Christoph Geiser, Träger des Schweizer Literaturpreises 2020, über den es auf der Webseite des Bundesamtes für Kultur heisst: Ein scharfzüngiger, sprachmächtiger Erzähler zeigt sich als Chronist, Museumsbesucher, Leser, Beobachter, Tourist, Gourmet und verhinderter Gerichtsreporter, bot mit der jungen «Literaturaktivistin» Svenja Gräfen aus Leipzig und der in Moskau geborenen Katerina Poladjan ein vielseitiges Kontrastprogramm.
Katerina Poladjan schreibt von «unbekannten Gebieten», nicht Kartographiertem, jenem Unerschlossenen, Unentdeckten in uns. In ihrem aktuellen Roman «Hier sind Löwen» erzählt Katerina Poladjan von Helen, die wie die Autorin selbst einen armenischen Familiennamen trägt. Helen ist auf der Suche nach Spuren, verwickelt sich in neuen Zugehörigkeiten, in einer Geschichte, die weit in die tragische Geschichte des armenischen Volkes zurückgreift. Helen ist Buchrestauratorin, flickt aber nicht einfach alte Folianten. Sie macht Geschichte und Geschichten sichtbar. Die Geschichte Armeniens, ihrer Familie, ihre eigene Geschichte. Katerina Poladjan nennt ihren Roman ein Erinnerungsfenster, ihr Fenster in die Erinnerung eines Landes. «Hier sind Löwen» löste in Armenien selbst ganz gemischte Reaktionen aus, war es doch den einen zu zahm, zu wenig dramatisch. Die Autorin selbst zeigt sich aber überrascht, dass ihr Roman sowohl ins Türkische wie ins Armenische übersetzt wurde, dass es das Buch schaffte, auf «beiden Seiten» gelesen zu werden. Etwas, das nur gelingen konnte, weil die Autorin es schafft über den Genozid zu schreiben ohne in das übliche Täter-Opfer-Muster zu verfallen.
Christoph Geiser ist mit vielen seiner Romane als Familienchroniker, als Seismograph und Kritiker der «heiligen» Familie in die Literaturgeschichte eingegangen, genauso wie als Stimme der Verbannten und Verstossenen. Christoph Geiser ist ein «Entfesselungskünstler», sprachlich, formal und inhaltlich.
Sein preisgekrönter Erzählband «Verfehlte Orte» ist der Schnittpunkt seiner Motive, ein Band, in dem Christoph Geiser sämtliche Register seines Könnens zeigt, seine Radikalität, seine Lust zu fabulieren genauso wie jene zu provozieren.
Selbst in seinem neuen Romanprojekt, seinem «letzten Manuskript» ist der Ursprung des Schreibens eine Art Provokation. Der Protagonist, Christoph Geiser sitzt auf seiner Grabkiste und räsoniert. Aber der Schriftsteller Christoph Geiser ist zurückgebunden, denn sein neuer Roman über seine jüdische Grossmutter la grandmama russe verlangt nach Recherche in Minsk, Moskau, Gorki und Nazareth. Aber wer fährt jetzt dorthin.
Christoph Geiser ist auf der Suche nach den «Hasen», einer Familie, deren Name sich verloren hat in Geschichte, Verfolgung, Verbannung und Genozid. Die Geschichte einer verrückten Grossmutter, wieder eine Familiengeschichte, die sich nach der jüdischen Apokalypse verlor. Über eine Frau, die in der Engelgasse in Basel die letzten beiden Jahre ihres Lebens verbrachte, nachdem sie aus dem Irrenhaus entlassen wurde.
Christoph Geiser ist ein lustvoll Massloser, dessen Virtuosität und sprachliche Leidenschaft in krassem Gegensatz steht zu seinem Gehstock, der hinter ihm am Türknauf zum Nebenraum hängt. «Was bleibt? Die Geschichte. Der Wahnsinn.» In seinem kommenden Roman «Die Spur der Hasen» wird Christoph Geiser von der Tragödie des Ostjudentums erzählen, die Opfergeschichte eines Kollektivs, sich einmal mehr mit dem Vergessen auseinandersetzen.
Ein wunderbar angenehmer Kontrast zu Christoph Geiser bot Svenja Gräfen mit ihrem 2019 erschienen Roman «Freiraum». Er, der sich an seiner Geschichte, seinem Leiden abarbeitet, sie, die sich locker und flockig mit dem Personal einer ganz besonderen Bühne beschäftigt; einer Hausgemeinschaft, einem Versuch alternativen Wohnens am Stadtrand, von den Träumen einer noch offenen, vielversprechenden Zukunft und den Ernüchterungen in den aufkommenden Zwängen. Svenja Gräfen macht ein Haus zu einem eigentlichen Experimentierfeld, witzig mit starken Dialogen – eine eigentliche Soziostudie über Lebens- und Wohnentwürfe.
Und am Sonntag? Elsie Schmit liest aus ihren Erzählungen «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen», Miku Sophie Kühmel aus «Kintsugi», einem flimmernden Roman über die Liebe in all ihren Facetten, Kirstin Köhler aus ihrem Roman «Schöner als überall», der bei Suhrkamp erschien und Simone Lappert aus ihrem Bestseller «Der Sprung»! Unbedingt hingehen! (Festivalprogramm)
Illustrationen © leafrei.com