen Bildschirm. Manchmal bringe ich ihm ein Bier aus dem Kühlschrank und nehme mir auch eins. Wenn die Mutter uns sähe, sagt er dann, wie wir hier sitzen. Wie wir hier sitzen, sage ich, wie wir die Flaschen ohne Untersetzer auf den Tisch stellen, das gäbe schön Streit. Dann lachen wir beide.

Sie dürfen Ihren Mann nicht mit zur Arbeit bringen, heißt es aus dem Büro, aber er ist nicht mein Mann, er ist mein Bruder, einen Bruder wird man nicht los, schon gar nicht, wenn man das Haus der Eltern mit ihm teilen muss, weil es sonst nicht geht, weil man leider sogar Geld braucht, bevor man sich ein Haus aufteilen kann, das einem schon gehört.

Für die letzten beiden Treppen lasse ich frisches Wasser in die Eimer laufen, denn unten ist es schmutziger als oben, dort kommen mehr Menschen vorbei, einfache Rechnung. Wenn jetzt nur niemand hinausmuss. Wenn jetzt nur niemand hereinkommt und über die feuchten Fliesen stapft. Aus der Wohnung im Erdgeschoss riecht es nach Essen. Eine Frau singt ein Lied aus dem Radio mit. Leise, leise wische ich an der Türkante vorbei, damit sie mich nicht hört und mir einen Kaffee anbietet. Sie hat das schon mehrfach versucht und sah ehrlich enttäuscht aus, als ich den Kopf schüttelte. Das Büro gestattet solche Pausen nicht. Wir sollen die Bewohner in Ruhe lassen. Was, wenn euch jemand sieht, wie ihr Geld verdient mit Kaffeetrinken, heißt es. Das könne man sich als Firma nicht erlauben.

Ich schwenke beide Eimer sorgfältig aus, auch den alten, der zum Haus gehört. Auf dem Weg nach oben wische ich mit einem sauberen Lappen das Geländer ab. Das machen nicht alle. Einige nehmen mit Bedacht den schmutzigen Lappen und freuen sich, wenn sie an die Bewohner denken, die sich an ihrem eigenen Dreck festhalten beim Treppensteigen. Ich sehe das nicht ein, einen Schaden zuzufügen, dessen Erfolg man nicht überprüfen kann. Ich lege die Fußmatten zurück. Ich bin fast fertig. Die Kellertür steht noch offen, ich muss noch meine Jacke holen und meine Handtasche. Meine Jacke ist alt, wer zieht sich auch schön an zum Putzen, und die Handtasche praktisch. Ich betrachte kurz meine Hände, die sind aufgequollen, ein bisschen grau an den Gelenken, und tun weh.

Entschuldigung, sagt die Frau beim Eintreten, es tue ihr sehr leid, aber sie müsse nach oben.

Die Frau trägt einen hellen Wollmantel und eine Handtasche, die ich aus einer Reklame kenne. Sie hält inne, als warte sie auf meine Erlaubnis.
Ist trocken, sage ich, kein Problem.

Die Mülltonne müsse ich nicht in den Keller tragen, sagt die Frau und lächelt, die könne ich gern draußen stehen lassen, ihr Mann kümmere sich am Abend darum, ich müsse die nicht schleppen.

Die Mülltonne gehört nicht zum Auftrag, für die bin ich nicht zuständig. Ich hätte sie auch so stehen lassen.

Danke, sage ich. Ich warte, bis sie ihre Wohnungstür schließt und wische noch schnell die Stufen nach, bevor ich gehe.

Elise Schmit «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen«, Hydre Éditions, 2019, 135 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-95602-187-9

Elise Schmit wurde 1982 in Luxemburg geboren und ist dort aufgewachsen. Sie hat Germanistik und Philosophie an der Universität Tübingen studiert. Nach zwei längeren Aufenthalten in Tübingen und einem kürzeren in Paris lebt und arbeitet sie seit 2012 wieder in Luxemburg. Mehrfach wurden ihre Texte beim Concours littéraire national in Luxemburg ausgezeichnet, unter anderem die Erzählung «Im Zug». «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen» ist ihre erste eigenständige Buchveröffentlichung.

Beitragsbild © Boris Loder

Thomas Korsgaard «Stadt», Kanon Verlag – ein Keil aus dem Norden (1)

Thomas Korsgaard gilt als eine Art wildes Wunderkind der jungen dänischen Literatur. Was entschieden an seiner autofiktionalen Familientrilogie liegt. Ein Sprung in den zweiten Band: „Stadt“, so der schnörkellose wie passende deutsche Titel.

Nix mit Hygge
Gastrezension von Frank Keil

Ob das eine gute Idee ist, das Wohnzimmer schwarz zu streichen? Wäre nicht ein simples weiß oder vielleicht ein helles blau passender und besser? Selbst an ein zunächst aufdringliches flieder-lila könnte man sich gewöhnen oder an ein ländliches grün. Aber schwarz? Nur schwarz …

Da muss man schon über einen besonderen Humor verfügen.

Oder man hat ernsthafte Probleme, wie Tues Mutter, die mal artig ihre Tabletten nimmt, nachdem sie aufgestanden ist, die Pillen gegen Migräne, später die, um besser zu schlafen zu können oder die anderen, die sie in der Familie ‚die Glückspillen‘ nennen und die sie immer mal wieder absetzt, um bald darauf tagelang im Bett gefangen zu liegen, einerseits. Andererseits waren die zwei Eimer schwarzer Farbe in dem Geschäft in der Stadt nun wirklich günstig.
Und sie fangen an zu malern, Mutter und Sohn, sie legen den Fußboden mit alten Werbeprospekten aus, sollten sie kleckern, müssen sie nichts wegwischen, das ist doch praktisch gedacht, sie streiten sich bald, um Geld geht es nebenher, doch mehr darum, das Tue doch gestört ist, so wie Tue findet, dass seine Mutter gestört sei, draussen an der Fahnenstange hängt statt des obligatorischen rot-weissen Danebrog ein Gartenstuhl aus Plastik.

Wir sind nicht in Kopenhagen (in einem der angesagten, einst proletarisch-kleinbürgerlichen und nun gentrifizierten und damit unbezahlbaren Vierteln oder am Rande der Stadt, wo sie langsam ins Gesichtslose ausläuft). Wir sind auch nicht in Aarhus. Nicht mal in Odense sind wir oder in Aalborg oder in Esbjerg, wo der Hund seit langem begraben ist. Wir sind auf dem Lande, abseits von allem, wir sind in der Provinz, wo sich die Schweineställe aneinanderreihen, wie man weithin riecht, besonders in der Nacht; wo der Regen von der Seite her weht und das tagelang, wo morgens und mittags der Schulbus fährt, und dann war es das. Also hat man ein Auto, irgendeine Blechkiste, die doch anspringt, wenn man ihr gut zu redet, was manchmal Zeit braucht, die man hat. Der Tag zerrinnt einem ohnehin zwischen den Fingern.
Es wird überhaupt viel Auto-gefahren in diesen Romanen, das Auto ist ein eigener Ort, ein Rückzugsparadies: Tues Mutter etwa fährt manchmal scheinbar kopflos durch die Gegend, Kilometer für Kilometer und beruhigt sich dabei oder versucht es wenigstens und schon das zählt; ins Auto flüchtet man, wenn man nicht weiterweiss vor Streit und vor Verzweiflung und vor Hoffnungslosigkeit, und selbstverständlich wird in diesen Autos geraucht. Warum denn auch nicht.

