1970 lebten eine Viertelmillion italienische Gastarbeiter in der Schweiz. Eine Einwanderungswelle, die damals wie heute die Schweiz spaltete. Eine Auseinandersetzung, die in der «Schwarzenbach-Initiative», die vom Schweizer Stimmvolk mit nur 54 % verworfen wurde, gipfelte. «Das Eidechsenkind» erzählt die Geschichte eines Kindes, das nicht hätte da sein dürfen.
Das Leben im Heimatland muss hart sein, dass man sich auf den Weg in den Norden macht, in ein Land, dessen Sprache und Menschen man nicht versteht, stets am Rande der Legalität, von Arbeitgebern ausgenützt, vom Heimweh geplagt, von der Familie getrennt. Vielleicht wird das Leiden ein bisschen kleiner, wenn man die Frau nachreisen lassen darf, wenn man endlich eine Wohnung gefunden hat, ein Loch, in das man sich zu zweit verkriechen kann. Aber die Not wird unsäglich, wenn man gezwungen ist, sein Kind mit in die Fremde zu nehmen, versteckt im Zug, in einem Koffer oder im Kofferraum eines Autos. Wenn niemand, schon gar nicht die Nachbarn im Haus erfahren dürfen, dass da ein Kind wohnt, weil man befürchtet, sofort ausgewiesen zu werden, die Stelle zu verlieren, alles, was man mit viel Arbeit und Verzicht herbeibeschwören, herbeizwingen wollte.
Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter putzt. Das Kind ist Stunden alleine zuhause, gewarnt von Vater und Mutter, sich nicht bemerkbar zu machen, nur auf vereinbarte Klopfzeichen die Tür zu öffnen und sich unsichtbar zu machen, wenn unverhofft Besuch kommt. Der Junge lernt sich zu verstecken, kriecht in jede Ritze, huscht weg wie eine Eidechse vor dem Haus seiner Grossmutter Assunta. Ein Eidechsenkind.
Solange Nonne Assunta noch lebt, wohnt der Junge in Ripa, rennt Bällen hinterher, jagt Wespen, ist Teil einer glücklichen Welt ohne Grenzen. Assunta liebt ihren Enkel, erzählt ihm Geschichten, singt ihm Lieder. Alles im und um das Haus hat einen Namen, alle Geheimnisse offenbaren sich.
Als die Nonna stirbt und Mutter und Vater gezwungen sind, ihren Jungen mit ins kalte, feuchte, neblige Nachbarland im Norden mitzunehmen, wird das Eidechsenkind selbst zum Geheimnis. Alleingelassen in einer Wohnung, in einer Welt, in der alles verschlossen bleibt, nichts einen Namen hat. Das Eidechsenkind bleibt allein in einer Wohnung, in der sich nicht einmal die Vorhänge bewegen dürfen.
Erst als es grösser wird, schleicht es sich aus der Wohnung, nachts im Dunkeln, zählt Schritte überall, vermisst die Welt mit Schritten, vom Keller bis unters Dach, schleicht sich in Nachbarwohnungen, hortet liegengelassene Schlüssel, bleibt bewegungslos verborgen, wenn sich jemand bemerkbar macht. Selbst abends, wenn die Eltern zuhause sind, und der Patrone zu Besuch kommt, versteckt sich das Eidechsenkind unter der Kredenz, darauf bedacht, keine Spuren in der Wohnung zu hinterlassen.
Und doch gibt es mehr und mehr Verbündete. Den dicken Nachbarjungen, der genau wie das Eidechsenkind den Zugang zur Welt nicht findet. Der Professor mit den vielen Büchern, die einsame Frau mit der Geige und Emmy, das Mädchen, das neu im dritten Stockwerk wohnt. Emmy wird zur Bannbrechern, auch wenn es Jahre dauert und unsicher bleibt, ob sich das Eidechsenkind zum Mann häutet.
Vincenzo Todisco schriebt scheinbar einfach, bewegt sich als stiller Begleiter ganz nah an seiner empfindsamen, in sich eingeschlossenen Hauptperson. Ich als Leser blicke tief in eine eingeschlossene, eingesperrte Seele. Vincenzo Todisco tut dies aber mit derart viel Vorsicht und Liebe für seine Protagonisten, ohne je eine psychologisierenden Interpretation zu verfallen, dass das Buch zu einer eigentlichen Liebeserklärung wird. Wunderschön!
Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet. Im Rotpunktverlag liegen seine Romane in deutscher Übersetzung vor. «Das Eidechsenkind» ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.