Eine Mutter verliert eines ihrer Kinder. Es stirbt. Sie ortet die Schuld und versucht nun mit allen Mitteln ihre anderen Kinder vor Gefahren zu schützen, um fast jeden Preis. Was wie Mutterliebe aussieht, wird zur Besessenheit, zum Gefängnis. Yoko Ogawa, eine Grosse der japanischen Literatur, hat einen feinsinnigen, fast märchenhaften Roman über drei Geschwister im geschlossenen Garten geschrieben.
Bei einem Besuch in einem Park wird das jüngste Kind von einem grossen Hund im Gesicht abgeleckt. In der Folge stirb das Kind und für die Mutter ist klar, dass der böse Hund die Schuld am Tod ihrer kleinen Tochter trägt. Um die drei älteren Geschwister des toten Mädchens vor ähnlichem Schicksal zu schützen, zieht sich die Mutter mit ihnen in eine Villa am Rand einer Stadt zurück, ein Haus mit grossem Garten, umfangen von einer mannshohen Mauer. Die Villa gehörte dem von ihr getrennten Ehemann, einem pleite gegangenen Verleger von Enzyklopädien. Während die Mutter ihrer Arbeit als Pflegerin im Ort nachgeht, überlässt sie die Kinder im Haus sich selbst und einem ganz bestimmten Stundenplan. Sie warnt sie vor den Gefahren der Aussenwelt und befiehlt ihnen gar, ihre Namen aus dem alten Leben, ja ihre Vergangenheit zu vergessen. Zukünftig heisst die grosse Schwester Opal, die jüngeren Brüder Achat und Bernstein.
Romane aus Japan oder von AutorInnen, die mit Japan stark verbunden sind und sich mit dem Thema des „Sich Einschliessens“ beschäftigen, haben Tradition. Wohl auch deshalb, weil viele Auswirkungen gesellschaftlicher Missstände in Japan anders wahrgenommen werden, denke man nur an das Phänomen der Hikikomori (Menschen, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschliessen und den Kontakt zur Gesellschaft verweigern oder auf ein Minimum reduzieren).
Das Phänomen des sich Entziehens, Kinder um jeden Preis vor allem schützen zu wollen, ist aber beileibe kein japanisches. Medienberichte von Eltern, die ihre Kinder unter Verschluss halten, von mehr oder weniger misshandeln oder verwahrlosenKindern gibt es zuhauf. Yoko Ogawa geht es aber weder um ein Verbrechen, noch um die verstiegene Mutterliebe einer vom Wahn Getriebenen. „Augenblicke in Bernstein“ konzentriert sich auf die Geschwister im begrenzten Kosmos eines grossen Hauses mit umschlossenem Garten. Die drei Kinder sind nicht unglücklich, arrangieren sich mit ihrem Sein, nehmen Teil an der Welt im Kleinen, lernen aus den Enzyklopädien ihres Vaters und lieben sogar ihre Mutter, von der sie glauben, sie würde sie schützen.
Das jüngste der Kinder mit Namen Bernstein bekommt irgendwann eine Augenkrankheit. Über das eine Auge zieht sich ein bernsteinfarbener Schleier. Und weil der Junge in eben dieser Zeit damit beginnt, auf den Seitenrändern der Enzyklopädien, die er eifrig studiert zu zeichnen und aus diesen Zeichnungen „Daumenkinos“ entstehen, in denen die Mutter die Anwesenheit ihrer verstorbenen Tochter sieht, wird aus der Augenkrankheit eine besondere Fähigkeit, eine Art des Sehens, eine Verbindung zu einer Welt, die nicht nur ausserhalb der Mauern liegt, sondern ausserhalb der Zeit.
Yoko Ogawa beschriebt ohne psychologische Deutung, bezaubert dieses eingeschlossene Leben der drei Geschwister, die sich in grosser Liebe tragen. Ins Erzählen eingefügt sind die Vorbereitungen einer Ausstellung von Bernsteins Zeichnungen. Bernstein ist alt geworden, lebt in einer Altersresidenz. Losgelassen hat ihn diese eingeschlossene Kindheit nie, auch die tiefe Verbundenheit zu seinen drei Geschwistern.
„Augenblicke in Bernstein“ ist ein zauberhafter Roman, ganz wörtlich. Ein Roman, wie ihn nur Yoko Ogawa schreiben kann. Ein Roman mit Bildern, die bleiben, Geschichten, die auf unspektakuläre Weise bezaubern. Yoko Ogawa erzählt im Kleinen das Grosse.
Yoko Ogawa (1962) gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Tanizaki-Jun’ichiro-Preis. Für ihren Roman »Das Geheimnis der Eulerschen Formel« erhielt sie den begehrten Yomiuri-Preis. Yoko Ogawa lebt mit ihrer Familie in der Präfektur Hyogo.
Die Übersetzerin Sabine Mangold (1957) studierte Germanistik und Kunstgeschichte, arbeitete als Dozentin für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Niigata in Japan und wirkt auch als Yogalehrerin und Fotografin. Sie übersetzte Werke von Haruki Marukami, Akira Yoshimura, Hitomi Kanehara u. a.
Rezension von «Zärtliche Klagen» (2017) auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Sandra Kottonau