Thomas Korsgaard „Stadt“, Kanon Verlag, 2025, aus dem Dänischen von Justus Carl und Kerstin Schöps, 280 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-98568-141-9

Wer hier aufwächst und wer hier ist, wo Tue mit seinen Eltern lebt und seinem jüngeren Bruder Morten und der noch jüngeren Schwester Nina, auf einem heruntergekommenen Hof, den sich kaum zu bewirtschaften lohnt, der will – weg. Und das möglichst früh und dann möglichst schnell, eher vorgestern, denn übermorgen will er seine ohnehin wenigen Sachen gepackt haben und sein Glück woanders suchen und daher finden, in der nächsten Stadt, wo sonst.
Erst recht, wenn man als junger Kerl merkt, dass Mädchen ganz okay sind, manchmal mehr als das (Tues bester Freund ist eine Freundin, Iben heißt sie, sie kennen sich seit der Schule, und sie werden viel zusammen erleben, weil sie sich aufeinander verlassen können), aber dass es nicht um sie geht, am Ende, lässt sich schließlich nicht mehr ausblenden, um es mal so zu umschreiben. Was Tues robust-brachialer Vater (der die Zeitung Buchstabe für Buchstabe liest, den Zeigefinger auf der Zeile) besser nicht wissen sollte und der doch ahnt, was er nicht wahrhaben will.

Als Thomas Korsgaard mit zarten 21 Lebensjahren mit dem ersten Band seiner Familientrilogie die literarische Bühne seines Heimatlandes Dänemark betrat, ging ein Raunen durch dessen Feuilletons. Das sich nicht legte, als Band zwei erschien und dann Band drei. Die im ersten Schwung verkaufte Auflage: 300.000 Exemplare. Das ist für ein Land mit knapp sechs Millionen Einwohnern keine kleine Nummer; dazu gesellten sich literarische Auszeichnungen. Was besonders gefiel: wie aufrichtig schonungslos und zugleich emphatisch ehrlich Korsgaard ein Familienleben weit abseits der gediegenen, wohlreflektierten (nicht nur) dänischen Mittelschicht schilderte, was einem vielleicht nur als jungem und entsprechend unbefangenen Autoren gelingt; wo also die Fliehkräfte der Relativierungen und der Erklärungen mit ihrem Rechtfertigungsgehalt noch nicht greifen. Stattdessen ist hier nix hyggelig. Hier wird es auch nicht gemütlich. Hier wird es schwer, sich seiner Haut zu erwehren und zugleich seine Herkunft nicht leichtfertig zu verraten (man hat ja keine andere, woher sollte die auch kommen), und mit Gelassenheit kommt man schon gar nicht weit.
Und so führt „Stadt“ (der dänische Titel lautet ‚En dag vil grine af det‘, also ‚Eines Tages werden wir darüber lachen‘) uns in die Zwischenwelt des Helden Tue, der längst kein Kind mehr ist, aber für den der Weg in eine aufbauende Schule, möglicherweise weiterführend zu einem Studium noch Langstrecke bedeutet.

„Stadt“ vorausgegangen ist „Hof“, auch dies ein Deutsch prägnant-verkürzter Titel (im Dänischen heißt es etwas gelassener ‚Hvis der skulle komme et menneske forbi‘, also ‚Falls da ein Mensch vorbekommen sollte‘), wo wir Tue kennenlernen, wo wir eintauchen in seine Welt. Wie es wohl wäre, wenn der Vater morgen sterben würde, was für eine Rede würde sein noch so junger, gerade mal 12jähriger Sohn in der Kirche halten vor den Trauergästen (weisse, langstielige Lilien schmücken den Kirchenraum, der Leichenwagen des Bestatters ist unterwegs liegengeblieben, die Dänische Pannenhilfe hilft eben aus), nur mal ausgedacht, nur mal taggeträumt, in der Kirche eines Ortes namens Nørre Ørum, wo in der Ferne der Fernzug Hamburg – Kopenhagen vorbeifährt, einen „Vorort der Finsternis“, wie Tue es für sich beschreibt, so geht es los, so steigen wir ein und sind froh, von nun an dabeibleiben zu dürfen. Tag nach Tag, Woche für Woche, bis es in die Monate und dann Jahre geht, die spurenreich vorbeiziehen.

Und dieser Sog, er wird nicht aufhören. Was vor allem an der wunderbaren Erzählkunst von Thomas Korsgaard liegt (und an den Übersetzungskünsten seiner ÜbersetzerInnen) über den eigentlichen Stoff hinaus; an seiner Art, die scheinbar alltäglichen Erlebnisse vom Aufwachsen in einer – sagen wir mal – eher nicht so glücklichen Familie mit den grundsätzlichen Fragen von Herkunft, Selbstbestimmung und Identität zu verknüpfen und daraus eine eigene Welt des Großen wie Kleinen zu erschaffen, in die man sich hineinliest wie in einen Rausch. Was noch mal unterstützt wird durch die klare Erzählstruktur: kurze, knappe und aufeinander aufbauende und in sich geschlossene Kapitel reihen sich aneinander zu einem Reigen des familiären Stillstandes und der überraschenden Wendungen. 53 Kapitel sind es bei „Hof“, 67 Kapitel sind es bei „Stadt“.

Noch ein Kapitel lesen, denkt man sich, es ist ja nicht so lang; zwei, drei Seiten, auch mal fünf, sehr selten mehr. Und dann noch das nächste und das nächste Kapitel lesen, ach, das übernächste passt auch noch, man will ja auch ganz klassisch wissen, wie es weitergeht, was nun passiert, hat Tues Mutter wirklich einen Liebhaber oder was ist das für ein Mann, mit dem sie da ständig chattet und wird sie deswegen die Familie verlassen, was so unvorstellbar ist wie möglich, eine Rettung oder eine Katastrophe oder beides zugleich, und schon hat man die nächste Seite umgeschlagen, und fängt das nächste Kapitel an zu lesen.

Der dritte Band „Paradies“ ist in deutscher Übersetzung für das Jahr 2026 angekündigt. Und dann werden wir erfahren, wie es Tue in Kopenhagen ergehen wird, dort im Westen, im Stadtteil Valby, wo die Busse den ganzen Tag über fahren, auch am Abend, bis in die Nacht, man muss sich nur an eine Haltestelle stellen und dann kommt einer vorbei und nimmt einen mit.

Thomas Korsgaard «Hof»,Kanon Verlag, Berlin, 2024, ebenfalls von Justus Carl und Kerstin Schöps aus dem Dänischen übersetzt

Thomas Korsgaard, geb. 1995, schrieb seinen Debütroman «Hof» mit gerade mal 21 Jahren. Band 2 und 3 der Trilogie folgten wenige Jahre später. Seine Romane haben sich in Dänemark mehr als 300.000 Mal verkauft. Für seinen letzten Roman wurde Thomas Korsgaard mit dem Literaturpreis Goldene Lorbeer ausgezeichnet und ist damit der jüngste Preisträger aller Zeiten. Bei Kanon erscheinen Band 2 »Stadt« im Frühjahr 25 und Band 3 »Paradies« im Herbst 26.

