Linus Reichlin «Manitoba», Galiani

In irgendeiner Weise werden Indianer immer zu Helden. Wohl am meisten bei Kindern in Geschichten, Bilder von Indianern, später aus Filmen und noch später gar mit angelesen Ideologiefetzen. So sehr das Indianersein verklärt und glorifiziert wird, so sehr leidet der Indianer selbst an der Wirklichkeit.

«Ein Urgrossvater, dessen Identität nicht zweifelsfrei feststand, konnte mir keine Heimat sein; wenn es um Herkunft ging, konnte man nicht sagen ich glaube, Herkunft musste eindeutig sein.»

Er, der erzählt, weiss nicht wirklich, warum er die Reise in den us-amerikanischen Norden, nach Washakie im Bundesstaat Wyoming macht, erst recht nicht mehr, nachdem er von der Reise zurückgekehrt zu schreiben beginnt, unsicher darüber, ob mehr gewonnen oder nicht viel mehr das wenige zerstört wurde. Zum einen war da die Recherche, ein paar Wochen abgeschiedenes Leben in einer Hütte im kanadischen Manitoba, zum andern die Lust nach Klarheit über eine Familienlegende, nach der die Urgrossmutter einen stolzen indianischen Krieger vom Stamm der Arapaho zum Mann nahm und er nun als Achtelindianer wissen wollte, ob nachzuforschen sei, was aus dem verlorenen Familienteil geworden war. Andererseits war die Reise eine Flucht vor den emotionalen Wirren um die Trennung von seiner Frau Hanna. «Wie konnten sich zwei Menschen, die ihr Innerstes in gemeinsame Schwingungen versetzen konnten, nicht mehr lieben? Ich weiss es nicht. Aber wir konnten es. Wir konnten einander nicht mehr lieben.» Und dann noch sein ebenfalls schreibender Sohn, der mit seinem Erstling jenen Erfolg hatte, der ihm zu fehlen schien.

9783869711317Ein Mann, der sich abkoppelt, nun auf der Suche nach Herkunft, weil die Gegenwart zu kollabieren drohte, auf den Spuren seiner Herkunft, die letztlich auch nicht durch Stammbäume und Gentechnik zu klären sind. Und nicht zuletzt eine Flucht mit Fluchthelfern, Tabletten gegen Herzrhythmusstörungen, Hilfe für einen aus dem Tritt geworfenen, der als Preis dafür mit langen, heftigen und fremden Träumen zu kämpfen hat. Vater und Sohn weit voneinander entfernt, verbrüht durch Verletzungen, falsch verstanden und im entscheidenden Moment alleine gelassen. Für mich als Leser vielleicht eine der stärksten Szenen im Roman: Der Vater früher zurück aus den Staaten an der Preisverleihung zu Ehren seines Sohnes schlussendlich sitzen gelassen, weil die Festgesellschaft ohne ihn weitergezogen war.

«Manitoba» ist jenseits aller Rührseeligkeit auch ein Buch über die Begegnung mit Indianern, die unter dem Deckmantel der Missionierung von Menschen mehr als nur zu leiden hatten. Vielleicht auch von der aus der innerschweizerischen Enge geflohenen Urgrossmutter des Erzählers. Indianer, die für ihr Anderssein bestraft wurden. In nordamerikanischen Schulen, in der die Urgrossmutter unterrichtete, schon dafür, dass die Kinder heimlich in der Sprache ihrer Eltern flüsterten. Was waren die Beweggründe jener Frau damals? Warum reiste sie wenige Jahre später wieder zurück ins Stauffacherdorf Steinen im Kanton Schwyz? Während er fährt, nachfragt und sucht, liest er Urgrossmutters spätes Tagebuch, einen niedergeschriebenen Erklärungsversuch, den sie als alte Frau kurz vor ihrem Tod niederschrieb und Quell vieler neuer Geheimnisse wurde.

Linus Reichlin spannt den Bogen von Steinen bis in die Wälder Kanadas, von den Alteingesessenen hier und da. Ein Buch über die Hoffnung nach klärender Distanz und distanzierter Klärung, ein Protokoll des Schreibens und Scheiterns, darüber, dass eben doch nur Geschichten ein Ende haben.

autor_1312Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für seinen in mehrere Sprachen übersetzten Debütroman »Die Sehnsucht der Atome« erhielt er den Deutschen Krimi-Preis 2009. Sein Roman »Der Assistent der Sterne« wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010/Kategorie Unterhaltung gewählt. Über seinen Eifersuchtsroman »Er« schrieb der Stern »Spannend bis zur letzten Minute«. 2014 erschien »Das Leuchten in der Ferne«, ein Roman über einen Kriegsreporter in Afghanistan – »das ist große Literatur, und dann auch noch spannend erzählt« (FAZ).

