David Mitchell «Knochenuhren», Rowohlt

Was macht den Hype um das neue Buch von David Mitchell aus, den Autor, der mit der Verfilmung seines Romans «Wolkenatlas» viele neue Leserinnen und Leser neugierig machte? Die unglaublichen Verkaufszahlen? Die Tatsache, dass sowohl gestandene Kritiker wie der Literaturredaktor des Tagesanzeigers Martin Ebel oder der Mitveranstalter des Kaufleuten sich zu Lobeshymnen und Verzückungsäusserungen hinreissen lassen? Die perfekte Mischung aus Thriller, Sience fiction, Fantasy und Dystopie? Oder ist es gar der Mensch, David Mitchell, der so fern allen Allüren und so nah allen Fans scheint?

cover-david-mitchellDavid Mitchells Roman «Knochenuhren» ist eine Reise durch die Zeit, von 1984 bis 2043. Die Geschichte um Menschen, die sich ausserhalb der endlichen Zeit bewegen, die auf ganz verschiedene Art nicht unsterblich, sich selbst aber eine Tür über den Tod hinaus öffnen können. Mitchell beginnt die Geschichte in der nahen Vergangenheit, hinein in eine Zeit des Umbruchs bis in eine nicht allzu ferne Zukunft, wo das übrig gebliebene Öl nur noch einer kleinen Bevölkerungsgruppe zugänglich ist und von Menschen gemachte Katastrophen die Welt in die Anarchie reissen. Ein Roman um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, der ausserhalb der menschlichen Zeit ausgetragen wird.
1984, Holly Sykes, die fünfzehnjährig verraten von ihrer ersten grossen Liebe und der mütterlichen Umklammerung von zuhause abhaut, hört manchmal Stimmen, Stimmen, die sie nicht einzuordnen weiss. Und als dann auch noch ihr kleiner Bruder Jacko verschwindet, ein kleiner Junge, der sich nach einer schweren Krankheit so ganz anders als seine Kameraden entwickelt, gräbt sich Kummer und Schuld tief in die junge Seele Holly Sykes ein. Zudem wird sie auf ihrem vermeindlichen Trip in die Freiheit Zeuge eines Doppelmordes, der von einer fremden Macht aber gleich wieder aus ihrer Erinnerung gelöscht wird. Sie selbst aber bleibt für ein ganzes Leben im Fadenkreuz jener Macht. Erst im letzten Kapitel gehört die Erzählstimme wieder Holly Sykes, die weit über 70, irgendwo an der Küste Irlands, weit weg von all jenen Errungenschaften der Gegenwart, vergessen in einer apokalyptischen Zukunft, bedroht von Banden, einem ausser Kontrolle geratenen Reaktor und dem fanatischen Endzeitglauben einiger Nachbarn zu überleben versucht. Scheinbar vergessen in einer kleinen Welt zusammen mit zwei zu Waisen gewordenen Kindern.
 Scan 7Holly Sykes ist der rote Faden durch die weiten Räume des Buches. Aber so wie Erzählperspektiven ändern, so ändern auch die Tonarten der Sprache. Holly Sykes aber begegnet man immer wieder, sei es als Frau von Ed Brubeck, einem Kriegsreporter, der den Kampf zwischen seinen Pflichten als allzeit bereiter Kriegsreporter und brauchbarem Familienvater zu verlieren droht. Oder als Freundin des Schriftstellers Crispin Hershey, der, verwöhnt von den Erfolgen seiner ersten Bücher, den Tritt im Schreiben verloren hat und sowohl vom Verlag wie vom Literaturbetrieb bitter abgestraft wird. Hershey lächelt zuerst über Holly Sykes, die in einer ganz anderen Nische als er mit ihrem Buch über «Radiomenschen» den Erfolg wie einen Kometenschweif hinter sich herzieht.
Was mich an diesem 800-Seiten-Roman fasziniert, ist nicht so sehr der Ton seiner Sprache, sondern das Instrumentarium, mit dem Mitchell zu spielen vermag; die Fülle an Ideen, Bildern und Handlungssträngen, die Weite des Panoramas an Zeiten, Kulissen, Personen, Welten und Details. Ein Buch in Breitbandmanier, das wohl wie «Wolkenatlas» nicht lange auf seine Verfilmung warten muss. Aber so vielfältig Mitchells Spielarten sind, so sind es auch meine Leseeindrücke, die von maximaler Grenzbelastung, wenn es allzu sehr nach Fantasy riecht, bis zu wirklicher Verzückung, wenn der Autor im letzten Kapitel noch einmal das alt gewordene Leben Holly Sykes schildert, die in ihrem Kampf ums Überleben nicht nur gegen rüde Gewalt, sondern wie in der Gegenwart gegen religiösen Fanatismus ankämpfen muss, der jedem mit dem Schwert droht, der die Zeichen anders oder gar nicht deuten will.
Ein Buch über Plagen auf allen Ebenen, ein Buch, das unglaublich mitreisst und dessen Sog ich mich gerne hingab.

mitchell-david-c-leo-van-der-noort-2006David Mitchell, geboren 1969 in Southport, Lancaster, studierte Literatur an der University of Kent, lebte danach in Sizilien und Japan. Er gehört zu jenen polyglotten britischen Autoren, deren Thema nichts weniger als die ganze Welt ist. Für sein Werk wurde er u.a. mit dem John-Llewellyn-Rhys-Preis ausgezeichnet, zweimal stand er auf der Booker-Shortlist. Sein Weltbestseller Wolkenatlas wurde von Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern verfilmt. David Mitchell lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Clonakilty, Irland.

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