Beitragsbild © Lis Kasper Bang

Helmut Blepp «Variationen über März», Plattform Gegenzauber

Variationen über März Ich habe mich selbst im Baum gekreuzigt. Danach bin ich zur Menschheit hinabgestiegen, um eine zu rauchen. Jede Passion braucht ihre Pausen. Ich widerstehe Erniedrigungsgewohnheiten, indem ich nicht widerstehe. Das verwirrt meine Feinde. Wird ein Doktor krank, dann geht er zum Professor. Wird ein Priester krank, dann geht er zum lieben Gott. Werde ich krank, dann habe ich nichts zu lachen. In der Mittagspause stehen wir gerne in der Sonne und rauchen. Wir machen Wölkchen mit unseren Zigaretten, und nachmittags regnet es dann. Die Kartoffelfeuer im Herbst habe ich geliebt. Sie waren voller Geschichten, und ich konnte mir heimlich wünschen, wer brennen sollte. Ich habe natürlich nichts wahr gewünscht. Mein Freund ist außerhalb der Klinik krank. Da hat er viel mehr Möglichkeiten, verrückt zu sein. Sonntags ist frei, deshalb eignet sich der Sonntag zum In-der-Wiese-Liegen. Wir sind gebadet und gekämmt und kichern, wenn dicke Mädchen vorübergehen. Sie verraten nicht, wohin sie gehen, aber sie geben Antwort. Wenn ich eine Zeit lang ganz stark über etwas nachdenke, werde ich meistens traurig wegen all der Dinge, über die ich jetzt nicht habe nachdenken können, obwohl sie es verdient hätten. Woran arbeiten Sie gerade? Kenne ich – Irrtümer? Nein, keine Irrtümer, nur Folgerichtigkeiten: Wenn ich beim Essen das dicke Küchenmädchen beobachte, werde ich folgerichtig hart. Beobachtet sie mich, kriege ich folgerichtig Angst. Wenn ich als Kind Fragen beschwieg, wurde ich folgerichtig geschlagen, wenn ich sie beantwortete, auch. Seither halte ich mich vage. Es gibt Gewächse, die in mir im Gewächshaus wachsen. Gehe ich nach draußen, um zu rauchen, wachsen sie nur noch in mir. Im Schlafsaal verdorren sie. Ich denke, also spinn ich – auch so eine Falle, in die man tappt, um zu gefallen. Mit dem Stationsarzt rede ich nur noch ungern. Er hat Mundgeruch. Dafür kann er nichts. Aber seine Hände verschränkt er immer über seinem Bauch. In dem Moment, in dem er sie hebt, könnte etwas aus seinem Kittel hervorquellen. Wenn ich mir vorstelle, mir nichts vorzustellen, ist das eine schöne Vorstellung. Mein Vater hatte strenge Augenbrauen und bedrohliche Falten um den Mund. Auch wenn er nichts sagte, habe ich ihm sicherheitshalber gehorcht. Mein erster Aufenthalt in diesem Haus war unerfreulich. Ich musste mein Fenster nicht schließen, weil es in den Rahmen genagelt war. Ich musste meine Tür nicht absperren, weil einer da draußen den Schlüssel hatte. Ich aß nur, was mir gereicht wurde von der Dicken mit dem Holzlöffel. Ich machte Pipi in die Flasche und Groß auf die Pfanne. Ich konnte mich nicht mal kratzen, weil sie mich angebunden hatten. Ich durfte nicht mehr schlagen. Ich durfte nicht mehr treten. Aber ich durfte nach oben schauen, wo das Windrad meine Luft austauschte. Es machte ein Geräusch den ganzen Sommer lang. Das redete mit mir. Sonst niemand. Beim Busfahren habe ich mich immer verliebt, jeden Morgen und jeden Nachmittag. Ich schaute dann die Frauen an, die zustiegen, und wenn sie wieder ausstiegen, dachte ich daran, wie es wohl gewesen wäre, mit ihnen eine Familie zu gründen. Mütter werden stets überschätzt, weil sie alles dafür tun, überschätzt zu werden. Meine Mutter hat alles für mich getan, sagte sie immer. Zum Dank habe ich mehr für meine Mutter getan, als sie aushalten konnte. Da habe ich sie überschätzt. Sie kommt nur noch selten. In der Fabrik mit all den Fließbändern und Arbeitern waren die Maschinen und die Menschen kaum voneinander zu trennen. Sobald ich arbeiten wollte, liefen alle weg. Ich hatte Mühe, die Pausen einzuhalten. Der Kündigungsgrund war wohl beiderseitiges Unbehagen. Polizisten sind gut. Sie bringen wieder in Ordnung, was die Verrückten verbrochen haben. Manchmal brauchen sie einen Knüppel dazu. Pfleger haben keine Knüppel, aber sie sind gefährlicher. Sie sind auch da, wenn man schläft und üble Streiche träumt. Erinnerungen erheitern, wenn man sich vorstellt, es seien die Erinnerungen eines anderen. Ich stelle mir vor, dass ein depressiver Mitpatient, der mich nicht leiden kann, sich daran erinnert, dass ich wegen übermütigen Verhaltens fixiert worden bin. Das ist sehr erheiternd, denn mein depressiver Mitpatient weiß ja nicht, was ich für ihn erinnere. Ich habe mit dem Gärtner über einen Wechsel in die Schreinerei gesprochen. Wenn ich eine Säge handhaben kann, ohne mich oder andere damit zu verletzen, werde ich vielleicht als geheilt entlassen. Der Gärtner ist da skeptisch. Er kennt sich halt nur mit Pflanzen aus. Das Lachen ist gut, wenn man Mitlacher an seiner Seite hat. Begeht man das Lachen allein, so ist es mutig. Die Ärzte haben die Macht, mit mir zu machen, was sie wollen. Ich kann machen was ich will, ich bleibe immer machtlos. Das dicke Küchenmädchen lässt sich küssen, aber nicht von mir, obwohl ich drei Zigaretten spendiert habe. Vielleicht helfen Süßigkeiten besser. Es gibt schwere Arbeiten im Gewächshaus und schwierige. Meine Arme eignen sich nur für die Schwierigen. Ich beobachte das Wachsen der Sämlinge. Die Insassen gehen vorsichtig miteinander um. Sie wissen ja, dass sie krank sind, weil sie es jeden Tag gesagt kriegen. Manchmal fallen ruppige Worte. Manchmal wird es zotig, auch bei mir. Aber das kommt, weil ich Soldat gewesen bin. Die reden so. Aufpassen muss man bei Freundlichkeit, die ist immer ärztlich verschrieben. Der Vater war oft sehr böse. Da kam ich ihm gerade recht. So hatte er jemanden, den er für seine Bosheit bestrafen konnte. In der Speisekammer war es ganz dunkel. Ich malte mir Lichter aus, bis er mich zum Essen holte. Wir saßen alle vor der Suppe und dankten dem Herrgott. Man sollte das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel aus dem Gemeinschaftsraum entfernen. Wenn ein Patient verliert, ärgert er sich und meint, er sei krank. Das kann nicht zur Gesundung beitragen. Der Mensch muss ja arbeiten, weil er sonst verrückt wird. Aber warum müssen wir dann in der Klinik arbeiten? Als Oberschüler hatte ich keine Freundin, aber ich trug Präservative bei mir, bis Mutter sie beim Waschen entdeckte und Vater sie mir verbot. So sollte eine Freundin verhütet werden. Ich gehe zu den Terra-pie-Stunden wegen der Bodenhaftung, die man mir verschrieben hat. Der Sitzungsleiter fragt uns höflich, wie es uns denn heute geht, aber rauchen dürfen wir nicht. Für die Schule trug ich einen Mittelscheitel, damit mein Hirn den unnützen Lehrstoff besser von dem wichtigen trennen konnte. Wenn ich nachmittags nach Hause, ging, trug ich den Kopf schief. Die alten Professoren unterscheiden sich von den jungen Ärzten durch die dickeren Brillengläser. Die riesengroßen Augen dahinter gehen mir bis auf den Grund meines Aufenthalts. Meine Lebensläufe ändern sich situationsbezogen. Wer falsche Spuren legt, ist schwerer zu fassen. Die Liebe ist groß, aber die Leute sind so klein. Wie soll das zusammenfinden?