Liest Zürich? Bestimmt Christian Kracht!

An 5 Tagen 180 Veranstaltungen rund um das Buch in Zürich, Winterthur und Umgebung. Klar, man sah einige Fahnen, Plakate – aber liest Zürich? Sieht man an diesen Tagen mehr Menschen in Zürich, die mit Buch oder eBook sitzen, stehen oder liegen und sich wegtragen lassen?

Liest Zürich, wenn ein Autor von Wien nach Winterthur reist, um aus seinem neuen Roman vorzulesen und es sitzt ein knappes Dutzend da und hört zu? Liest Zürich, wenn Christian Kracht im neuen Auditorium des Landesmuseums liest und der grosse Saal bis auf den letzten Platz proppenvoll ist? Sind das Leserinnen und Leser oder bloss solche, die eine Nase voll von dem mitbekommen wollen, was in den Medien rund um Christian Kracht breitgeschlagen wird? Spüre ich da leise Enttäuschung, wenn Christian Kracht bloss liest, erst noch lange und sich schlussendlich freundlich vor dem Publikum verbeugend, so gar nicht spektakulär? Nichts und niemanden niederreisst? Nicht der kleinste Disput, nachdem man ihn in der Kritik aus lauter Irritation und Verunsicherung entweder in den Himmel lobte oder als Machwerk zerriss.

Liest Zürich? Wahrscheinlich ebenso selten wie der Rest der Schweiz. Umso löblicher, dass «Zürich liest» so viele potente Partner mit ins Boot holen konnte, die ein solches Festival mit so vielen Veranstaltungen, Veranstaltungsorten und Akteuren überhaupt durchführen konnte. Umso schöner, dass man sich nicht entmutigen lässt und das Tram weiterhin mit Autoren und Publikum durch die Stadt fahren lässt, das Schiff auf dem See, Sofalesungen veranstaltet und grosse Namen der Literatur einlädt, wie den Niederländischen Erfolgsautor Arnon Grünberg, den Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino oder die indisch-französische Autorin Shumona Sinha, die mit dem Roman «Erschlagt die Armen» nicht nur literarisch für Schlagzeilen sorgte. Und eben Christian Kracht.

© Frauke Finsterwalder 2016
© Frauke Finsterwalder 2016

Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren und schon mit seinen Romanen «Faserland», «1979», «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» und «Imperium» in 30 Sprachen übersetzt und von der Kritik heftig besprochen, veröffentlichte diesen Herbst seinen neuen Roman «Die Toten». Ein Roman, der in den Jahren der Weimarer Republik spielt, wo der Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli beauftragt wird, eine cineastische Gegenkraft, eine vereinte Achse zwischen Deutschland und Japan zu formieren gegen die beginnende Übermacht des boomenden Hollywood-Imperiums. Aber weil Christian Kracht Christian Kracht ist, geht es dem Autor in seiner Literatur nicht um den Transport einer Geschichte. Literatur soll 9783462045543Kunst sein, Kunstwerk. Bei jeder anderen Kunstgattung ist die mögliche Provokation mit eingeschlossen. Und ausgerechnet in der Literatur gibt man sich dupiert, ja fast beleidigt, wenn man als Leser und erst recht als Kititker verunsichert wird. Dabei sind Autoren wie Christian Kracht genau das, wonach es schreit; Autoren, die wagen, die verunsichern, irritieren, vielleicht sogar polarisieren. Und die Kritik ist irritiert. Irritiert von der Geschichte, weil sich Christian Kracht nicht um Konventionen und Gepflogenheiten zu kümmern scheint. Irritiert vom Ton, der sein Schreiben so eigen-artig macht. Irritiert, weil man vergeblich nach einer Message sucht, weil Verunsicherung zum Programm gehört. Irritiert, weil sich Christian Kracht auch schon nach seinem letzten Roman «Das Imperium» nicht um die kruden Behauptungen eines Spiegelberichts kümmerte, der seinem Schreiben einen Rechtsdreh andichten wollte.

Christian Kracht las fast 90 Minuten im unterkühlten Neubau des Landesmuseums, mit Mantel und Schal. Und es lauschten alle, weil jeder, der lauschte, spürte, dass da etwas Spezielles klingt.

Ich freue mich, wenn Zürich wieder liest, im Herbst 2017.

 

 

Christoph Ransmayr «Cox oder Der Lauf der Zeit», S. Fischer

«Fuck, sagte Jakob Merlin, ein bisschen sei ihr Leben hier doch wohl, als strampelten sie allesamt nur selber wie die mechanischen, von unsichtbaren Zahnrädchen angetriebenen Figuren eines Automaten dahin, als atmende Verzierungen einer Maschine, die von Mechanikern kontrolliert und gesteuert wurde, deren Bräuche denen eines anderen Sterns entsprachen; unbegreiflich.»

