Daniela Danz «Lange Fluchten», Wallstein

«Lange Fluchten» ist der Daniela Danz zweiter Roman, ein 144 Seiten starkes Buch, viel mehr als eine Geschichte, sondern ein vielschichtiges Drama über das Scheitern, ein Buch wie ein Monolith.

Brüche sind es, die Geschichte schreiben. Auch bei Cons, eigentlich Constantin, dessen Lebensplan nicht aufging. Nach Jahren in der Armee und einem Aussetzer im falschen Moment ist Cons schwieriges Leben, nach einer Kindheit mit einem «energischen» Vater, für den er nichts als ein Schwächling war, aus den Fugen geraten. «Die Armee ist das Modell einer Gesellschaft, jeder an seinem Platz und jeder seinem Auftrag verantwortlich.» Aber Cons wartete bloss, auf seine Aufgabe, seinen Auftrag, seinen Platz, bis ihn die Armee als nicht mehr brauchbar ausspuckte. Cons taumelt zurück in ein begonnenes Leben, irgendwo in der Nähe seiner Frau und seiner beiden Söhne, einem Haus im Rohbau und zweier aufeinander gestellter Container, aus denen schon lange viel mehr wurde als ein Provisorium, nämlich Symbol eines Lebens, entwurzelt, irgendwo hingestellt. «Nicht einmal ein Arm fehlt dir oder ein Bein, nicht einmal in einem richtigen Krieg warst du. Und liegst den ganzen Tag hier rum. Und wenn du deinen Arsch mal hochhebst, dann baust du nur Scheisse. Und Mama hilft dir auch noch und verteidigt dich. Sie sollte dich rausschmeissen samt deinem ganzen Jagdgerümpel», giftelt der 12jährige Sohn. Der Krieg ist in vollem Gang.
Als dann auch noch Henning, sein einziger wirklicher Freund, vom Krebs zerfressen, sich in seiner Wohnung mit Hilfe Cons Seils und Bohrmaschine aufhängt, spitzt sich in Cons Lebensrest alles zu auf diesen einen Moment, in dem er sein und die Leben seiner Familie dann doch noch in den Griff bekommen will. Henning hinterlässt ihm eine Schachtel mit Briefen, auch den einen: «Cons, du musst springen. Du musst zurück in den Wald gehen, aus dem du nie wieder rausgekommen bist.»

Daniela Danz, 1976 geboren, schrieb einen Roman voller Verzweiflung und Schmerz, in bildhafter, starker Sprache, mit Sätzen die sich tief einbrennen, ein Roman, der einiges abverlangt, das Lesen nicht leicht macht, viel mehr als bloss eine Geschichte erzählen will, sondern auf kleinem Feuer einen Kloss zum Klotz wachsen lässt.

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Wortlaut 2016, mal luise mal laut, mal rinks mal lechts

Vom 31. März bis 3. April fanden die 8. St. Galler Literaturtage WORTLAUT statt, ein Festival des geschriebenen, gesprochenen und gezeichneten Wortes.

Hier meine ganz eigene Perlenkette, eine Hand voll gute Bücher:

Helle-coverHeinz Helle «Eigentlich müssten wir tanzen», Suhrkamp
Fünf junge Männer verbringen ein Wochenende in den Bergen. Zurück im Tal sind die Ortschaften verwüstet, die Menschen tot, aufgequollen oder geflohen, die Häuser und Geschäfte geplündert, die Autos ausgebrannt, Kühe noch im Sterben an Melkmaschinen hängengeblieben. Zu Fuss unterwegs, aller Ziele beraubt, wird das Leben reines Funktionieren, Handeln jedem Sinn beraubt.
Im Gespräch bei der Lesung meinte Heinz Helle, die Gruppe junger Männer sei ein Versuchsanordung gewesen. Was passiert, wenn alles verschwindet, wegbleibt, wenn Menschen nur noch Körper sind? Sie werden Teil der Natur, haben Zivilisation aufgegeben, erst recht die verklärte, romantische Vorstellung, was ein Leben in und mit der Natur sein könnte. Einzig der Wille treibt sie, überleben zu wollen, obwohl niemand unter ihnen ein Warum und Wozu beantworten kann. Auch wenn der Roman düster erscheint, ist allein die Sprache es wert, dieses Buch zu lesen. Und der Autor ein Versprechen für die Zukunft!
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Pierre Jarawan «Am Ende bleiben die Zedern», Berlin
Vor Samirs Geburt sind seine Eltern aus dem Libanon nach Deutschland geflohen. Mit acht verschwindet sein geliebter Vater, plötzlich, unerwartet. Zwanzig Jahre später, nachdem ihm seine Verlobte das Letzte verweigert, macht sich Samir auf in das Land der Zedern, auf die Suche nach sich selbst und seiner Herkunft. Ein Buch über Risse in der Familie, im Heimatland Libanon und jene in der eigenen Seele. Pierre Jarawan schrieb ein Buch über seine Liebe, über ein Land, das noch über Generationen an Missverständnissen leiden wird, über ein Land, dass sich nicht traut, über die Vergangenheit nachzudenken. Ein erstaunlich reifes Buch ganz in der Tradition wahrer Geschichtenerzähler! In seiner Lesung spürte ich sein Feuer, die verzehrende Leidenschaft des Autors für Land und Familie. Das Buch sei Fiktion, aber trotzdem 100%ige Wahrscheinlichkeit. Und weil Pierre Jarawan als Slam Poet das Publikum als Teil seiner Performance ernst nimmt, sprang der Funken umso mehr.