Helmut Blepp, geboren 1959 in Mannheim, lebt in Lampertheim/Hessen. Studium der Germanistik und der politischen Wissenschaften, selbstständig als Trainer und Berater in Arbeitsrechtsfragen. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, in Anthologien und WordArt-Ausstellungen. Vier Lyrikbände bei Eric van der Wal und Edition Desire & Gegenrealismus.

Beitragsbild © privat

Indiziert bei akuter Schwedensehnsucht: Eva Brunner «Zweitwald», Weissmann Verlag

Gerade im Sommer ergreift mich, wie tausende andere im deutschsprachigen Raum, das «Bullerbüsyndrom», eine plötzliche, süße Sehnsucht nach Schweden, die mehr über uns Betroffene aussagt, als über das real existierende Land. Berthold Franke prägte in seiner Zeit als Chef des Goethe-Instituts Stockholm den Begriff.

© Pfeffer Produktionen/Torben Nuding

Gastbeitrag von Christine Zureich

Was bei „Bullerbysyndromet“ (BBS) hilft? Eine Reise und, ja, Bibliotherapie. Ich möchte Astrid Lindgren, die Hauptverursacherin des Syndroms empfehlen, „Ferien auf Saltkrokan“, das für Kinder geschriebene Buch verträgt sich mit dem Erwachsensein besser als „Wir Kinder aus Bullerbü“. Dann Tucholsky, natürlich: „Schloss Gripsholm“, die fast sommerleichte Liebesgeschichte um Peter und Lydia (und Billi). Neu in meiner Reiseapotheke gegen BBS dieses Jahr: Eva Brunners „Zweitwald“. Die zweite Gedichtsammlung der Lyrikerin ist im Frühjahr 2025 im Weissmann Verlag, Köln, erschienen.

Ob Eva Brunner je am „Bullerbysyndrom“ litt, weiß ich nicht. Ein rosiger Blick auf das Land würde sich längst geklärt haben: Brunner emigrierte vor einigen Jahren schon mit ihrer Familie aus Berlin nach Uppsala. Der vorliegende Band nun gibt in 11 Kapiteln plus Glossar ein poetisches Protokoll wieder dieses Ankommens (und Ringens) des lyrischen Ichs um das Zweitland, die Zweitsprache, den Zweitwald.

Der Titel jedenfalls lässt Sehnsucht nach mystischer Landschaft anklingen, Trollwald wie versprochen Moos, und im selben Atemzug zugleich ein wenig die Entzauberung, die mit der Reibung an der Realität und Gewöhnung einhergeht: Zweitwagen und Second Hand, auch dieser Aspekt schwingt mit. Und ja, da wird aus anfänglicher Auswanderer-Euphorie ein etwas temperierteres Gefühl: lågom heißt genau richtig / lågom klingt leise / sind Beherrschung und Ruhe zwanghaft?/ (…) / oder kann man in dieser Natur nicht anders? / (…) / något wird von der vorbeiziehenden Landschaft betäubt.
Das lyrische Ich notiert kulturell verankerte Unterschiede in der Selbst- und staatlichen Fürsorge: bloß nicht zu viel Stress und koppla av / genug (…) aber bitte keine Nüsse mit in Schulen nehmen ej / nötter

Zugleich wird verwiesen auf gewisse blinde Flecken der neuen Heimat hinsichtlich des eigenen sozialstaatlichen „Musterschülertums“:

das beste Land der Welt / ist konfliktscheu blendet aus / Jahrzehnte der Zwangssterilisation / der Unterdrückung der Samen / (…) / die eignen Raubzüge / kaum erwähnt man ist modern/auf Bergen bester Empfang / friedliche stugas auf Inseln / Unrecht kommt von Außen / ist nur im Krimi groß

Eva Brunner «Zweitwald», Weissmann Verlag, 2024, 72 Seiten, CHF ca. 20.90, ISBN 978-3-949168-18-5

Aber auch die eigenen Haltungen und Ideale hinterfragt das lyrische Ich : wir sitzen im Raum der invandrare / (…) / was haben wir vorher gelernt und gesehen?/wer hatte die Wahl wer nicht? / erste Grüppchenbildung / (…)/ heute steure ich gegen entdecke/morgen ergebe ich mich
Neben den Herausforderungen aus dem invandrar-sein hat sich das lyrische Ich mit dem ganz gewöhnlichen Familienleben als permanente forbifahrt am Ideal herumzuschlagen: Kinder, die nicht die Liebe zu Ronja Räubertochter teilen, sondern Harry Potter vorziehen. Kinder die nur im Zoo nicht nölen. Kinder, mit denen es die neue Sprache zu lernen geht, zusammen mit einer weiteren Fremdsprache im Vokabellisten Ping-Pong. Ich versuche, die Sprache glatt zu streichen / hänge doch: Eva Brunner glättet einzelne schwedische Wörter in die Verse ein, so fein arbeitet sie da, dass aus Kontext und klanglicher Ähnlichkeit mit dem Deutschen – die Mannschaften sind verwandt – keine Übersetzung benötig wird, und wo doch, wird hinten im Glossar alles aufgelöst. Das ist klanglich schön und manchmal auch lustig, setzt einen leisen, effektiven Kontrapunkt gegen die stellenweise fast bullerbüenen Bilder, (die wir doch so sehr lieben und brauchen):

IV.
manche använder Saunamützen mit kaltem Wasser
all die Boote und Blumen mit Kopf und kropp
Himmel so tief wie das Meer blunda blau
wir sind süchtig nach Safran och semlor
kleine Bewegungen nobel lucia
Lass dein Haar herunter

Eva Brunner, 1980, seit Juli 2024 freie Autorin und Übersetzerin. 2015 Promotion in Amerikanistk, 2007 M.A. in Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Psychologie und Publizistik/Kommunikationswissenschaft. Seit 2018 lebt Eva Brunner in Uppsala/Schweden und ist dort Mitglied der Uppsala Autor:innengesellschaft, die ihr auch einen Schreibplatz im Literaturhaus stellt. Ihr Lyrikdebüt »Achtung, die Naht«, parasitenperesse, erschien 2019. 