Der Londoner Uhrmacher Alister Cox wird zusammen mit seinen Gefährten vom chinesischen Kaiser Qiánlóng in die purpurne Stadt Zi jin chéng eingeladen. Alister Cox, der die lange Reise nach China antritt mit dem Schmerz über eine viel zu früh verstorbene Tochter und eine in ihre Stummheit verlorenen Frau, soll abgeschottet in der Verbotenen Stadt Uhren ganz nach den Vorstellungen des allmächtigen, gottähnlichen Kaiserfürsten bauen. Uhren, die nicht einfach die Zeit messen und Spielzeug für den Unermesslichen sein sollen, sondern Lebensuhren; Zuerst eine Uhr, die die Lebenszeit eines Kindes spürbar machen soll. Dann eine Uhr für Todgeweihte und zuletzt ein Uhrwerk, dass die Ewigkeit messen kann. Alister Cox und seine Begleiter tauchen in eine fremde, bizarre Welt der Gegensätze; auf der einen Seite die der überbordenden Sinnlichkeit des Schönen und auf der anderen Seite die Perfektion der Brutalität in der Strenge des chinesischen Imperators. Zudem ist es die Suche eines Mannes, der seine viel jüngere Frau an ihr Schweigen und die Angst vor Berührungen verlor, nachdem die einzige Tochter mit fünf Jahren starb. Ein Mann, der mit der langen Reise an die andere Seite der Welt Nähe in der Distanz zu gewinnen hofft. Erst recht, als er in den kurzen Begegnungen mit einer Konkubine des Kaisers seine Frau und sein Kind wie durch einen Spiegel zu erkennen glaubt. Die Männer mit Alister Cox schrauben und feilen an der perfekten Maschine, am «perpetuum mobile», in einem Palast, in dem «alles nach den Gesetzen und Proportionen des Sternenhimmels vermessen und gebaut, ein bis auf Herzschläge, Atemzüge und Kniefälle geregeltes, höfisches Leben nicht anders umfasste, als ein ziseliertes Gehäuse das Räderwerk einer Uhr».
Qianlong_Empress_(2)Christoph Ransmayrs Absicht war mit Sicherheit nicht einen historischen Roman zu schreiben. Christoph Ransmayr bedient sich der Historie, um vom Dilemma des schöpferischen Menschen zu schreiben. Davon, dass man am einen Ende erschafft, um am anderen Ende zu zerstören. Davon, dass es bei all den vielen Reisen, die der Autor unternimmt, nicht ums Verstehen geht. Ransmayr beschreibt, geschult durch den Blick des Nomaden, wie durch Kraft und Leidenschaft das scheinbar gleichmässige Ticken der Zeit ins Stocken geraten kann, auch durchaus beabsichtigt.
Christoph Ransmayr will nicht abbilden und nacherzählen, ist nur insofern an Geschichte interessiert, als dass sie zur Bühne seines Erzählers wird. Und auf dieser Bühne ist die Hauptperson die Sprache, der wuchtige Klang seiner Sätze, jene Sprache, die genau dort hineinpasst, in jene von Seide, Farben, Figuren, Diamanten, Gold und Edelsteinen durchsetzten Kunstwelt rund um einen entrückten Gottmenschen.
Ein Roman mit satten Farben und klaren Strichen, über Masslosigkeit und das Geheimnis der Zeit.

AF_Ransmayr_Christoph__0901_Druck.jpg.34712914Christoph Ransmayr (1954) wuchs als Sohn eines Volksschullehrers auf. Er besuchte das Stiftsgymnasium der Benediktiner in Lambach und studierte von 1972 bis 1978 Philosophie und Ethnologie. Seit 1982 ist er freier Schriftsteller, lebt in Wien und Irland. Sich selbst bezeichnet er als «Halbnomaden» aufgrund seiner vielen Reisen. Ransmayr verbindet in seiner Prosa historische Tatsachen mit Fiktionen. Charakteristisch für Ransmayrs Romane sind die Schilderung grenzüberschreitender Erfahrungen, die literarische Bearbeitung historischer Ereignisse und deren Verknüpfung oder Brechung mit Momenten aus der Gegenwart. Die Verbindung von spannenden Handlungen und anspruchsvollen Formen haben vor allem in seinen ersten beiden Romanen «Die Schrecken des Eises und der Finsternis» und «Die letzteWelt» viel Lob eingebracht.

Am 22. November liest Christoph Ransmayr im Kaufleuten in Zürich. Moderiert wird die Veranstaltung von Martin Ebel, Literaturredaktor beim Tages-Anzeiger.

Webseite über Christoph Ransmayr