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Rebecca C. Schnyder «Alles ist besser in der Nacht», Dörlemann
Alles an Billy ist Protest, jede Faser, jede Geste, jedes Wort. Protest gegen alles. Billy hat zwar schon einmal ein Buch geschrieben, aber nicht einmal das ist es wert, aufrecht zu gehen. Sie geht geduckt durchs Leben, gequält von den Anrufen ihrer Mutter, vom Drängen ihres Verlegers, selbst von der Liebe Noes, der ausgerechnet Theologie studiert. Rebecca C. Schnyder erzählt in ihrem ersten Roman vom inneren Kampf einer jungen Frau gegen sich selbst. Zugegeben, das Buch mag auf den ersten Seiten abschreckend wirken. Schon der zweite Satz schlägt in die Magengrube und es dauert eine ganze Weile Lesen, bis ich Mitgefühl für die Heldin aufbringen kann. Aber das ist Programm, braucht dieses Buch, diese Geschichte, um glaubhaft von einem Leben zu erzählen, das aus der Spur geraten ist. Kein Buch zur Erbauung, aber ein Buch, das einem eine Tür öffnen kann. Rebecca C. Schnyder, bisher mehr bekannt als Dramaturgin («Erstickte Träume – St. Gallens stilles Erbe», UA 7. November 2015 Theater St. Gallen) überzeugt auch im Roman mit scharfen, gut inszenierten Dialogen, rotzfrech. Billy ist ein erfrischendes Ekel.

Radek Knapp «Der Gipfeldieb», Pipercsm_produkt-11980_947c139828
Jedes Mal, wenn Ludwik seine polnische Mutter besucht, tischt sie ihm eine ganze Palatschinken-Pyramide auf. Sie wissen nicht, was Palatschinken sind? Etwas von dem, was Ludwiks Mutter von Polen mit nach Wien genommen hat, was ihr selbst nicht schmeckt, ihrem Sohn aber ungefragt zu schmecken hat, erst recht bei schwierigen Entscheidungen. Und weil Ludwik Junggeselle ist und sich seine Mutter immer wieder höchst engagiert in das Leben ihres einzigen Sohnes einmischt, ist Palatschinken-Essen eine Art sich nahezukommen, manchmal auch auszusöhnen. Vor allem, wenn Ludwik nach 15 Jahren «Warten» Österreicher werden soll und man ihm die Staatsbürgerschaft wie einen Orden für ein «Leben im Griff» verleihen will. Leider meldet der Staat aber unvermittelt eine Gegenleistung und der Vierunddreissigjährige soll zur Armee. Radek Knapp ist eine Fabulierer, ein begnadeter Geschichtenerzähler, bei dem man nie ganz sicher ist, wie ernst er den Ernst des Lebens nimmt. Sein Roman ist aber nicht bloss ein Schwank, sondern von bissigen Kommentaren durchsetzt, bei denen nicht nur die Wiener einige Hiebe abbekommen: «Das Gesindel ist arm. Und wenn der Westen nicht hinüberfährt und der Armut vor Ort unter die Arme greift, kommt die Armut hierher und hilft  sich selbst. Wenn sich also jemand schämen sollte, dann der Westen.» Die 40 Minuten Lesung waren köstliche Unterhaltung. So witzig der Protagonist im Roman, so witzig der Autor. Da werden Buch und Autor eins und für eimal gerät die Frage nach der Grenze zwischen Realität und Fiktion augenblicklich in den Hintergrund, erst recht nachdem der Autor in einem einzigen Satz die fünf meist gestellten Fragen bereits beantwortete.

