Katharina Michel-Nüssli «Später vielleicht»

«Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiss es nicht.» Nino kratzt sich am Kopf. Was diese Lehrer sich ausgedacht haben. Neunzig Minuten für einen Aufsatz. Der Anfang ist gegeben. Weltliteratur. Da kann das Eigene nur schlechter werden. Ich bin nicht Camus. Wenn der wüsste, dass sein genialer Anfang für eine Prüfungsnote missbraucht wird. Und nicht einmal in der Originalsprache. «Aujoud’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.» Das tönt viel tiefgründiger, das hat Atmosphäre, lässt Tragik erahnen. Moll mit Disharmonien. Nebelschwaden. Ach, man wirft Perlen vor die Säue. Wer kennt schon die Grossartigkeit dieser Erzählung. Meine Kollegen haben auf den Hundertstel genau ausgerechnet, welche Note sie brauchen, um nicht provisorisch promoviert zu werden. Sie wissen genau, dass man nur wenige Adjektive verwenden soll. Helvetismen und monotone Satzanfänge sind zu vermeiden. Selbstverständlich soll man keine Rechtschreibfehler machen, die Kommas am richtigen Ort setzen und mindestens zwei Seiten füllen. So hat man die genügende Note auf sicher. Wie hat wohl Camus schreiben gelernt? Einmal im Monat zwei Seiten in neunzig Minuten? Was für ein Witz.

Draussen schwanken die vom Herbststurm geschüttelten Äste des Ahorns vor dramatischen Wolkengebilden. Der Himmel ist so wild und unbezähmbar wie vor Jahrhunderten, am Boden hingegen, der von hier aus nicht zu sehen ist, findet sich kein Stoff für grossartige Geschichten. Mit forschendem Blick versucht Nino, sich die Wirklichkeit der Welt in das Vakuum der wohlaufbereiteten Bildungspläne zu holen. Wäre er ein Waisenkind, dann wüsste er, wie sich Tod und Verlassenheit anfühlen. Er müsste nicht lange überlegen. Insgeheim schämt er sich für seine wohlbehütete Kindheit.

Er beginnt zu schreiben: «Dieser Satz ist wie ein Fremdkörper hier. Fast nie stirbt jemandes Mutter in dieser Schule. Die Gesundheitsversorgung ist hervorragend und teuer. Wir können es uns leisten. Und man wüsste die Todeszeit auf die Minute genau, so wie man das Horoskop dank der exakten Geburtszeit entschlüsseln kann. Ob darin bereits die Sterbestunde festgelegt ist? Das bleibt hoffentlich ein Geheimnis. Es gibt noch die unverhofften Tode. Wer als Kind so etwas erlebt, dessen Chance, an diese Schule aufgenommen zu werden, sinkt gegen Null. Das hat verschiedene Gründe. Zuallererst schafft es kaum jemand, ohne zu pauken die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Das braucht gebildete Eltern, Zeit und Geld. Ausser man ist ein Genie. Obendrein ist hier alles so trocken, herzlos und verkopft, dass ein normal fühlender Jugendlicher nur überleben kann, wenn er zu Hause so etwas wie Geborgenheit erlebt. Wenn ich in der Klasse rumschaue, stelle ich fest, dass alle in einem Eigenheim leben, mit Ausnahme unseres Quotenausländers aus Portugal, dessen Sippe einen halben Wohnblock bevölkert – Nestwärme inklusive. Und die Lehrpersonen halten es nur aus, wenn sie eine Schutzschicht aus Staub ansetzen. Was wird aus uns, wenn wir die heiligen Hallen des Wissens verlassen? Wir sind die Elite, wir werden die Welt weiterbringen, das wird uns eingetrichtert. Ihr seid die künftigen Leader. Wir werden Firmenchef, Bundesrat oder Managerin. Heute tragen wir zerlöcherte Jeans, morgen Nadelstreifen und Deux-Pièces. Wir werden etwas erreicht haben in unserem Leben. Wenn wir sterben, wird eine ganze Zeitungsseite mit unseren Todesanzeigen gefüllt, weil wir bedeutende Persönlichkeiten gewesen sein werden. Unsere Biografien jedoch wären seichte Literatur, keine Dramen, nicht wert, aufgeschrieben zu werden. Ich wünsche uns keine Katastrophe, nein, denn sie ist schon da, in Form eines vorgespurten, genormten Lebens. Ich hoffe, diese Schulzeit möglichst unbeschadet zu überstehen, um später – vielleicht – das wahre Leben kennenzulernen.»

