Ursula Fricker «Lügen von gestern und heute», dtv

«Hatte man sich einmal entschieden, war es einfach. Isa würde weitergehen, allein. Sie würde gehen, bis jemand sie aufhielte. Aber niemand würde sie aufhalten, weil niemand glauben konnte, dass ihr kein Gesetz noch etwas galt, keine Ordnung, keine Moral, keine Liebe.»

Ist Lüge das Gegenteil von Wahrheit?
Um drei Personen spielt der neue Roman von Ursula Fricker. Zum einen Isa, die aus ihrem Leben kippt, mit den Eltern bricht und einer wohlgefügten Vergangenheit, in der sie strebsam in die Zukunft zielte. Sie lässt ihr Studium sausen und taucht ab in eine parolenverseuchte Anarchie, eine Welt, die in allem und jedem den Feind wittert. Alles ist Lüge, die Welt aus den Fugen geraten. Isa radikalisiert sich immer mehr, igelt sich ein und steuert wie ein Komet unaufhaltsam der Katastrophe zu. Nichts und niemand erreicht sie noch. Kompromisslos, von einer Idee paralysiert, deutet sie hinter jeder Geste Ablasshändel und Kapitulation.
Zweiter Protagonist ist Innensenator Otten, alleine gelassen von Politik und seiner Berufung, verunsichert im Leben mit seiner Frau, die mit den radikalen Angriffen auf ihren Mann den Boden unter den Füssen verliert, erst recht, nachdem ein Bombenanschlag, der wohl unblutig hätte enden sollen, einer Unbeteiligten die Hand zerfetzt. Ottens Selbstverständnis schmilzt genauso wie seine Selbstsicherheit, die ihn nicht mehr zu schützen vermag vor dem um sich greifenden Chaos. Ein Chaos, das sich in einem besetzten Fabriksgelände zuspitzt, dem Ort wo sich die Radikalen hinter Flüchtlingen verstecken.
Dritte ist Beba, die der Armut und Aussichtslosigkeit ihrer Heimat entfloh und im Paradies vergessen als Prostituierte weiter träumt. Verfolgt von schlimmen Träumen aus der Kindheit und der Unmöglichkeit anzukommen oder zurückzukehren, sind Klavierstunden das einzige, das einen Weg aus dem Elend verspricht, denn dort ist sie zuhause, beschenkt mit einem besonderen Talent, erst recht, als sie mit ihrem Spiel auch Publikum findet. Ein Publikum, das nicht nur die Hure sieht. Sie, die alles verlor, auch ihren Onkel Koni, den einzigen, der ihrer Verwirrung Sicherheit gab und eines Tages im Stall an einem Balken hing, lernt Elias kennen, einen Trompeter. Plötzlich ist da ein Mann, der ihre Sprache versteht, mit dem Zukunft möglich wäre.
Aber überall, gestern und heute, wirkt das Gift der Lüge. Ursula Fricker erzählt, wie sich über Innensenator Otten die Schwere der Gegenwart zutut und ihn zu erdrücken beginnt. Die Begegnung mit der aufstrebenden Pianistin Beba wird das einzige, dass zu leuchten vermag, nicht mit Schwere verklebt ist. Alle drei, Isa, Otten und Beba verlieren den Halt in der Welt, kämpfen um ihren Schwerpunkt, wie ein Planetensystem, dessen Gravitation durcheinander geraten ist und alles zu trudeln beginnt. Die Autorin spinnt ein dichtes Netz, gräbt Schichten frei, die mich immer tiefer blicken lassen, eine Geschichte, die nicht kalt lässt und mit keinem Satz verklärt. Ursula Fricker meisselt mit Sätzen. Und was bleibt, gräbt sich tief. Die Autorin gewinnt erstaunliche Nähe zu Geschichten, Stimmungen und Gedanken ihrer Protagonisten, ohne den Respekt vor ihnen zu verlieren. Intelligent und engagiert erzählt, packend und spannend.

236_320_Ursula_Fricker_2053Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, studierte Sozialarbeit in Bern, arbeitete in einem Heim für geistig behinderte Menschen und in der Theaterpädagogik. Neben journalistischen Texten veröffentlichte sie bislang drei Romane. Ihr Debütroman «Fliehende Wasser» erschien 2004 und wurde mit dem Einzelwerkspreis der Schweizerischen Schillerstiftung und mit einem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet. Es folgten beim Rotpunktverlag 2009 ‹Das letzte Bild» und 2012 ‹Außer sich›, nominiert für den Schweizer Buchpreis im selben Jahr.

Ursula Fricker unterhält sich an den Solothurner Literaturtagen 2016 mit der DRS-Bücherfrau Luzia Stettler. Zum Nachhören!

Ursula Fricker liest am 17. September anlässlich der Brugger Literaturtage um 16.15 Uhr im Rathaussaal Brugg. Zum Programm!

 

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