Vom gesellschaftskritischen Kommentator zum altersweisen Zeitengänger

Taiwans lyrische Welt ist vielfältig, Lyrik hat einen höheren Stellenwert, wird mehr gelesen, auch von Jüngeren, als hierzulande. Und fällt der Name Yang Mu, nickt man dazu: Die Anerkennung ist einhellig. Er gilt als erster Dichter von Rang, der seine taiwanische Herkunft und Identität in seinen Gedichten anklingen lässt, aber auch die damit einhergehende Zerrissenheit wie beispielsweise in dem Gedicht «Jemand fragt mich nach Gerechtigkeit».

von Alice Grünfelder

Neben Gedichten, für die er nicht nur in Taiwan bekannt ist, schrieb Yang Mu auch Essays (beispielsweise in «Die Spinne, das Silberfischchen und ich), ebenfalls übersetzt von Susanne Hornfeck und Wang Jue.
Im März veröffentlichte die Taipei Times einen Nachruf auf Yang Mu, nachdem er im Alter von 79 Jahren nach Herz- und Lungenbeschwerden im Krankenhaus starb. Eine seiner Lebensfragen hängt seither über meinem Schreibtisch: «How to get involved without being swallowed?»

Seit 1995 setzt Ihr Euch mit dem Werk Yang Mus auseinander – weil er als bedeutendster Lyriker Taiwans gilt?

Ja, wir beschäftigen uns schon lange mit dem Autor, haben sowohl Lyrik (Patt beim Go 2002) als auch Essays („Norden“, in Neue Sirene 1995, und «Die Spinne, das Silberfischchen und ich» 2013) von ihm übersetzt und finden ihn auch deshalb so spannend, weil in seinem Werk so vieles zusammenkommt: die Tradition der chinesischen Poesie, die westliche klassische Moderne und die Einflüsse seiner taiwanischen Heimat. Tilman Spengler hat in seinem Nachruf geschrieben, wir sollten ihn in Erinnerung behalten «als einen Bewahrer der Kunst des Gesangs, von ihren Ursprüngen in China und Griechenland, seinen chinesischen Vorläufern so nahe wie den Griechen, den amerikanischen Zeitgenossen – oder dem jungen Hölderlin».
Besonders froh sind wir, dass er die Nachricht von der deutschen Veröffentlichung seines letzten Gedichtbands – die erste vollständige Übersetzung in eine westliche Sprache – noch freudig zur Kenntnis nehmen konnte. Das fertige Produkt hielt er leider nicht mehr in Händen, aber am 5. September 2020 findet in der Nationalbibliothek Taipeh eine Gedenkveranstaltung statt, bei der Wissenschaftler und Weggefährten an ihn erinnern. Da wird unser Band dann auch aufliegen.


Die lyrische Welt im früheren Band «Patt beim Go» ist zugänglicher als die «Balladen», andererseits finde ich die neun Variationen über die Zittermelodie «Baldige Heimkehr» von Han Yu äussert reizvoll und gelungene Übersetzungen. Wie seid Ihr bei der Auswahl der Gedichte vorgegangen, die Ihr übersetzt habt?

«Patt beim» Go war eine Auswahl, wir haben dabei aus zahlreichen Gedichtsammlungen der Jahre 1969 bis 2000 geschöpft. Wir haben versucht, möglichst repräsentative Texte auszuwählen, aber natürlich springen einen jene an, die einem besonders nahe gehen, in die man sich gut hineindenken kann. Das ist sicher ein Grund, warum die Texte in dieser Auswahl «zugänglicher» wirken. Den Band «Lange und kurze Balladen» haben wir komplett übersetzt. Das heisst, wir mussten uns auch den Gedichten stellen, die für uns schwierig und zunächst unverständlich waren. Die «Variationen» mit ihrem wunderbaren Motto von Han Yu (768–824) sind sicher eines der leichter zugänglichen Kapitel, sie sind von der Länge her überschaubar und beschäftigen sich meist mit konkreten sinnlichen Erfahrungen.

Hat die zunehmende Verschlossenheit seiner Gedichte vielleicht auch etwas mit dem Alter zu tun? Einmal erscheint Yang Mu alterweise und wie die griechischen Götter aus der Ferne auf eine Vergangenheit zu schauen, dann wieder zur Verzweiflung getrieben wegen der «Wirkung der endlos sich dehnenden Zeit». Denke ich z.B. an das Gedicht «Vor den Panzern», das Yang Mu dem Tankmann auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewidmet ist, so muten die Gedichte in «Balladen» fast schon ätherisch an. Vom kritischen Kommentator zum feingeistigen metaphysischen Denker?

Ja, das Alterswerk, das dieser Band versammelt, ist sicher abgeklärter. Nicht umsonst taucht immer wieder das Bild der im Olymp thronenden griechischen Götter auf, aber die sind sich ja keineswegs einig, sie streiten und hadern und stiften Chaos. Und im vierten Kapitel, das Taiwan gewidmet ist, wird deutlich, dass die Insel nicht nur geologisch, sondern auch historisch/politisch in einer prekären Lage ist.

 

 



Wie übersetzt ihr? Fertigt Wang Jue zuerst eine Interlinear-Übersetzung an, die Susanne Hornfeck dann überarbeitet, oder wie kann man sich die Zusammenarbeit vorstellen?