Der Sturm hat sich gelegt, leichter Schneeregen hat eingesetzt. Nino überfliegt den Text. In fünf Minuten muss er ihn abgeben, da bleibt keine Zeit mehr, etwas zu ändern. Nach dem Ertönen des Pausensignals rappeln sich die Jugendlichen von ihren Sitzen hoch und schlendern auf die verregnete Terrasse, die durch das Zimmer im vierten Stock zugänglich ist. Niemand scheint den Ausblick über die Dächer der Altstadt zu beachten. Man hofft auf eine gnädige Notengebung, Aufsätze sind Ermessenssache. Und morgen ist Physiktest, da gibt es nur richtig und falsch. Zum Glück darf man das Formelheft brauchen. Noch eine Lektion heute. Es dunkelt schon ein.

Nach Schulschluss zerstreuen sich die jungen Menschen in alle Richtungen. Nino beeilt sich, um den früheren Zug zu erreichen. Er möchte vor dem Handballtraining noch Zeit haben, um etwas zu essen. Beim Bahnhof steht wie immer der Rosenverkäufer. Seine Blumen leuchten wie ein Anachronismus im grauen Novemberabend. «Dieser Mann hatte wohl ein bewegtes Leben», blitzt es Nino durch den Kopf. «Ich sollte ihn nach seiner Geschichte fragen. Später vielleicht. Der Zug fährt gleich.»

In der darauffolgenden Woche wird Nino zum Rektor zitiert. Noch nie ist er dieser Autorität so nah gegenübergetreten. «Nehmen Sie Platz», gebietet dieser. Die Fältchen um die Augen des Schulvorstehers sind dem Schüler bisher nicht aufgefallen. Er ist eindeutig älter als Ninos Vater. Der Rektor räuspert sich. «Junger Mann, entweder sind Sie ein Revoluzzer oder dann einfach nur naiv. Was wollten Sie mit Ihrem Geschreibsel ausdrücken? Mit einer solchen Einstellung sind Sie dieser renommierten Schule nicht würdig.» Die Möbel in diesem Büro haben ihre beste Zeit hinter sich. Sie waren einmal erlesen und teuer gewesen. Nino richtet sich auf seinem Holzstuhl auf. «Ich lebe in einem Land, wo man seine Meinung frei äussern darf. Davon habe ich Gebrauch gemacht. Es ist mir schlicht nichts anderes in den Sinn gekommen, und nach neunzig Minuten musste ich den Aufsatz abgeben.» «Freie Meinungsäusserung in Ehren, mein Lieber, aber Beleidigungen gehen gar nicht. Merken Sie sich das. Sie beleidigen unsere Schule und das Personal. Seien Sie dankbar für diese hochstehende Ausbildung, die Ihnen hier zuteilwird. Ich gehe davon aus, dass dies ein einmaliger Ausrutscher war. Im jugendlichen Leichtsinn kann so etwas passieren.» Nino schluckt leer. Der ältere Herr erhebt sich und weist ihn unmissverständlich zur Tür.

An eine Rückkehr in die Klasse ist im Augenblick nicht zu denken. Nino starrt auf seine abgewetzten Schuhspitzen, die ihn wie von selbst zum Bahnhof hinunter führen. Sinnierend lässt er sich auf einer Wartebank nieder. An der Ecke steht der Blumenverkäufer. Nino zögert. Schliesslich nähert er sich dem Mann und kauft ihm eine Rose ab. Mutter wird sich wundern.

Katharina Michel «Sommersprossen und Kondensstreifen», BoD, illustriert von Lea Frei, 2021, 144 Seiten, Euro 24.99, ISBN 978-3-754-32791-3
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Katharina Michel-Nüssli geboren 1964 im Tösstal lebt im Oberthurgau. Primarlehrerin, Lerntherapeutin, Jobcoach.
«Schreiben war immer etwas Lustvolles, ausser vielleicht bei Diplomarbeiten. Mich inspirieren Natur, Menschen, das Abweichende, die Liebe zum Leben. Schreibkurse bei Ruth Rechsteiner und Michèle Minelli haben mich ermutigt, regelmässig zu schreiben. Biografisches und Kurzgeschichten, Portraits und Poetisches, was eben zeitlich Platz findet. Oft sind es berührende Begegnungen, Stimmungen am See oder im Wald, unvermutete menschliche Abgründe, die Schönheit eines vom Leben gezeichneten Gesichts, Absurditäten des Normalen. Meinen Schreibstil bezeichne ich als verdichtet, manchmal poetisch, oft dazu anregend, zwischen den Zeilen zu lesen.»

