Es gibt Lesemomente, die einem das Gefühl geben, an etwas ganz Besonderem teilzuhaben. Das passierte schon bei Iris Wolffs dritten Roman „So tun als ob es regnet“. Noch intensiver war der Sprachschauer bei der Lektüre ihres aktuellen Romans „Die Unschärfe der Welt“. Ein Leseerlebnis, das sich einbrennt. Ein Buch, das man nicht gerne weglegt. Eine Geschichte, die tief berührt und Sprache, die deutlich macht, wie Handwerk zu Kunst wird.
Im Banat, einem Gebiet im Westen Rumäniens, leben die Banater Schwaben, eine Deutsch sprechende Bevölkerungsgruppe, ein Bergland, in dem Iris Wolff aufwuchs. So wichtig die ProtagonistInnen, so wichtig ist in den Romanen der Autorin dieses Kulturgebiet. In Iris Wolffs Romanen wird eine Gegend zu einem Protagonisten. Auch darum, weil dieses Gebiet mit intensiven Emotionen aufgeladen ist. Auch darum, weil sich dieses Gebiet über Grenzen hinaus nach Serbien und Ungarn erstreckt. Und nicht zuletzt darum, weil das Banat immer wieder Konfliktgebiet der Geschichte war.
„Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzelner Augenblick.“
Iris Wolff erzählt die Geschichte einer Familie. Wie Hannes, der junge Pfarrer im Dorf und seine Frau Florentine eine Familie werden. Wie der kleine Samuel aufwächst und schon von Beginn weg ein Sonderling ist, zuerst lange stumm, dann still, später einer, der wie kaum andere zuhören kann. Die Geschichte von Hannes Eltern, von seiner Mutter Karline, die der jungen Familie zur Hand geht und für Samuel ein Anker, eine Insel wird. Die Geschichte einer spektakulären Flucht, langer Jahre in der Fremde und einer Liebe, die sich wiederfindet. Von Stana, einem Mädchen, das mit Samuel gross wird und hin- und hergerissen ist zwischen dem Sanftmut ihres Freundes und der Strenge ihres Vaters, den permanent schwelenden Konflikten, den Übergriffen, seien sie auch bloss seelischer Natur. Stanas Vater ist ein Zudiener der Diktatur, mit Geschenken und Zuwendungen käuflich.
„Die Unschärfe der Welt“ ist die Geschichte eines Dorfes, etwas vergessen von der Geschichte, im Schatten der grossen Ereignisse in den letzten Jahren der Ceaușescu-Diktatur und den darauffolgenden Wirren in einem Land, das sich nur schwer aus den Klauen jahrzehntelanger diktatorischer Strukturen befreien konnte.
Jede Geschichte passiert auf hunderte mögliche Weisen, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.“
Was das Überragende dieses Romans ausmacht, ist nicht die Geschichte. Auch wenn sie raffiniert erzählt und gekonnt konstruiert ist. Das grosse Kunststück dieses Romans ist dessen Sprache. Was die Sprache in mir als Leser erzeugt. Iris Wolffs Blick in die Geschichte, ihr Erzählen ist kein fotografisches, filmisches. Iris Wolff öffnet einen Spalt breit, lässt die Tür mehr verschlossen, geheimnisvoll offen und erzeugt bei emphatischen LeserInnen dafür umso mehr innere Bilder, einen regelrechten Sinnenrausch. Sie beschreibt nicht, was sie sieht, sondern, was ihre Eindrücke in ihr erzeugen, das Echo des Geschehens. Ihre Sätze sind unterlegt, sagen weit mehr als sie vordergründig erzählen. Es ist, als würde man stets eine vielfach gespiegelte, weit detailreichere Realität dahinter, darunter oder darüber mitlesen, obwohl die Autorin nur einen Spalt breit die Tür öffnet.
„Vielleicht war getäuscht zu werden die grösste Sehnsucht von allen.“
„Die Unschärfe der Welt“ schärft den Blick auf die Welt. Auch auf das politische Geschehen Rumäniens, den Zusammenbruch, die Wirren nach der Hinrichtung des Diktators und seiner Frau, einer Flucht und den krassen Gegensätzen damals zwischen Rumänien und Deutschland und die Öffnung gegen Westen. Ein ungeheuer vielschichtiges, vielstimmiges und tiefgründiges Buch.
Für Anfänge musste man sich nicht entscheiden, Enden kamen von allein, wenn man sich nicht entschieden hatte.“
„Die Unschärfe der Welt“ ist eine Perle. Eine, die auch in Zukunft ihren Glanz nicht verlieren wird.
Ein Interview mit Iris Wolff:
„Die Unschärfe der Welt“ ist die Geschichte von Samuel und den Fixsternen im Leben Samuels. Nimmt der Titel des Romans auch Bezug auf die Art deines Erzählens? Du leuchtest nicht aus, du erklärst nicht. Dein Blick auf die Welt ist nicht der durch ein Okular.
