Was sich auf dem Büchertisch in der Buchhandlung wie eine Geschichte um Leidenschaft, mit dem Titel «Am See» wie eine liebliche Geschichte gibt, ist alles andere. Nami wächst dort auf. Der Wasserspiegel ist viel tiefer wie einst, die ehemaligen Fischerdörfer hoch an den Hängen über dem stinkenden See. Die Sonne brennt, ausser der Polizei fahren keine Autos mehr auf den aufgerissenen Strassen. Die Vergangenheit ist verloren gegangen, die Welt heute nicht einmal mehr Erinnerung.
Der See liegt irgendwo dort, wo einst Russland lag. Eine stinkende, giftige Kloake, salzig und tot. Die Dörfer und Städte an diesem See sind entweder abgeschottet für die Reichen und Mächtigen oder dem Zerfall, der Anarchie, der Willkür überlassen. Regen ist mehr Erinnerung, die Haut juckt, wer Kinder auf die Welt setzt, nimmt Missbildungen wie Schicksal entgegen. Nicht nur das, was an Infrastruktur und Natur dem Zerfall preisgegeben ist, zerfällt, auch das was das Menschsein in vergessener Vergangenheit ausmacht; Freundschaft, Liebe, Verbundenheit.
Hier wächst Nami auf, in Boris, einem kaputten Dorf, ein Junge mit blauen Augen. Zuerst bei den Grosseltern, bis diese sterben und in einer düstern Zeremonie den Seegeistern übergeben werden. Der Kolchosevorsteher übernimmt das Haus der Grosseltern, sperrt Nami in einen Verschlag, aus dem ihm der Weg in die Schule unmöglich gemacht wird. Er bricht nachts aus, streift durchs Dorf, lernt Zaza, ein Mädchen aus der Nachbarschaft kennen. Aber als Zaza von Soldaten vor den Augen Namis vergewaltigt wird, flieht dieser, macht sich auf den Weg in die Stadt, auf der Suche nach seiner Mutter, die er nur aus seinen Träumen kennt.
Namis Odyssee durch die Reste einer sterbenden Zivilisation, seine Suche nach seiner Herkunft, nach Freundschaft, einem Zuhause, bringt ihn zusammen mit allerlei Gestalten. Mit Nikititsch, mit dem er Schwefel schürt, den er in einer Schreddermaschine sterben sieht. Mit Johnny, der ihn mitnimmt in seine Wohnung in einem Hochhaus, dem er dienen soll, der ihm ausgetragene Kleider gibt und ihn aus dem Kühlschrank Dinge essen lässt, von denen er nicht wusste, dass es sie noch gab, der Nami hält wie einen Hund, bis dieser zu beissen beginnt, Haken schlägt und den Gewehrkugeln entkommt. Mit der Alten Dame, die ihn aufnimmt, deren Garten er zurückgewinnt und die ihn belohnt mit einem Weg zu seiner Mutter.
«Der See» ist eine Dystopie. Ein Endzeitroman. Ein Bild dessen, was sein könnte, wenn das Schiff ungebremst über den Abgrund hinausfährt. Kein Science fiction mit Superhelden, dafür umso mehr Verlierern. Eine Geschichte, die eine apokalyptische Welt in aller Selbstverständlichkeit zur Kulisse nimmt, den Weg Namis auf der Suche nach seiner Mutter, den Willen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, nicht zu akzeptieren, was unveränderlich scheint, so knochentrocken beschreibt, dass der Speichel im Mund während des Lesens wegbleibt.
Bianca Bellová gliedert ihren Roman in vier Teile: Ei – Larve – Puppe – Imago. Wer mit dieser Unterteilung, dem Werden Namis auf die Metamorphose zu einem Helden hofft, kommt nur strichweise auf seine Rechnung. «Am See» ist ein düsterer Entwicklungsroman. Die Geschichte eines Mannes, der nicht nur auf der Suchen nach einer Mutter ist, sondern auf der Suche nach seiner Bestimmung, jenem Ort, jenen Menschen, zu denen er wirklich gehört. Ein Buch mit ungeheuren Bildern, suggestiv erzählt, in seiner Düsternis von bezaubernder Schönheit.
Bianca Bellová wurde 1970 in Prag geboren und ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie ist die Autorin mehrerer in ihrem Heimatland gefeierter Romane und Novellen. Für ihren neusten Roman «Am See» wurde sie mit dem tschechischen Buchpreis «Magnesia Litera» sowie mit dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet.
Titelfoto: Sandra Kottonau