Ich würde mich allein nie an diese Texte heranwagen. Die Sprache changiert zwischen klassischem Chinesisch und naturwissenschaftlichen oder philosophisch abstrakten Begriffen, überall lauern Bezüge zu klassischer Lyrik. Erst in der bewährten Zusammenarbeit mit Wang Jue fühle ich mich da einigermassen sicher. Sie macht eine Interlinearversion, meist mündlich, die sie mir als mp3-Datei schickt, zusammen mit ihren erläuternden Kommentaren. Ich nehme mir dann den chinesischen Text vor und erstelle mit Hilfe ihrer Vorarbeit eine deutsche Fassung, die dann noch mehrmals hin- und hergeht. Oder wir telefonieren zu einzelnen Stellen. Leider wohnt sie nicht um die Ecke, sondern in Seattle.
Zu diesem Punkt meldet sich auch Wang Jue zu Wort und verweist auf die drei Zielvorstellungen beim Übersetzen: 信 Verstehen und Treue zum Original, 達 die Gewandtheit des Ausdrucks und 雅 stilistische Eleganz. Für das erste fühlt sie sich zuständig, für die beiden letzten sieht sie mich in der Pflicht.

Was ist das Herausfordernde an Yang Mus Lyrik, was ist besonders schwierig? Wie entscheidet Ihr Euch, denn gerade bei Lyrik-Übersetzungen aus dem Chinesischen ist die Bandbreite möglicher Interpretationen enorm, das kann man auch in dem Band «19 Arten Wang Wei zu betrachten» von Eliot Weinberger nachlesen.

Wie schon gesagt, sein Vokabular ist komplex, die Zusammenhänge der oft sehr langen Perioden nicht immer leicht zu durchschauen. Da müssen erst mal die Bezüge geklärt werden. Im Deutschen muss man ja leider vieles «vereindeutigen», was im Chinesischen wunderbar vage bleiben kann. Gelegentlich habe ich Wang Jue mit Fragen wie «Wer spricht hier?» oder «Wo ist das Subjekt?» zur Verzweiflung getrieben.
Und – du erwähnst das Bändchen von Eliot Weinberger – aus der Bandbreite des Interpretationsspektrums muss man sich für eine Lesart entscheiden. Wir versuchen dabei relativ eng am Text zu bleiben. Englische Übersetzungen lesen sich da oft flotter, tun sich – auch von der Sprachstruktur her – mit ihren praktischen Partizipialkonstruktionen leichter. Aber im Deutschen kann man nicht «schummeln», da muss man grammatikalisch «Farbe bekennen». Andererseits gibt es im Deutschen – darauf hat mich Wang Jue hingewiesen – die zusammengesetzten Hauptwörter, eine wunderbar kreative Form der Verknappung.

Yang Mu «Lange und kurze Balladen», Gedichte chinesisch – deutsch, iudicium, 2020, 143 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-86205-530-2

Ihr bittet im Nachwort von «Lange und kurze Balladen» um Nachsicht bei der Beurteilung Eurer Übersetzung und verweist auf die Schwierigkeiten beim Übersetzen chinesischer Lyrik, denn: «Was sich im Chinesischen elegant aneinanderreiht, muss im Deutschen in kausale und temporale Zusammenhänge gebracht werden. Wo das Chinesische auf ein Agens verzichten kann, braucht der deutsche Satz ein Subjekt.» Beide Bände, die Ihr übersetzt habt, sind zweisprachig erschienen. Scheut Ihr nicht die Reaktionen kritischer sinologischer Übersetzerkollegen oder jener, die des Chinesisch mächtig sind, die akribisch Original mit der Übersetzung vergleichen?

Natürlich macht man sich angreifbar, wenn der chinesische Text danebensteht. Und natürlich gibt es immer kritische Leser, die es besser zu wissen meinen, aber die müssen, wenn sie das Original anschauen, auch eingestehen, welch hohen Schwierigkeitsgrad diese Texte haben. Das Gedicht überhaupt zu verstehen, ist schon eine Herausforderung. Und wie gesagt, wir präsentieren hier unsere Lesart. Zweifellos gibt es andere. Weinberger spricht ja in seinem Buchtitel nicht umsonst vom «betrachten»; schon die Betrachtung kann sehr unterschiedlich sein, um wie viel mehr dann erst die Übersetzung.
In jedem Fall ist es für den Leser eine Bereicherung, die chinesischen Zeichen im Blick zu haben. Wie knapp und elegant sie sind im Vergleich zu dem verbalen Aufwand, den wir betreiben müssen.

Werdet ihr weiter Gedichte von Yang Mu übersetzen, oder Euch vielleicht einem anderen Lyriker, einer Lyrikerin zuwenden?

Ja, nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Aber momentan sind wir erst mal glücklich erschöpft, das geschafft zu haben.

Die Fragen beantwortete Susanne Hornfeck in Absprache mit Wang Jue, die Fragen stellte Alice Grünfelder.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt Sri Lanka. Geschichten und Berichte(2014) und Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman Die Wüstengängerin (Verlag edition 8).

Susanne Hornfeck ist Germanistin und Sinologin. Sie lehrte fünf Jahre als Dozentin an der Universität Taipeh/Taiwan und arbeitet heute als Autorin und literarische Übersetzerin. Seit vielen Jahren leitet sie im Übersetzerhaus Looren bei Zürich englisch-deutsche Übersetzerwerkstätten für Jugendliche.
Wang Jue stammt aus Shanghai, studierte in Taiwan klassische chinesische Literatur und war später in der Ostasiatischen Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek in München tätig. Heute lebt sie in Seatle und arbeitet als freiberufliche Beraterin für Museen und als literarische Übersetzerin.

Bibliografische Nachweise
Yang Mu: «Patt beim Go». Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck und Wang Jue, zweisprachig, 216 Seiten, A1-Verlag, 2002
Yang Mu: «Lange und kurze Balladen». Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck und Wang Jue, zweisprachig, 142 Seiten, iudicium-Verlag, 2020