© Leif Santoso Knobbe

Eva Strautmann «Hinüber», Plattform Gegenzauber

Blick hinüber
in mattes Weiss,
Eierschalen, die brüten?
Davor funkelnde Stachel,
weitläufig vernetzt bis hinein in jede Membran verlorengegangener Körper.
Totgestellt, am Schwanken über unebenes Weiss.
Darunter schneeweiches Gestrüpp,
voller zarter kleiner Ästchen,
die hinausragen.
Nein, kleine Baumstümpfe wie Finger aus der Erde am Stechen,
lauthals `Du bist Schuld`.
Dahinter auf dem Transit direkt ins Fegefeuer?
Nein, lieber auf rot-blauem Teppich ins reichste Land der Welt.
Vergessen werden im Funkeln brauner Scham,
dann lieber Rennen, Wegrennen?
Abwarten, bis der Schrei aus alter Wagnis von oben hallt und dumpf aufstößt in leerem Gras,
versunken unter altem Wasser, 
am Baden in zu vielen Seen,
stülpt sich die Stimme `Du bist Schuld`,
springt im Galopp auf in den Himmel,
unsichtbar geworden.
Der Hall, das Summen, das Vergangene?
Hinter den kohleschwarzen Vorhängen ganz weit hinten am Horizont, 
da kommt sie her, die Stimme.
In die Schächte hineinspazieren an einem hellen Sonntagmorgen,
in den Kabinen verschwinden, `Bitte Ihren Ausweis`,
sich gegenseitig in die Augen greifen, dann vorbei an allen Kalaschnikows
im Tränentunnel,
hinaus blickend auf leere Straßen,
graues Gefieder.
Alles längst vorbei,
gewesen,
nur jetzt gerade hier, gleich ist alles wieder vorbei.
Weg.
Bis es trümmert von oben, von unten, von hinten, von vorne,
bis es trümmert.
Alles zertrümmert.

Abtraction Coloured, Öl auf Leinwand, 2025

 

Eva Strautmann lebte nach dem Abitur in Grossbritannien. Sie ist Autorin, Künstlerin und Dozentin. Während des Studiums der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin war sie zunächst als Tutorin und anschliessend als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin tätig. Nach ihrer Tätigkeit als Regieassistentin am Berliner Ensemble folgte ein Umzug nach Frankfurt am Main. Im September 2005 hatte sie eine grosse Einzelausstellung in der Heussenstamm – Galerie am Römer in Frankfurt am Main unter dem Titel „Im Schreiben gehen – Im Malen schauen», bei der sie Bilder und Prosa-Texte kombinierte.

Webseite der Künstlerin

Beitragsbild © privat

Eva Roth und Alice Grünfelder «Das Wetter in einem Jahr», ein Langgedicht

Januar

              Das Wetter hat kein Ende.
Der Himmel ist glatt.
              Wenn hinter dem Himmel nichts ist
              nur Blau und Sonnenschein
              schönes Wetter – 
Tagelang, wochenlang geht es so.

Februar

Die Wolken brechen,
als wären sie hart
darüber reißt der Himmel
schreit grell das Licht
darunter liegt milchig die Stadt.

              Ein Milan treibt zwischen den Giebeln
              kreuzt den Flug eines beschriebenen Papiers.

März

Sonniges Glück wird überschätzt.

              Sagst ausgerechnet du?

Mit dem Glück ist es wie mit
der Wolke am Himmel.

April

Tief hängt der Himmel und trieft
Autos rauschen im Kreis.

              Es rauscht in meinem Ohr.

Ein Funkeln drüben am Berg, eine Antenne vielleicht
vor uns ein Rest Landstraße.

Mai

Das Karussell dreht
singt vom Abendrot und wilden Pferden.

Wir lutschen an einem Herz und lachen,
als ob die Lichter niemals löschten.

              So flirrt die Nacht
              und zerrt an Sehnen, 
              Nerven, Lüsten, bis sie reißen.

Ich glaube an Drachenschnüre
und fürchte mich vor dem Sturzflug. 

              Aber wir fliegen nicht, wir hängen.

Wie ein Knäuel am Jo-Jo
drehen wir ein
drehen wir aus.
Wir zwei im Blitzlicht, nackt.

Wir drehen uns schwindlig

vergessen die Schnur und 
halten uns fest, du an mir und ich an dir.
Wir drehen uns atemlos.

              Bis das Jo-Jo in die Leine fällt

bis wir nachfedern
bis wir still hängen 
und die Sonne schwarz in den See fällt.

Juni

Nachts kommen sie aus Spalten und Ritzen 
huschen durch Rohre und Rinnen
verschwinden

              und lassen den Schwan auf der Wiese zurück.

Frisch gewaschen steht er im Scheinwerferlicht.

              Wenn das Geschrei anhebt
              flattern sie, drehen, keifen.

Wer?

              Die Verwandten der Ratten und Schwäne.

Juli

Schlamm wälzt sich uns entgegen 
dampft
wir drängen uns auf den Dämmen.
Ein Getöse hebt an. 
Ein Glockengeläut, ein Zittern in der Luft,
ein Grollen. Die tiefste Glocke setzt aus
stimmt wieder ein 
im Ohr verschwimmen die Klänge 
in die abrupte Stille hinein das Gurren einer Taube 
überlaut und wie von einem Band abgespult.

              «Geschätzte Zuschauerinnen und Zuschauer,
              der Sommer liegt über uns. 
              Wetter findet vorerst nicht statt.»

August 

              Der Alb hockt und wartet
              in verwirrenden Traumschluchten,
              verheddert sich in meinem Haar.

              Papierflieger schweben am Himmel meines Kopfes
              und weichen den Schreien der Nacht aus.
              –
              Ich gehe die Milchstrasse lang.

Du und das Morgenlicht. 

              Hell wird’s erst, 
              im Osten der Lastwagen hupt. 

Die Welt ist wieder da.

September

Wasser rauscht durchs Wehr. 

              Wichtiges gerinnt zu Nichts.
              Der Schnee fällt zu früh dieses Jahr.

Im Schmelzwasser pickt ein Huhn.

Oktober

              Scheinheilig legt sich Nebel
              über den Platz
              erstickt den letzten Sommertag.

Ich sticke den Sonnennebel auf ein Tuch.

November

Das ist Glück 

              wenn man einmal nicht erschlagen wird vom Totholz
              und einmal nicht ersäuft 
              im Novemberregen
              und einmal nicht in die Leitplanke rutscht
              im ersten Schnee.
              Das ist Glück und Gnade, 
              wenn man immer nicht stirbt.

 Dezember

              Nebelinseln überm See.
              Eine dunkle Gestalt
              segelt hinaus
              die Ohren voll Windgeheul 

stürzt sich über den Rand der Welt
wo sie die Morgenröte erwartet.

Die Welt hustet nur kurz,
bevor sie verschluckt wird.

Januar

              Müde klingt das Alphorn
              am oberen See.

Wir wissen, wenn wir lange genug
an der Wand stehen und das Gesicht
gegen Süden halten –
dass irgendwann die Sonne uns trifft.

