Die Welt besteht aus vielen Welten. Manchmal sind diese Welten nur durch hauchdünne Membranen voneinander getrennt. Welten, die sich in allem unterscheiden; in ihren Wahrheiten, ihrem Licht, den Trennungen zwischen Gut und Böse. „Der Mann im Untergrund“ von Richard Wright, in den 40er Jahren entstanden und bisher nur in gekürzter Form als Erzählung erschienen, ist erstmals als Roman in Deutsch zu lesen. Eine Offenbarung!
Stellen Sie sich vor: Sie sind von der Arbeit zu Fuss auf dem Weg nach Hause. Nicht weit. Den Wochenlohn in Scheinen in der Tasche werden sie von zwei Polizisten angehalten. Das Scheinwerferlicht des Polizeiautos blendet sie. Man gibt ihnen unmissverständlich zu verstehen, ins Auto einsteigen zu müssen. Obwohl sie eindringlich zu erklären versuchen, dass es sich in jedem Fall um einen Irrtum handeln muss, nimmt man sie mit, wird schon im Auto nicht nur verbal grob und unverschämt. Und nachdem man ihnen mit der Frage nach dem Geld ganz beiläufig sagt, ob sie es genommen, gestohlen hätten, nachdem sie getötet hatten, bricht die Welt weg.
Fred Daniels wird des zweifachen Mordes beschuldigt, in Handschellen gefesselt in einen Verhörraum gesperrt, gefoltert und misshandelt, bis man ihm seine schlaffe Hand nimmt und einen Wisch unterschreiben lässt, den die Polizisten Geständnis nennen. Um die Folter noch zu verfeinern, führt man ihn nach Hause zu seiner hochschwangeren Frau, die mit dem misshandelten Mann vor Augen ihr Kind zu gebären beginnt. Man fährt ins Spital. Fred sitzt einen Moment unbeobachtet im Flur, nur durch eine Mauer von seiner Frau entfernt und setzt sich ab, schlüpft durch Türen und auf der regennassen Strasse durch einen Gully in die Kanalisation. Weg von der Oberfläche in den Untergrund. Ins Dunkle, Schlammige, Stinkende.
Was Richard Wright dann schildert, ist die Odyssee durch eine Gegenwelt, ganz nah an der realen Welt vorbei, nur durch Mauern getrennt. Fred hört Stimmen singen, einen Gottesdienst. Fred ist gottesfürchtig. Er schlüpft durch Löcher, bricht durch Mauern, wird in seiner Ausweglosigkeit, seiner Hoffnungslosigkeit zum Dieb, zum Verbrecher, hungrig nicht nur nach Essen, hungrig zu überleben, hungrig nach der Welt, die in ausgespuckt hatte. Mit gefundenen Werkzeugen bricht er sich gar in den Kellerraum eines Geldinstituts, klaut ganze Bündel mit Scheinen, steigt in die Werkstatt eines Juweliers, nimmt Goldschmuck mit, Diamanten.
Irgendwann hockt er in einer Mischung aus Wahn, Verzweiflung und Euphorie in seinem Loch und tapeziert die Backsteinwände mit Geldscheinen, stampft Diamanten in den Dreck, hängt goldenes Gehänge an Nägel. Ein Rausch des Sinnlosen, von einem Mann im Sinnlosen.
Richard Wrights düsterer Roman erzählt die Geschichte von unrettbarer Verdammnis. Fred ist schwarz, nicht nur seine Hautfarbe. Alles an ihm wird schwarz, auch seine Seele. Und in der Erkenntnis des unendlichen Verlorenseins steigt Fred aus der Unterwelt, geht durch das Licht an der Oberfläche zurück an den Ort, an dem ihn die drei weissen Polizisten geständnisreif schlugen. „Der Mann im Untergrund“ ist eine einzige Metapher für die grenzenlose Missachtung aller Menschenwürde. Man stösst Fred in eine Existenz, die eigentlich diametral von seiner bisherigen Wirklichkeit entfernt ist. Man macht ihn zum Mörder, zum Verbrecher, ohne Zukunft, ohne Chance, beraubt ihn seiner Würde, seines aufrechten Gangs.
„Der Mann im Untergrund“ liest sich auch als blosse Geschichte atemlos. Der Roman ist die Geschichte der Rechtlosen überall, die Geschichte der institutionalisierten Willkür, in die die Gegenwart zu versinken droht. Wer diesen Roman liest, sieht grenzenloser Verzweiflung ins Gesicht. Jener Verzweiflung, die all jenen ins Gesicht gedrückt wird, denen das Recht auf ein Leben in Würde und Frieden genommen wird!
Was für ein Buch!
Richard Wright wurde 1908 auf einer Plantage bei Natchez, Mississippi, geboren. Mit neunzehn Jahren verliess er den Süden und ging nach Chicago, wo er sich seinen Lebensunterhalt als Strassenfeger, Tellerwäscher und Postangestellter verdiente. Er schrieb zunächst vor allem Essays, Kurzgeschichten und Gedichte, bekannt wurde er mit seinem Roman «Native Son», der mehrfach verfilmt und 1941 als Bühnenversion am Broadway unter der Regie von Orson Welles aufgeführt wurde. Bis heute gilt Richard Wright als einer der bedeutendsten afro-amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er starb 1960 in Paris.
Werner Löcher-Lawrence studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, danach Lehre und Forschung am kommunikationswissenschaftlichen Institut der Universität München. Es folgten lange Jahre in verschiedenen Verlagen, als Lektor und Programmleiter, bei Bertelsmann, Hoffmann und Campe und der Deutschen Verlags-Anstalt. Seit 2002 selbstständig, mit eigener Agentur und als literarischer Übersetzer.
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