Ralph Schröder «Schweighausers Korrekturen», Verlag BoD

Was passiert, wenn man sich entschliesst, aus dem Einerlei des Alltags auszutreten, wenn man dem  Hamsterrad entrinnen will? Und was geschieht, wenn man dies mit einer gehörigen Portion Subversion tut? Wie viel Korrektur erträgt der Lauf der Dinge?

Ralph Schröder hat ein Buch geschrieben, das mit seinen Fragestellungen provozieren kann. Korrekturen unseres Tuns können unverhoffte Konsequenzen nach sich ziehen, ungewollte Richtungen und Dimensionen annehmen. Und scheinbare Wahrheit kann sich als Lüge entpuppen, Lügen als Wahrheit. «Die Wahrheit einer Geschichte ist immer die Geschichte dieser Wahrheit.»

img_0142Ralph Schröders «Held» Armin Schweighauser ist Korrektor bei einer grossen Basler Tageszeitung. Bedroht von strukturellen Veränderungen und wirtschaftlichen Anpassungen im Verlag und dem lähmenden Gefühl von Trott und Ereignislosigkeit entschliesst sich Schweighauser, erst vorsichtig und zögerlich, dann immer dreister, Nachrichten kurz vor dem Druck als Korrektor zu manipulieren. Erstaunt und frustriert darüber, wie ergebnislos seine Eingriffe bleiben, stachelt ihn der wiedergefundene Nervenkitzel zu immer wagemutigeren «Korrekturen der Wahrheit» an. Und nachdem ihm durch Zufall von aussen Informationen zugetragen werden, die alles im Verlagshaus ändern sollen, wird Schweifhausers persönliches Experiment zu  vermeintlichen Befreiungsschlag einer in die Irre geführten Öffentlichkeit. Die Geschehnisse überstürzen sich. Erst recht, als ein Todesfall die Fallrichtung der Geschehnisse unkorrigierbar macht.

Ralph Schröder schickt seinen Protagonisten auf eine Achterbahn, auf der sich der arme Held irgendwann nicht mehr traut auszusteigen. Schweighauser wird vom in Zwängen eingesperrten Schwerenöter zum ungewollten Katalysator eines unkontrollierbaren Sturms, der plötzlich weit über sein Leben hinaus Konsequenzen erzwingt. Ein Spiessbürger, ein Resignierter, dessen Kruste aufbricht, dessen Befreiung Kräfte in Bewegung bringt, die unkontrollier- und unkorrigierbar sind. Ein kleiner, unbedeutender Korrektor, dessen Entschluss, die Welt ein klein wenig an der Nase herumzuführen, wird zum selbstzerstörerischen Torpedo.

Ralph Schröder spinnt aus dem Wunsch vieler, ihrem eingezwängten Leben eine auffrischende Korrektur geben zu können, mit der Frage «Was wäre wenn?» einen literarischen Strudel, einen Sog mit den Mitteln eines Thrillers.

Drei Fragen an Ralph Schröder:
Die Begriffe Wahrheit und Manipulation streiten sich ständig mit Historie oder Journalismus. Sie waren lange als Korrektor und Redaktor tätig. Ist man sich dessen während des Tuns im Verlag bewusst? Oder war der Schritt, dies zum Thema ihres ersten Romans zu machen, erst aus der Distanz möglich?
Die Ursprungsidee für den Roman entstand nicht aus einer konkreten Erfahrung meiner beruflichen Arbeit. Die Wirkkraft von Fiktionalität hat mich schon immer fasziniert. Das Thema des Buches scheint mir deswegen mehr im Spannungsfeld von Wahrheit und Fiktionalität zu stehen. Natürlich hat mir meine Erfahrung als ehemaliger Korrektor und Redaktor in die Hände gespielt. Das Experiment des Protagonisten hat mich als Idee fasziniert und nicht mehr losgelassen. Was geschieht, wenn einer hingeht und die medial vermittelten Fakten verdreht, subtil, ja auf subversive Weise.. Würden wir das merken? Woher stammt unser Vertrauen in die medial vermittelte Wahrheit oder in das geschriebene Wort generell? Ein Thema, das ja fast täglich in der Presse auftaucht (Lügenpresse etc.). Damit zu spielen und allenfalls eine Reflexion anzuregen, war ein Motiv (das sich aber auch erst während des Schreibens herauskristallisierte). Das ist die eine Seite des Buches. Die andere, die kriminalistische, hat einen anderen Ursprung: Unschuldig schuldig werden, sich in einen Schuldzusammenhang verstricken, aus dem man sich nicht mehr befreien kann und die «Wahrheit» unbeweisbar, auf der Strecke bleibt… Dass sich diese beiden thematischen Stränge zusammenbringen lassen, hat mich dann beim Schreiben selbst überrascht, aber ungemein gefreut. Ich glaube, das ist vielleicht der besondere Reiz des Buches, dass hier der Begriff von Wahrheit (nicht philosophisch, aber literarisch) auf verschiedenen Ebenen thematisiert und bespielt wird. Aber das ist jetzt wirklich aus grosser Distanz und mit zeitlichem Abstand zur Zeit des Schreibens an diesem Text gesagt. Und eigentlich sollte man sich als Autor vor Selbstinterpretationen hüten und dem Leser überlassen.

