Dass mit Yael Inokai eine gewichtige literarische Stimme schreibt, bewies die junge Autorin schon mit ihren ersten beiden Romanen, aber sicher mit „Mahlstrom“, mit dem sie 2018 den Schweizer Literaturpreis gewann. Ihr neuer Roman „Ein simpler Eingriff“ setzt noch einen drauf und geht tief unter die Haut!
Meret ist ein junge, verantwortungsbewusste Krankenschwester. Jemand, der nicht einfach seinen Job macht, der die Menschen, die sie umsorgt, ans Herz gehen. Ihr Chefarzt weiss um die Fähigkeiten der jungen Frau und nimmt sie mit in seinen Operationssaal, wo Meret bei einem neuartigen Verfahren assistieren soll, bei dem Patienten bei vollem Bewusstsein am offenen Schädel mit einem gezielten Eingriff genommen werden soll, was sie unfähig macht, als produktives Glied einer Gesellschaft zu funktionieren. Ein kleiner Schnitt, ein gezieltes Abklemmen und Unkontrollierbarkeiten der Patienten lassen sich beheben. Merets Aufgabe bei diesen Eingriffen; Sie kommuniziert mit den Patienten während des Eingriffs, um dem Operierenden die Wirksamkeit des Eingriffs sofort spiegeln zu können.
Meret fühlt sich in ihrer Aufgabe, in den immer häufiger werdenden Treffen im Büro des Chefarzt geschmeichelt, bis eine der Patientinnen, der sie sich schon bei der Einweisung auf ganz spezielle Weise verbunden fühlt, nach der Operation nicht mehr aufwacht. Meret bleibt an der Seite Mariannes, besucht sie, bleibt an ihrem Bett sitzen. Marianne ist eine Frau aus reichem Haus, von ihren Eltern mehr oder weniger zum Eingriff gedrängt.
So wie Meret Marianne immer weiter in einen komatösen Zustand entgleitet, so unmittelbar wird die Nähe zu Sarah, einer Mitkrankenschwester, die im Schwesternhaus das Zimmer mit Meret teilt. Ebenfalls eine junge Frau, wie Meret seltsam eingeschlossen in einen Klinikkosmos, in dem sich die Schwestern eingekleidet bewegen, diesen nur selten und seltsam ärmlich gekleidet verlassen und kaum Möglichkeiten zu haben scheinen, Beziehungen nach Aussen zu pflegen, selbst zu ihren Familien.
Zwischen Meret und Sarah beginnt sich ganz zaghaft eine Liebe zu entwickeln, eine Liebe, die nicht sein darf, die in diesem einen Zimmer eingeschlossen bleiben muss. Eine Liebe, die in ihrer Leidenschaft und Körperlichkeit aber diametral zur Eingeschlossenheit auf den andern und in das eigene Leben ein- und übergreift. So sehr jene Liebe, jene Zugewandtheit zur Patientin Marianne an der medizinischen Wirklichkeit zu scheitern droht, so sehr wird die leidenschaftliche Liebe zu Sarah zu einem Sturm, den Meret immer mehr mit- und wegreisst. Bis Meret, die bislang bedingungslos hinter den Behandlungsmethoden ihres Chefs stand, Widerstand zeigt.
Da ist diese eigenartige, nur schwer in Zeit und Raum zu verortende Krankenhausgeschichte. Diese seltsame Methode, mit der man unbequeme Zeitgenossen mit einem Schnitt zu nützlichen Mitgliedern einer Gesellschaft machen kann. Dieser in sich geschlossene Krankenhauskosmos, in dem junge Frauen so lange erfolgreich dienen, bis sie zu alten Schwestern werden, stets folgsam, immer sauber und makellos. Das Setting des Romans erzeugt eine eigenartig beklemmende Stimmung. Junge Frauen, die ihr Gesicht nicht zeigen dürfen, ihr wahres Sein verstecken, einer Linie zu gehorchen haben.
Yael Inokais neuer Roman ist auf eine seltsam eigenartige Weise gesellschaftskritisch. Nicht nur der Eingriff im Kopf der meist unfreiwillig Eingewiesenen scheint simpel. Auch die Welt, in der sich das Personal bewegt. Yael Inokais Roman schleicht sich unmerklich in meinen Kopf, spiegelt eine Welt, die eine komplizierte Welt simpel machen will. Ob nun ein simpler Eingriff im Kopf direkt, mit Medikamenten, eine politische oder gar militärische Operation. Meret begehrt auf, in ihrem Innern, gegen Aussen. „Ein simpler Eingriff“ ist die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau in den Machtstrukturen der Gesellschaft, der Tradition, der Geschichte.
Der jungen Autorin ist ein ausserordentlicher Roman gelungen, etwas ganz Eigenes. Nicht zuletzt in einer Sprache, die wie die seltsame Geschichte aus seltsam unaufgeregte Weise von den grossen Regungen des Lebens erzählt.
Yael Inokai liest und diskutiert am Wortlaut Literaturfestival in Sta. Gallen am Samstag, den 26. März um 11 Uhr im Stadthaus, Festsaal, Gallusstrasse 14. Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Literaturhaus Wyborada. Moderation: Anya Schutzbach
Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, studierte Philosophie in Basel und Wien, anschliessend Drehbuch und Dramaturgie in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman «Storchenbiss». Für ihren zweiten Roman «Mahlstrom» wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift «PS: Politisch Schreiben» und lebt in Berlin.
«Wo die Musik spielt» Yael Inokai 2018 in St. Gallen
Beitragsbild © Ladina Bischof