***

 

Wie es begann? In einem Café, das es heute nicht mehr gibt, schlug Eva vor, dass die eine was schreibt, und die andere schreibt daran weiter; Miniaturen, die in Streichholzschachteln passen, schwebten ihr vor, ich dachte an Renga, das japanische Kettengedicht. Aufs Wetter kam ich durch das Buch „Wolkendienste“ von Klaus Reichert, und ich mailte Eva, wie es wäre, über etwas so Flüchtiges wie das Wetter zu schreiben? Ja, schrieb Eva, und wenn der Anfang nicht passt, schneiden wir ihn später einfach wieder ab. So sprachen wir miteinander in Gedanken ständig übers Wetter, formulierten um, probierten aus. Der Kommentar zum Wetter liest sich jedenfalls Jahre später noch wie ein Meta-Text zu diesem kollaborativen Projekt. Mal ist vom Pieselwetter die Rede, vom Husten und Niesen, Nesseln und Schlingen, von seltsamen Gestalten, die über den See wabern –  es ist hier und da eingeflossen in unser Wetterschreiben.

Bis ein Jahr um war.

Bis ich die Kleintexte in eine Datei packte und Eva mailte. 

Einmal gab es auch eine dialogische Version, die wir wieder verworfen haben. Schliesslich haben wir uns in einer «Werkstatt-Session» zusammengesetzt. Haben herausgeschnitten und neu kombiniert und umformuliert, bis kaum noch zu sehen war, welche Szene, welches Bild wem eingefallen ist. Und dann haben wir über Fanzines und Leporellos und Möwen am Bellevue nachgedacht, so ist die vorliegende Fassung entstanden, ein vierhändiges Stück.

© Donat Bräm

Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin (FU, Magister Artium) und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch Wolken über Taiwan (Rotpunktverlag) stand 2022 auf der Hotlist der Unabhängigen Verlage.

Webseite der Autorin

@ Micheline Oehler

Eva Roth ist 1974 geboren und in Schwellbrunn im Appenzellerland aufgewachsen. Später wohnte sie in Kreuzlingen und seit 2008 in Zürich. Sie schreibt Prosa und Theaterstücke für Kinder und Erwachsene. Von 1997 bis 2014 war sie als Primarlehrerin tätig, danach als Lektorin und Programmverantwortliche im Atlantis Bilderbuchverlag. Von 2009 bis 2011 besuchte sie den Lehrgang «Literarisches Schreiben» der EB Zürich, und 2018/19 war sie Teil des «Dramenprozessors» am Theater Winkelwiese Zürich. Seit 2023 ist sie freie Autorin, Lektorin und Übersetzerin. Sie hat zwei erwachsene Söhne und eine Tochter im Schulalter.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Kristin Valla „Ein Raum zum Schreiben“, mare

Ach, wie wunderbar die norwegische Schriftstellerin Kristin Valla schreibend vom Schreiben erzählt! Man möchte ein Haus kaufen … aber erst einmal dieses Buch!

Gastbeitrag von Frank Keil

Es gibt eine Art Schlüsselszene in Kristin Vallas wunderschönem Buch „Ein Raum zum Schreiben“, da kommt einiges mit einem Mal zusammen: das Gefühl, bald etwas Schwieriges geschafft zu haben, das Wissen, sie kann sich auf sich und sie kann sich auf die Welt verlassen, und eine tiefe Ruhe, auf der sich aufbauen lässt. Sie hat den Bus genommen, der vom Bahnhof aus fährt, in das kleine Dorf, in das sie muss; also sie hofft, dass er bis dorthin fährt, der Bus und sein Fahrer, die Schrift des Fahrplans ist so klein, dass sie die einzelnen, aufeinanderfolgenden Stationen nicht zu entziffern vermag, vermutlich fährt er nicht so weit, wie er für sie fahren muss. Und nun sitzt sie in dem Bus, der sie von Ort zu Ort schaukelt, längst ist es dunkel, am Ende ist sie der einzige Fahrgast, der noch in dem Bus sitzt, einen ganzen Bus hat sie für sich allein, und der Fahrer wird an den letzten Station, die er für heute anzufahren hatte, nicht anhalten, er wird weiterfahren zu ihrem Dorf, erst dort wird er stoppen, und er wird mit einem Lächeln sagen: „Ich konnte Sie ja nicht einfach da stehen lassen.“


Kristin Valla, die norwegische Schriftstellerin, die sich ein Haus in Südfrankreich angelacht hat, hat in diesem, ihrem Buch viel zu kämpfen: Wird sie es schaffen, sich einen Raum zum Schreiben zu besorgen, ihn zu gestalten und dann in ihm zu schreiben? 

Gewiss, man denkt bei dem Buchtitel schnell an Virginia Woolf und ihr programmatisches Buch „Ein Zimmer für sich allein“, dass man als griffige Parole auch dann verwenden kann, wenn man es gar nicht gelesen hat – und natürlich werden wir noch Virginia Woolf begegnen. Erstmal aber geht es um einen Raum im umfassenden Sinne und bald um mehr als das: Es geht gleich um ein ganzes Haus, mit Küche und Badezimmer und Schlafgemach und über allem ein Dach, aus dem es leckt und tropft und rinnt, wenn es regnet, und es regnet auch in Südfrankreich oft und dann zuweilen recht ausgiebig, wie wir lesen werden, und kalt werden kann es auch, dass man sich alles anzieht, was man an Kleidung mitgebracht hat von daheim, wo man eigentlich lebt und wohnt und seine Familie hat (einen Mann, zwei Kinder, zwei Jungs).

Ein Haus lernen wir kennen, dass sich eine Schriftstellerin erst wünscht, dann sucht, dann kauft, auch wenn es Schulden-machen nach sich zieht (ihr Mann bürgt für den Kredit, aber es ist vor allem ihr Haus, ihr Risiko), und die dann nach und nach realisiert, was ein Haus zu besitzen bedeutet – um einen Ort für sich und ihr Schreiben erst zu finden und dann zu haben.

Kristin Valla „Ein Raum zum Schreiben“, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Mare, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 34.50, ISBN 978-3-86648-737-6

Aber erst einmal sind wir noch in Oslo, Kristin Valla, die recht erfolgreich als junge Schriftstellerin gestartet ist (gleich ihr erster Roman „Muskat“ wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter ins Deutsche; auch der zweite Roman lief nicht schlecht), hat seit Jahren kein Buch mehr veröffentlicht und – was wichtiger ist – sie hat sei Jahres keines mehr geschrieben. Stattdessen hatte sie beizeiten für lange Zeit einen festen Job als Redakteurin angenommen; die Sicherheit, das monatliche Gehalt Jahr für Jahr, die Lebensverlässlichkeit, die damit einher geht, das hat nicht nur Charme, das ist auch gut, wenn man Kinder hat, die auf ihre Romane folgten. Nicht nur Schriftstellerinnen bleiben in dieser Falle hängen, aber meistens sind es doch die Frauen, denen es so ergeht. 
Immerhin hat sie diese Anstellung nun gekündigt, als wir lesend dazukommen, sie arbeitet jetzt frei und selbstständig für dieses und jenes Magazin, aber wer gut ist und wer schreiben kann, und das eine ist sie und das andere kann sie, der bekommt eben Auftrag nach Auftrag nach Auftrag, und auch so vergeht die Zeit. Literarisch schreiben? Es gibt da ein paar Ideen, auch Skizzen, erste Entwürfe, doch ein Buch wird daraus noch lange nicht. Man muss es auch schreiben.