Ihr erster Roman fand nicht den Weg in einen traditionellen Verlag und erscheint im «Book on Demond», also auf Abruf, ohne kalkulierte Auflage. Gab es keinen Verlag, der sich ihr Buch zu verlegen traute?
Ich habe das Manuskript respektive Leseproben rund 40 bekannten deutschsprachigen Verlagen über den klassischen Weg (Manuskripteinsendung) angeboten. Ein Verlag hat sich anfänglich sehr konkret dafür interessiert. Ich war fast ein Jahr mit der Lektorin in Kontakt. Sie konnte sich aber am Ende nicht dazu durchringen, das Buch ins Programm zu nehmen. Alle übrigen haben mit mehr oder weniger vorformulierten Standardabsagen geantwortet. In vielen Verlagen fehlt schlicht die Zeit und das Personal, um die inflationär eingesandten Manuskripte seriös zu sichten. Von der Lektorin eines Verlages weiss ich, dass allein bei ihrem Kleinverlag täglich 2-3 Manuskripte/Leseproben eintreffen…. Wer soll das bewältigen? Diese eine Lektorin liest Manuskripte von Neuautoren nur in ihrer Freizeit, sonst fehlt die Zeit…?

Sie siedeln als in Basel wohnhafter Autor ihren Roman in Basel an, an einem Ort, wo, zumindest aus meiner Warte, die Zeitungslandschaft eh schon angespannt genug ist. Giessen sie Öl ins Feuer?
Die Zeitungslandschaft ist ganz generell angespannt. In Basel trifft dies seit der Übernahme der BaZ durch Blocher/Tettamanti und Somm sicher besonders zu. Allerdings könnte der Roman, was seine Hauptthemen betrifft, in jeder anderen Stadt spielen. Dass ich den Schauplatz Basel gewählt habe, hängt mit der persönlichen Vertrautheit der lokalen Orte zusammen und hat beim Schreiben geholfen, mehr aber auch nicht. Als ich mit dem Roman begonnen habe – das liegt doch schon einige Jahre zurück – war die angesprochene Thematik noch gar nicht so brisant. Dass sich die Sache dann real so entwickelt hat, dass man bei der Lektüre denkt, ich hätte auf diese Entwicklung Bezug genommen, ist eher zufällig, entbehrt aber sicher nicht einer gewissen Ironie, die dem Buch aber nicht schadet, im Gegenteil. Und klar gibt es da einige Figuren und Konstellationen, die möglicherweise den realen nahe kommen. Das hat aber mehr mit der inneren Logik der gegenwärtigen Entwicklung in der Zeitungslandschaft zu tun und dem ökonomischen Druck, der in der Medienbranche herrscht. Der Roman geht viel weniger auf die realen, d.h. faktischen Verhältnisse ein, als man vielleicht denkt. Ich kenne die inneren Verhältnisse bei der BaZ bspw. viel zu wenig, auch wenn man viel Unschönes hört. Öl ins Feuer zu giessen würde bedeuten, ich hätte mit diesem Roman ganz bewusst auf die realen Verhältnisse in Basel Bezug nehmen wollen. Dem ist aber nicht so. Einmal ganz abgesehen davon, dass der Roman zuerst mal wahrgenommen werden müsste, wahrgenommen im  Sinn von „gelesen werden“. Sollte das Buch in der Tat als Brandbeschleuniger wahrgenommen werden, würde mich das wundern. Wenn dann wohl eher als ironischer Kommentar zu einer gegenwärtigen Entwicklung und Situation. Aber wie gesagt: Der Roman ist kein Reflex auf die realen Verhältnisse, wenn dann eher eine Ermunterung zur Auseinandersetzung mit den Bedingungen von glaubwürdig vermittelter Wahrheit und deren Fragilität.

img_0143Ralph Schröder, 1961 in Biel geboren, studierte Philosophie und Germanistik in Basel. Nach Tätigkeiten u.a. als Lehrer, Korrektor, Redaktor und Verlagsleiter arbeitet er heute als Kommunikationsspezialist für das Kantonsspital Aarau. Ralph Schröder lebt in Basel. «Schweighausers Korrekturen» ist sein erster Roman.

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