Der Titel hat sich aus einem Satz heraus entwickelt, den Stana im vierten Kapitel sagt: “Sprache konnte nicht mehr sein als ein Anlauf zum Sprung.“ Es geht für die Figuren immer wieder darum, sich auf die Wirklichkeit ihrer Erfahrungen einzulassen – ohne vorgefertigte Deutungen und Konzepte. Es ist nicht ausreichend, ein Leben einzeln zu betrachten. Der Blick des Buches gleicht eher einem Kaleidoskop, in dem sich die einzelnen Teile immer wieder neu zusammensetzen, in dem es (für Menschen, Meinungen und Ideen) immer nur ungefähre Aufenthaltsorte gibt. Für mich als Schreibende liegt in dieser Unschärfe, Wandelbarkeit eine grosse Freiheit.
Dein Roman ist ein Fenster in das Land deiner Herkunft; Rumänien im 20. Jahrhundert. Ein Land, das Jahrzehnte vom Machtapparat eines Diktators geprägt wurde. Kann man überhaupt einen Roman schreiben, der in diesem Jahrhundert spielt, in dem der Diktator Ceaușescu direkt oder indirekt keine Rolle spielt? In der Schweiz werden nur wenige Romane geschrieben, in denen Politik eine Rolle spielt.
Ich mag es, mich mit geschichtlichen Themen auseinanderzusetzen, Zeiten und Umstände zu recherchieren, die nicht die meinen sind. Aber mir sind meine Figuren immer dann besonders nah, wenn sie aus der Zeit fallen. Sei es, dass sie den Mut finden, ihr eigenes Glück einem grösseren Zusammenhang unterzuordnen – wie Samuel, der viel aufgibt, um seinen Freund Oz zu retten. Die Gewalt- und Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts hat Spuren in den Lebensläufen der Menschen hinterlassen. Als politische Autorin sehe ich mich jedoch nicht. Es geht mir immer um die Figuren, um die Plausibilität ihrer Welt, um eine grösstmögliche Nähe zu den Leserinnen und Lesern.
Die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk sagte in ihrer Nobelpreisvorlesung, was für ein Alptraum es sei, die Frage gestellt zu bekommen, ob das denn alles so passiert sei. In deinem Roman sagt jemand: „Jede Geschichte ist auf hunderte mögliche Weisen passiert, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.“ Haben wir es in Zeiten von Fakenews verlernt, aus den Geschichten die ihr eigene Wahrheit zu filtern?
Welch schöne Frage. Mir als Schreibende wird eine gewisse Weite, eine Offenheit der Komposition immer wichtiger. Trotz der Komplexität des Romans ist alles nur ein Ausschnitt, die erzählte Welt setzt sich imaginär über den Bildraum fort. Das versetzt die Lesenden in eine aktivere Rolle, sie werden zu Fährtenlesern, die die Verbindungen suchen. „Der wahre Leser muss der erweiterte Autor sein“, schreibt Novalis. Die Freiheit der eigenen Deutung ist wichtig, und ebenso die Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten zuzulassen, Mehrdeutigkeiten, Ambiguität. Ich will als Autorin keine Wahrheit verkünden, sondern Wahrnehmung zur Verfügung stellen.
Samuel ist einer, der „mit Worten umging, als würden sie sich durch übermässiges Aussprechen abnützen“. Er lebt in krassem Gegensatz zu all jenen, die sich permanent in den sozialen Medien kommentieren müssen. Spricht da deine Sehnsucht?
Für meine Protagonisten gibt es keine Sicherheit jenseits des eigenen Erlebens. Für alle sprachlichen Äusserungen, für alle Ideen und Vorstellungen gibt es immer nur einen Grad der Gewissheit, eine Wahrscheinlichkeit. Ich finde das befreiend, vor allem in einer Welt, die von Gewissheiten und Meinungen bestimmt ist, in der oftmals die Deutung vor der Erfahrung, das Urteil vor der Begegnung kommt. Die Stille ist (ebenso wie die Poesie) da ein heilsames Gegengift.
Du schaffst es, Sätze zu schreiben, die sich einbrennen. Sätze, die mich neidisch machen, weil ich weit weg bin von einer solchen Quelle. Sätze, die zeigen, dass sich die Literatur, die Kunst schon in einem einzigen Satz offenbaren kann. Musst du dich in einen „Schreibzustand“ versetzen, damit dir solche Sätze und Bilder einschiessen?
Ich muss in meinen Geschichten das Land meiner Herkunft berühren. Etwas geht davon aus, etwas führt immer wieder dahin zurück. Eine gute Freundin sagte einmal, dass eine bestimmte Sprache an einen bestimmten Ort geknüpft ist. Meine Sprache, die Melodie der Sätze, die Bildhaftigkeit entwickelt sich bislang nur, wenn ich von Siebenbürgen oder wie jetzt in meinem aktuellen Roman, aus dem Banat ausgehe – diesem faszinierenden Landstrich, in dem verschiedene Kulturen über Jahrhunderte zusammenlebten. Ich glaube, das ist meine Quelle.
Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, aufgewachsen im Banat und in Siebenbürgen. 1985 Emigration nach Deutschland. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung. Bis März 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg. Mitglied im Internationalen Exil-PEN. Lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau.
Beitragsbild © Falko Schubring