Und dann gibt es diesen einen Abend (wieder ein Schlüsselmoment, wie überhaupt Schlüsselmomente sich durch dieses Buch ziehen), ein Abend, wo sie den großen amerikanischen Romancier John Irving moderieren darf, im örtlichen Literaturhaus, große Bühne also, viel Publikum. Und hinterher gehen sie etwas essen, das macht man so, ein junger Schriftsteller-Kollege kommt hinzu. Die beiden Männer unterhalten sich schnell über das Schreiben und also über das Leben, und sie hört still zu.

Und warum erzählt sie ihrerseits nichts, warum beteiligt sie sich nicht am Gespräch? Sie hätte durchaus etwas dazu beizutragen, sie ist doch eine von ihnen! Oder nicht oder nicht mehr? Und tief verstört über ihr eigenes sich-unwichtig-machen, geht sie nach diesem Abend-zu-dritt grübelnd nach Hause, und bald wird sie sich auf die Suche nach jenem Raum zum Schreiben machen, findet ihn in diesem seltsam verwohnten Haus in Südfrankreich (das einer Schweizer Familie gehörte, die es nicht mehr haben wollte, die es Hals-über-Kopf verliess, allen möglichen Krempel, liess die Familie zurück, nur weg! Ist das ein gutes Zeichen?) und dass sie nun gekauft hat, obwohl mehr als tausend Gründe dagegensprechen. Das Haus in seinem Zustand, etwa.
Sie wird viel weinen in diesem Haus. Und sie wird immer wieder aufstehen und sich die Tränen vom Gesicht wischen und dann irgendetwas machen: aufräumen (oder es wenigstens versuchen), die Wände streichen (die Küche etwa wird knallgelb), Vorhänge aufhängen (in einem Gebrauchtwarenladen erstanden und nicht bei IKEA, wie sonst manches, Decken und Kissen für das kommende Wohlbehagen); sie wird versuchen das Haus mal ordentlich durchzuwärmen, damit man es überhaupt in ihm aushält.

Und zwischendurch geht sie auf literarische Reisen und schaut nach schreibenden Frauen, die gleichfalls ein Haus oder manchmal auch ein ganzes Gehöft erworben hatten, in dem sie glücklich oder unglücklich wurden oder beides nacheinander oder beides zugleich: Tania Blixens und Suzanne Brøggers und Sigrid Undsets Häuser lernen wir kennen; das elterliche, zuvor in Konkurs gegangene Gut von Selma Lagerlöf wird uns nahegebracht; bei Marguerite Duras schaut Valla erzählend vorbei, die zeitweise einen alten Bauernhof auf dem Lande, eine Wohnung am Meer und noch eine Wohnung in Paris besass und die zwischendurch so runter war mit dem Leben und dann mit den Nerven, dass sie das Schreiben morgens mit dem Leeren einer ersten Flasche Rotwein begann, womit sie glücklicherweise eines Tages aufhörte. Und auch bei Virginia Woolf wird vorbeigeschaut (ebenso bei Doris Lessing, bei Patricia Highsmith, die zeitweise zurückgezogenst in einem verschrobenen Dorf lebte, ohne Laden, ohne Bäcker, ohne Schlachter), und immer wieder wird sie von diesen Ausflügen zurückzukehren in ihr eigenes Haus, immer auch ein wenig mehr als erholt, manchmal geradezu gestärkt von den imaginierten wie recherchierten Besuchen in den Leben und in den Häusern der Anderen.

Und wie sie davon erzählt, wie sie zwischen den Orten und den Leben schreibender und Häuser-besitzender Frauen hin und her switcht, das ist einfach ganz wunderbar, wie es überhaupt sehr tricky ist, dass Kristin Valla gar nicht viel über ihr Schreiben schreibt. Nicht, an was sie arbeitet, was das Thema ist, erfahren wir; was die Geschichte ist, die sie entwickelt, die Handlungsstränge, die sie auslegt, die Erzähl-Perspektiven, mit denen sie experimentiert, womöglich, solche Sachen. Kaum bis wenig bis zuweilen nichts wird davon erzählt, nur dass ein Roman erscheinen wird (der erste seit sechzehn Jahren!) erzählt sie uns zum Ende hin, als sie sich eingelebt hat in ihrem Haus, auch in dem Dorf, das zum Haus gehört, zu dem sie von Norwegen aus das Flugzeug nehmen muss und dann den Mietwagen, Oslo liegt nun mal nicht gerade um die Ecke, und in den Ferien kommt die Familie mit und stört sich nicht an dem Chaos, das sie umgibt, sondern genießt das sanfte Durcheinander, dass sie selbst so oft in den Wahnsinn wirft.

Stattdessen erfahren wir viel über feuchte Wände, in denen der Schimmel steckt, wie zu riechen ist, kaum ist man durch die Tür und hat man eingeatmet. Über Steckdosen, die nicht angeschlossen sind, schreibt sie; über Deckenbalken, die ausgetauscht werden müssen, was nicht so einfach ist, wenn es um darunter stehende, tragende Wände geht, was man da macht. Aber sie beisst sich durch, Kristin Valla wird eine richtige Handwerkerin (gleich zu Anfang kauft sie sich einen Bohrer und eine Latzhose), durchsetzungsstark auch gegenüber den professionellen Handwerkern, die sie immer wieder engagieren muss, weil das Haus mit seinen Schäden und Macken schlicht eine Nummer zu gross für sie zu seien scheint.

Und wenn sie so ziemlich gen Schluss, so viel soll verraten werden, kurz davor ist, dieses Haus zu verraten, fügt sich alles auf wundersame Weise, und man liest dieses Buch mit immer wachsendem Vergnügen und immer öfter ist da dieser heimlicher Gedanke, man sollte sich auch ein Haus kaufen oder wenigstens eines mieten, manchmal, vielleicht.

Kristin Valla, aufgewachsen im norwegischen Nordland, ist Autorin, Journalistin und Lektorin und schreibt u. a. für das Dagbladet Magasinet und das Kulturmagazin K der Zeitung Aftenposten. Mit ihrem Roman «Das Haus über dem Fjord» eroberte sie 2022 die Herzen deutscher Leserinnen und Rezensentinnen.

Gabriele Haefs, geboren am Niederrhein, studierte Volkskunde, Vergleichende Sprachwissenschaft und Keltologie. Heute lebt sie in Hamburg und ist seit vielen Jahren freie Autorin und Übersetzerin u.a. aus dem Irischen und Norwegischen. Ihre Arbeit wurde vielfach prämiert, u.a. mehrmals mit dem Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen.