Lappert_24905_MR.inddRolf Lappert «Über den Winter», Hanser
Lennard Salm ist fünfzig und Künstler, wenn auch verunsichert. Als seine älteste Schwester stirbt, kehrt er von der einen mit Strandgut überzogenen Küste am Mittelmeer zurück nach Hamburg an die andere «Küste» mit dem Strandgut seiner Familie, von der er immer entkommen wollte. Auf der Suche nach dem eigenen Leben begegnet er seiner Familie. Aber was ist das, das eigene Leben? Es ist kalt im Winter in Hamburg! Er lernt seine Eltern und Geschwister neu kennen. Rolf Lappert beschreibt genau, poetisch und mit einem ungeheuren Zug in seiner Sprache. Dass er am 9. April bei uns in Amriswil lesen wird, freut mich ungemein!

PS Lea, meine Tochter, zeichnete auf eine Papierserviette im Papiersaal Zürich.

Juli Zeh «Unterleuten», Luchterhand

Juli Zeh schrieb den lange angekündigten grossen, deutschen Gesellschaftsroman.

Juli Zeh ist eine der Grossen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. 1974 in Bonn geboren, Jura, Europa- und Völkerrecht studiert, landete sie schon mit ihrem Debut «Adler und Engel» einen Grosserfolg und konnte mit Romanen, Essays und Reisetagebüchern auch im weiteren überzeugen. Juli Zeh ist eine der AutorInnen, deren Schreiben immer politisch ist. So nimmt sie kein Blatt vor den Mund, sei es in einem offenen Brief an Angela Merkel als Konsequenz aus der NSA-Affäre oder zusammen mit Illija Trojanow («Der Weltensammler») in der Streitschrift Buch «Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte», wo sie im Rahmen der Buchvorstellung kritisierte, dass der Staat unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung immer weiter in die Privatsphäre seiner Bürger vordringe.

Und nun also der vom Verlag mit Trommelwirbel präsentierte Roman «Unterleuten». Unterleuten ist nicht das Dorfidyll, von dem Aussteiger, Zivilisationsflüchtlinge, Tierschützer träumen. Es schmaucht, raucht und stinkt. Es wird verleumdet, taktiert, geschlagen, 130 km weg von Berlin in der ehemaligen DDR, aber scheinbar auf der anderen Seite des Planeten. Alteingesessene, durch Jahrzehnte gestählte Befehls- und Ansichtenempfänger prallen auf geblendete Freiheitssehnsüchtige, Zuzüger, die Landschaft, Haus und Garten mit Erwartungen vollpumpen. Aber die alte Ordnung steckt wie all das Gift aus 40 Jahren sozialistischer Erfolgsgeschichte 20 cm unter dem Boden.
Mit den geschärften Sinnen der Autorin taucht der Leser in einen ganzen Kosmos ein, spielt mit bei all den Winkelzügen eines ganzen Dorfes. Die Autorin schildert unverblümt. Mag sein, dass den einen gewisse Charakteren überzeichnet erscheinen. Wer aber Dorfleben kennt, und nicht nur jenes in der ehemaligen DDR, weiss, dass Juli Zeh bloss konzentriert und scharf zeichnet. In Film und Theater wäre der Vorwurf der Überzeichnung hinfällig. Warum soll dies ausgerechnet in der Literatur, in diesem Buch das Vergnügen und die Einsichten schmälern.
Der eine Klimawandel stülpt sich über Landschaft, Dorf und Menschen, während der andere Klimawandel, weg von der eigenen Nasenspitze, auch bei den idealverseuchten Zuzügern und verklebten Ewiggestrigen noch längst nicht stattgefunden hat. Die einen hecheln nach Heimat und die anderen haben sie im Laufe ihres Lebens mehrmals verloren.
Juli Zeh schafft ein weitverzweigtes Panoptikum von Archetypen; Meiler der Spekulant, Kron der ewige Krieger, Linda die Pferdeflüsterin, Gerhard der geleuterte Tierschützer, Jule die verzweifelte Mutter, Hilde die verschrobene Alte… Ich tauchte ein und las mich weg. Juli Zeh fesselte mich an ihr Buch und ich liess es gerne geschehen!

«Wenn das Leben der Figuren auf katastrophale Weise schiefgeht, selbst wenn nach allen Regeln der Kunst gequält und gelitten wurde, so besassen Qual und Leiden noch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung.»

Juli Zeh liest am 17. Mai um 20 Uhr im Kaufleuten in Zürich.

Eine ganze Webseite zu allem rund ums Dorf und ihre BewohnerInnen

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