Beitragsbild © Julie Pike

Astrid Ylva Dornbrach «Wenn wir schliefen», Plattform Gegenzauber

Vogelstill

Vogelstill
ist es in mir
und
wolkenschwer
hängen die
Gedanken
in Himmeln die
noch nicht
erschlossen sind
dem Winter
will ich sein
Eis abgraben
schürfen vom
Tag
was tiefer als
Kristalle liegt
schwerer wiegt
als Erde noch
von Laub
bedeckt
vogelstill
ist es
in Himmeln
die keiner
kennt
wo Eisluft
vor sich
sich hin treibt
und die Zeit
faltet
wie Papier

 

Tomaten schneiden

Schneide die Zwiebeln,
die Tomaten
Scharfes Messer dringt
nicht in mein
Fleisch
Roter Vogel über
dem Haus fliegt
ganz tief
Ich bleibe hier,
hier drin
bis ich das Geräusch
von Flügeln nicht
mehr höre
auf dem Dach

 

Wenn wir schliefen
(Über Dächern Schnee)

Der Schnee auf den
Dächern –
nackt –
die Konturen
unscharf
Wenn auch die
Krähen stumm
bleiben
gibt es nichts mehr
zu sagen

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch
nur schliefen

Wer weiß schon
wo wir hingehören
wenn kein Wind
mehr weht
und alles so
still ist

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch nur
schliefen

Ein Haus aus Glas
würde auch nicht
mehr zeigen
bei all› dem
Weiß und Grau
und Katzen hinter
Schornsteinen sind
unsichtbar

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch
nur schliefen

Vielleicht,
wenn wir schliefen,
könnten wir die
Farben sehen,
wie sie wirklich
sind

Wenn wir schliefen,
wenn wir doch
nur schliefen,
träumten wir
die Krähen bunt.

Astrid Ylva Dornbrach (1965) wurde sie in Pirmasens geboren und wuchs dort auf. Nach der Schauspielausbildung in München kehrte sie in die Pfalz zurück und arbeitet als freie Journalistin unter anderem für die Rheinpfalz. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Tochter in Berlin. Ihre Erzählungen und Romane spielen häufig in der Pfalz. Ihre Texte sind in einigen Anthologien veröffentlicht, beispielsweise in der WORTSCHAU.

Beitragsbild © Astrid Ylva Dornbrach

Rebekka Salm & Markus Kirchhofer «Salmhofer» 6/6

Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.

 

kalte herbstwinde
wir bergen kastanien
aus trockenem laub

«für dich die Hälfte», sag ich
«bleib doch zum Essen», sagst du

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 6/6

 

Nach den Ferien
Die zarte Innenseite
der Muscheln streicheln

meine fingerkuppen er-
innern deine perlmutt-haut

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 5

 

der gittermastkran
überspannt den alpenkranz
milane kreisen

Dem Deckenventilator
im Neubau fehlt ein Flügel

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 4

 

Auf dem Wäscheberg
bei laufendem Staubsauger
schläft tief der Kater

du ganz ohr auf meinem bauch
die verdauungsgeräusche

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 3

 

zartblauer himmel
wolken wie wattebäusche
der geruch von heu

Dort, wo der Holunder blüht
liegt das totgemähte Kitz

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 2

 

Im dunklen Geäst
streiten sich Rabenvögel
Um das Stück Goldmond

geturtel am caquelon
gabelgefecht im käse

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 1

 

Was ist ein Tan-Renga?
Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt.
Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben.
Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.

In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.

Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag. 

Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.

 

Monika Littau «Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen», Plattform Gegenzauber

Sirren

Hinter der Haustür steht die Schwüle. In der Luft liegt ein hohes Sirren. Ein elektrisches Sirren wie Bauarbeiten. Eine Flex mit Wasserkühlung vielleicht. Ein Gerät in der Hand eines Wanderarbeiters. Unermüdlich tätig, sieben Tage, lange Tage. Zusehen, wie Blocks ausgeweidet werden. Zusehen, wie der Berg mit Türen und Zargen, mit Kloschüsseln und Waschbecken wächst. Wie die Berge verschwinden und neue Berge angehäuft werden. Paletten mit Material. Zusehen, wo bald neue Studenten einziehen können.

Ich gehe über den Campus. Ich gehe unter den Bäumen. Und Arbeiter sehe ich nicht. Ich gehe und treffe Konfuzius. Er wartet am Haupttor. Sagt, fordere viel von dir. Sagt, erwarte wenig von anderen. Sagt, erspare dir so viel Ärger. Ich nicke, ich gehe und sitze am Seerosenteich.

Das elektrische Sirren in der Luft, laut, als wäre es ein Flexkonzert. Ich blicke über den Teich und begreife, Bauarbeiter sind hier heute nicht. Schallplatten. Singmuskeln. Trommelorgane. (1) Es sind die unsterblich Geglaubten, die schon zur Han-Zeit als Zungenzikaden den Toten mitgegeben wurden, in der Hoffnung auf baldige Wiedergeburt. Es sind die Singzikaden. Die Männchen machen viel Lärm.

© Monika Littau

Nordtor

Dahin gehen, wo am Abend die roten chinesischen Zeichen in der Luft hängen. Am Nordtor unter den Augen der Uniformierten das Gelände verlassen, die Straße überqueren, erfahren, dass die Autos immer Vorfahrt haben und die Ampel kein Fußgängergrün zeigen wird. Vor der Glastür eines Ladens stehen, der wie geschlossen aussieht und bereits im Zurücktreten doch noch eine Bewegung drinnen wahrnehmen, als winke mir einer zu. Gegen die Tür drücken und eintreten. Da sitzt eine Frau an der Kasse und hält ihren Säugling auf dem Arm, den sie stillt. Und während ich mich im Laden umsehe und wähle und mich so gut es mit Gebärden geht, verständlich mache, trocknet sie dem Säugling den Kopf mit einem Papiertuch. Und während ich denke, jetzt wird sie das Kind von der Brust nehmen, gelingt es ihr auch mit dem Kind die Waren zu reichen, die Kasse zu bedienen, das Wechselgeld herauszugeben. Ich denke an Pu Yi, den letzten chinesischen Kaiser, wie er von seiner Amme als großer Junge gestillt wird. Ich denke an die Art Gallery unten am Meer mit den martialischen Darstellungen chinesischer Kämpfer, an den Soldaten, der schon tot, gestillt wird von einer Frau, einer Mutter. Pieta ohne Tränen.   

(1) Singzikaden erzeugen mit Schallplatten und Singmuskeln ihre „Musik“, sie haben ein Trommelorgan ausgebildet.  
(2)
Zikaden galten schon Platon (429-347 v. Chr.) als „Botschafter der Musen“ und „entkörperlichte Seelen“ . Etwas später datieren die aus Jade gesschnitzten Zungenzikaden (Han-Zeit, 206-220 v. Chr.), die man in China fand und dem Glauben an die Wiedergeburt Ausdruck verleihen.

aus «Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen», Schiedberg/Austria (Bacopa), 2019.

Monika Littau «Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen» edition offenes feld, 2021

Monika  Littau, 1955 geboren in Dorsten (D) schreibt u.a. Lyrik, Prosa, Romane und Kinderliteratur, erschienen sind mehr als 20 Einzelveröffentlichungen, zuletzt „Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen“ (2019), „Die sehende Sintiza“ (Roman, 2020) und „Manchmal oben Licht“ (Lyrik,  2021) sowie das „Lesebuch Monika Littau“ (2022). Für ihre Arbeit erhielt sie viele Auszeichnungen und Stipendien, bspw. den Förderpreis für Literatur des Landes Nordrhein-Westfalen und zuletzt den Bonner Literaturpreis (2021). Ihre Lyrik ist übersetzt ins Englische, Tschechische und Arabische.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Monika Littau